Freitag, Oktober 4

Der bosniakische Schriftstellerin gelingt es, schwierige Themen wie Krieg und Gewalt, Musik und Liebe in ganz knappen Stücken abzuhandeln.

Bislang hat die 1982 geborene bosniakische Schriftstellerin und Literaturwissenschafterin Nadija Rebronja Gedichtbände vorgelegt, mit «88 Tasten» veröffentlicht sie nun erstmals Prosaminiaturen.

Es zeugt von Ehrgeiz, komplexe Themen wie Krieg und Gewalt, Musik und Liebe in kurzen Texten abzuhandeln und diese einem strengen Strukturprinzip zu unterwerfen. Die 88 durchnummerierten Miniaturen werden den weissen und schwarzen Klaviertasten zugeordnet, ohne dass sich daraus ein «Melodieverlauf» oder ein performatives «Musikstück» ergäbe. Vielmehr scheint sich Rebronja Regeln aufzuerlegen, um ihren Einfällen und Assoziationen umso freieren Lauf zu lassen, bis hin zu surrealer Hermetik.

Paradox und zweigeteilt

Das klingt dann zum Beispiel so: « – ein mann zog sich die holzmaske vom gesicht und löste sein langes, zu zöpfen geflochtenes haar. der regen störte ihn nicht, er trug keine schuhe, rannte der sonne entgegen, suchte eidechsen. // – einmal begegnete er einer frau mit neunzehn nachnamen und mit elf sätzen tafelsilber und von seiner maske brüllte ein tiger los.»

Oft sind die Miniaturen vom Paradox geprägt, und immer sind sie zweigeteilt: in einen beschreibenden Teil und einen, der sich als Konklusion oder Pointe versteht. Wie hier: « – er war fest entschlossen, den tod aufzuschreiben. mit stift und notizbuch suchte er auf dem friedhof, im krankenhaus, in der leichenhalle, in der kapelle. er beobachtete jäger, priester, gangster, häftlinge. // – einmal, als er durch sein dorf ging, hörte er einen schrei. er erblickte hebammen, wie sie eine frau umringten, die am gebären war. hier erblickte er den tod, im gesicht derjenigen, die neues leben schenkte.»

Der Hang zur aphoristischen Verkürzung ist den Prosaminiaturen inhärent, ihre Pointen variieren zwischen überraschend und absurd. Freilich erreichen sie kaum je die Abgründigkeit der Kurzprosa des russischen Absurdisten Daniil Charms oder der Minutennovellen des Ungarn István Örkény.

Doch als Denkbilder und Denkanstösse erzeugen sie «starke Effekte – und Affekte» (Davor Beganović): « – das kleine mädchen spielte jeden morgen mit einem ball, den es an eine grosse wand warf. der ball prallte von der wand ab und flog zurück in die hände des kleinen mädchens. der vater schenkte den ball dem mädchen, nachdem er ihm übers haar gestreichelt hatte. // – das war die wand eines grossen lagers, in dem der vater tausend kleine mädchen verbrannte.» Der Kontrast zwischen scheinbarer Normalität und abnormer Grausamkeit wird in wenigen Sätzen augenfällig.

Anregung zum Weiterdenken

Schlichter und sentenziöser präsentiert sich die Prosaminiatur Nr. 43: « – es gibt die ein wenig mühevolle anstrengung, dass wir uns an etwas erinnern. // – es gibt die ein wenig eisige angst, dass etwas aufgedeckt wird.» Oder die Nr. 67: « – ist die aussenwelt noch immer dort ? // – was auch immer du tust, du kannst sicher sein, dass sie dort ist, für immer. und dass sie wartet.»

Nadija Rebronjas «88 Tasten» passen in jede Rocktasche und sind ein zuverlässiger Proviant für müssige, aber auch stressige Stunden. Wer sie bespielt, wird bereichert und dazu angeregt, das eine oder andere Motiv selber weiterzuspinnen.

Nadija Rebronja: 88 Tasten. Mit einem Nachwort von Davor Beganović. Aus dem Bosnischen übersetzt von Andrea Stanek und Jan Dutoit. Edition Taberna Kritika, Bern 2024. 99 S., Fr. 23.90.

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