Freitag, Oktober 18

In «Zmittag», der kulinarischen Interview-Serie der NZZ, spricht der stellvertretende FDP-Vorsitzende über naive junge Abgeordnete, die die Welt retten wollen und einen amourösen Bestechungsversuch.

Eigentlich möchte man mit diesem Herrn immer gern Weisswein trinken, sommers wie winters: in seinem Heimatort Strande bei Kiel in Schleswig-Holstein, beim Szene-Italiener in Berlin oder auf einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik. Doch an diesem Freitagmittag geht das nicht, denn Wolfgang Kubicki ist nicht nur stellvertretender Vorsitzender der deutschen FDP, sondern auch Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Und am Nachmittag muss der Politiker noch die Parlamentsdebatte und zahlreiche Abstimmungen leiten. «Da kann ich vorher nichts trinken», sagt er.

Also gibt es San Pellegrino für ihn und italienischen Chardonnay nur für die Autorin. «Ich hätte einen Lugana ausgesucht», sagt Kubicki: Das sei seit längerem sein Lieblingswein. Er bestellt Minestrone und danach Entrecôte mit Béchamelsauce. Das karotten- und fencheldominierte rot-grüne Begleitgemüse wird er im Verlauf des Essens weitgehend links liegenlassen.

Unseren Treffpunkt, das «Adnan» in Berlin-Charlottenburg, hat Kubicki nicht selbst ausgesucht, die Wahl eines Restaurants überliess sein Büro der NZZ. Doch das italienische Lokal, dessen türkischstämmiger Wirt ein wenig an die Titelfigur des berühmten Helmut-Dietl-Films «Rossini» erinnert, damals gespielt von Mario Adorf, passt ganz gut zu dem FDP-Politiker.

Hier, im zutiefst von sich selbst überzeugten Westberlin, verkehren Rechtsanwälte und andere weisse Männer eines gewissen Alters; schöne und bis an die Zähne gestylte jüngere Frauen; Literaturagentinnen; Medienmenschen, zum Beispiel aus dem Axel-Springer-Universum. Sogar deren Erzwidersacher essen hier.

Wo trank Kubicki in Corona-Zeiten?

Adnan, der wie Signore Rossini gern am Tresen lehnt und einen Espresso trinkt, kennt seine prominenteren Gäste beim Namen, begrüsst die Damen mit angedeutetem Handkuss (was auch Kubicki gelegentlich, aber meist ironisch tut), diskutiert gern über Politik – und ist also entzückt, dass der Bundestagsvizepräsident heute da ist. Guten Appetit, ein Jammer mit dem Wein.

Bevor die Suppe kommt, muss dann erst einmal eine weitere Alkoholfrage geklärt werden, die allerdings weniger mit Kubickis Trinkgewohnheiten als mit seinem politischen Mindset zu tun hat: Der Bundestagsvize hatte 2021 in einem Interview mit der «Bild»-Zeitung erklärt, «selbstverständlich» auch unter den Regeln des Corona-Lockdowns in Kneipen getrunken zu haben.

Wächter des – im Rückblick teilweise bizarr anmutenden – Pandemie-Regimes der grossen Koalition hatten sich über diese Verantwortungslosigkeit entrüstet. Aber wo war die schreckliche Tat eigentlich begangen worden? Darüber wusste die deutsche Presse bis dato nichts.

Infrage kommen fünf bis sechs Lokale des schmucken Fischer-, Segler- und Badeortes Strande bei Kiel, in dem Kubicki gemeinsam mit seiner Frau Annette ein schönes Haus mit Meerblick besitzt. Dort liegt auch sein nicht ganz kleines Motorboot. Eine intensive Befragung bringt Aufklärung – aber da die Autorin, wie Kubicki, dem Norden verbunden ist und auch in Zukunft in Strande einkehren möchte, muss die Lokalität leider weiterhin ungenannt bleiben.

«Dann beteiligen wir uns nicht mehr an der Wirklichkeit»

Wolfgang Kubicki wollte mit seiner Speakeasy-Anekdote natürlich eine andere Botschaft verbreiten als die, dass er gerne ausgeht. Er wollte klarmachen, dass viele normale Menschen in Deutschland, die auch in Corona-Zeiten ihr eigenes Urteilsvermögen nicht abgeschrieben hatten, unter den zuweilen grotesken Freiheitsbeschränkungen litten – und sie dort umgingen, wo es ihnen vertretbar und ungefährlich erschien.

Insgesamt scheint es in diesen Tagen und Wochen die Mission des stellvertretenden FDP-Vorsitzenden zu sein, den Kontakt zu «normalen Menschen» zu halten, die sich gegen die ideologisch-bevormundende Politik der Ampelregierung sträuben – drei Viertel der Bevölkerung sind laut neuen Umfragen mit der Koalition von SPD, Grünen und FDP unzufrieden.

Die Bauern protestierten jüngst landauf, landab – und erhielten dafür in Umfragen bis zu 80 Prozent Zustimmung. Auch die gegenwärtigen Demonstrationen gegen die Rechtspartei AfD können die Entfremdung zwischen der politisch-medialen Klasse und den Regierten nur teilweise überbrücken. Lediglich ein rundes Drittel der Befragten konnte sich laut dem Meinungsforschungsinstitut Insa mit den Demos «gegen rechts» identifizieren.

Frustrierte FDP-Anhänger zögen sich bis jetzt freundlicherweise meist nur in die Nichtwahl zurück, sagt Kubicki, doch darauf könne man nicht ewig bauen. «Wenn wir gar nicht darauf eingehen, wenn wir an deren Sorgen und Nöten nicht teilhaben», sagt Kubicki, während er mit mittlerem Enthusiasmus an seinem Stück Rindfleisch herumsäbelt, «dann beteiligen wir uns nicht mehr an der Wirklichkeit.»

Es ist interessant, welche Rolle das Wort «Wirklichkeit» in diesen Tagen im politischen Berlin spielt. Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck hat vor ein paar Wochen in der letzten Ausgabe der Talk-Sendung von Anne Will in der ARD gesagt, «wir», also vermutlich die Regierung, seien «von Wirklichkeit umzingelt». Das klang philosophisch, sehr abstrakt, ein bisschen weinerlich – die Wirklichkeit ist halt gerade garstig zu der «Ampel» im Allgemeinen und zu Habeck im Besonderen.

Naive junge Abgeordnete, die die Welt retten wollen

Der aber will offenbar weitermachen wie bisher, jedenfalls liess er unlängst im «Spiegel» seine erneuten Ambitionen durchblicken, grüner Kanzlerkandidat zu werden. Habeck gegen die Wirklichkeit: Die Erfahrungen des vergangenen Jahres hätten bei ihm zu einer «Härtung» geführt, sagte er dem «Spiegel». Von Einsicht sagte er nichts.

Wolfgang Kubicki erzählt ganz andere Geschichten aus der Wirklichkeit: «Das Bahnfahren habe ich weitgehend aufgegeben», sagt er: «Sieben von sieben Malen kam ich entweder unpünktlich in Kiel an – oder der Speisewagen war geschlossen.» Zu den Boni in Millionenhöhe, die die Bahn-Vorstände trotz katastrophaler Unpünktlichkeit und extremer Kundenverbitterung für 2023 ausgezahlt bekommen sollen, sagt er: «Das ist unangemessen, weil es mit Leistungsgerechtigkeit nichts mehr zu tun hat.» Gerade haben die deutschen Lokführer wieder gestreikt, diesmal sechs Tage lang.

Kubicki erzählt von einem Bekannten, der gerade in einer traurigen Trennung stecke: Die Ex, der es um einen möglichst üppigen Unterhalt gehe, deute im Sorgerechtsverfahren an, dass sie gern auch erzählen könne, die gemeinsamen Kinder seien vom Vater sexuell missbraucht worden. So, sagt Kubicki, seien die Zeiten heute, dass man einander so etwas antue.

Er spricht über die Dominanz der Grünen, «in jeder Talkshow». Über die naiven jungen Abgeordneten im Bundestag, die vollkommen verzweifelt seien, wenn sie nicht die ganze Welt sofort, und zwar hier in Deutschland, retten könnten.

Probleme gehen auf «wie Hefe»

Er spricht über den Staat, den viele Menschen inzwischen als dysfunktional empfänden – «mehr öffentlicher Dienst als je, aber Sie erreichen kaum mal jemanden auf dem Amt!». Er erzählt von einer Repräsentantin der evangelischen Kirche, die total verwundert dreinschaute, als er ihr sagte, dass viele Leute nicht durchweg begeistert seien von den Aktionen der «Letzten Generation» in Berlin – die Klimabewegten hatten über Monate immer wieder den Verkehr in der Hauptstadt lahmgelegt und die Polizei zu unzähligen Einsätzen genötigt.

Kubicki ist ein Politiker, er ist ein ziemlich abgezockter Strafverteidiger – aber er ist auch eine Art politischer Soziologe. Er beschreibt, was er beobachtet. Er kritisiert, dass Deutschland, pro Einwohner gerechnet, zum Teil viermal so viel Entwicklungshilfe zahle wie vergleichbare Länder auf der Welt. Dass seit 2015 fünf Millionen Menschen nach Deutschland gekommen seien, für die es keine Wohnungen, für deren Kinder es keine Kita-Plätze und Schulen gebe.

Mit seinen Zahlen muss man etwas vorsichtig umgehen, beispielsweise reisen ja nicht nur Menschen ein, sondern in erheblicher Grössenordnung auch wieder aus, aber mit der Tendenz hat Kubicki recht. Er ist überzeugt, dass man Probleme ansprechen müsse, sonst gingen sie auf «wie Hefe».

Nachdem er mit dem Essen, das für ihn kein grösseres Thema war, abgeschlossen hat, zeigt Kubicki auf seinem Handy ein Video, auf das er über den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel aufmerksam geworden ist. Darin erklären drei Transpersonen, warum das neue Selbstbestimmungsgesetz, das den Wechsel des Geschlechts per eigener Erklärung auf dem Standesamt erlaubt, so eine tolle sozialdemokratische Sache sei. Heute habe die SPD in Umfragen 14 Prozent, sagt Kubicki. Wenn erst alle das Video gesehen hätten, könne sie locker auf 7 Prozent kommen.

Zwei Anti-Partei-Politiker

Der «Spiegel» hat vor kurzem eine Geschichte über die Entfremdung der beiden Schleswig-Holsteiner Robert Habeck und Wolfgang Kubicki gebracht, sie hiess, ziemlich erwartbar, «Ziemlich beste Feinde».

«Für diese Story habe ich nicht einmal mit dem ‹Spiegel› geredet», sagt Kubicki. Die seien jetzt auch sauer deswegen, aber das sei ihm egal. Er habe mit Habeck kein Problem, schätze ihn – nur habe der Robert eben in den zwei Regierungsjahren seit der Wahl 2021 eine unschöne machtpolitische Orientierung erkennen lassen, ohne jedoch eine gelungene Energie- und Wirtschaftspolitik vorweisen zu können.

Eigentlich sind sowohl Habeck als auch Kubicki erfolgsverwöhnte Typen; Habeck ist nur zwanzig Jahre jünger. Beide inszenieren sich in gewisser Weise als Anti-Partei-Politiker. Habeck hat sich ein ums andere Mal auf Kosten seiner Partei profiliert und sich über den Wirklichkeitsverlust der Grünen mokiert. Kubicki sagt einfach, was ihm politisch Unkorrektes durch die Birne rauscht. Beides kommt beim Publikum an.

Beide Männer wollen erkennbar gern von Frauen bewundert werden – aber die politischen Meinungen von Frauen sind für sie wohl nicht von entscheidender Wichtigkeit. Kubicki war lange Zeit nett zu Habeck, vielleicht, weil er in dem Grünen eine gewisse Ähnlichkeit mit sich selbst erkannte. Seit Habeck auf seine Freundschaftsangebote nicht mehr eingeht, zeigt sich Kubicki frostig.

Beim Espresso erzählt der Liberale dann noch eine Geschichte aus seiner Jugend, die aber wiederum nicht für sich allein steht, sondern den Zweck hat, den gewaltigen gesellschaftlichen Wandel zu illustrieren, vor dessen Hintergrund heute Politik gemacht wird: «Smartphones haben wir ja erst seit dreizehn Jahren», sagt Kubicki, «davor schon einfache Handys, okay, aber seit den Smartphones hat sich doch unser ganzes Leben radikal verändert. Ich habe meine erste Frau in einer Zeit kennengelernt, als es überhaupt keine Handys und, wenn man unterwegs war, nur Telefonzellen gab.»

«Ich wollte sie pünktlich anrufen», sagt Kubicki: «Ich wollte es nicht vermasseln. Aber vor mir – vor der Telefonzelle – stand eine Schlange von Menschen. Da habe ich den Leuten Geld geboten, damit sie mich vorlassen und ich meine Liebste pünktlich erreiche.» Dass sein politischer Weg den Volkswirt und Juristen später in die FDP führte, scheint einigermassen folgerichtig.

Das «Adnan»

«Adnan» ist ein klassischer Westberliner Edel-Italiener. Der Wirt, Adnan Oral, erinnert ein wenig an Rossini, den Titelhelden aus Helmut Dietls gleichnamigem Film (1997; in der Hauptrolle Mario Adorf). Bei Adnan verkehren Rechtsanwälte und andere weisse Männer eines gewissen Alters, schöne Frauen, Literaturagentinnen, Medienmenschen und deren Widersacher. Wunderbar für Gossip und entspannte Freitagnachmittage bei gut gekühltem Weisswein. 

Adnan, Schlüterstr. 33, 10629 Berlin. Telefon: 030/54710590, Öffnungszeiten Dienstag bis Samstag, 12 bis 24 Uhr.

Kubicki: vier Sterne, «Ich würde den Lugana bestellen».

Mittagsmenu: Minestrone, Entrecôte, Gartensalat, Seeteufel mit Trüffel-Kartoffelstampf, Chardonnay, Wasser, Espresso: 103 Euro.

Bild: Imago

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