Andreas Wimmer, Soziologe an der Columbia-Universität in New York, erklärt, warum es für die Universitätsleitung fast unmöglich ist, Lösungen zu finden.
Wie ist die aktuelle Situation an der Columbia Universität?
Am Montag wurde der Unterricht auf Online umgestellt. Jetzt wurde entschieden, dass man die Lehrveranstaltungen hybrid durchführt, wenn dies ein Studierender wünscht, weil er sich bedroht fühlt. Das Semester dauert nur noch zwei Wochen. Es ist eine sinnvolle Massnahme.
Gibt es immer noch Protestveranstaltungen?
Es gibt wieder ein Zeltlager. Als das erste Zeltlager errichtet wurde, rief die Universitätsleitung die Polizei, die das Lager am Freitag und Samstag räumte sowie etwa hundert Studierende verhaftete, die dann suspendiert wurden. Nun ist ein neues Lager entstanden, das vorderhand toleriert wird. Seit Dienstagabend verhandelt die Universität mit den Studierenden, um eine zweite Räumung zu verhindern.
Zur Person
Andreas Wimmer
Andreas Wimmer, geboren 1962 in Schaffhausen, ist der Lieber Professor of Sociology and Political Philosophy an der Columbia University in New York, die zu den renommierten Ivy-League-Universitäten gehört. Er hat an der Universität Zürich Ethnologie und Soziologie studiert. Seine Forschung untersucht ethnische Konflikte und Bürgerkriege, Staats- und Nationenbildung, Prozesse der ethnischen Grenzziehung und kulturelle Diffusion.
Was ist mit den antisemitischen Slogans, die nun überall in den Medien zitiert werden?
Es gab Slogans, die offen Hamas unterstützten oder die Bombardierung Tel Avivs forderten. Aber es ist wichtig, festzuhalten, dass 90 oder 95 Prozent dieser Slogans vor den Toren der Universität skandiert wurden und nicht auf dem Campus selbst. Dagegen kann die Universitätsleitung nichts unternehmen. Offensichtlich versuchen jihadistische Aktivisten, auf den Zug aufzuspringen. Natürlich ist es für jüdische Studenten sehr unangenehm, sich durch diese Meute hindurchkämpfen zu müssen, wenn sie auf das Universitätsgelände gelangen wollen. Einige jüdische Studierende wurden vor den Toren des Campus beschimpft und bedrängt.
Aufgrund der Medienberichte neigt man dazu, alle diese Umtriebe der Universität anzurechnen.
Genau. Es gibt ein politisches Interesse, die Proteste innerhalb und ausserhalb des Campus zu vermischen, um die Universität in einem schlechten Licht darzustellen, als Hochburg linker Antisemiten. Die reale Situation ist komplexer. So neigt die juristische, die medizinische sowie die ingenieurtechnische Fakultät dazu, die Präsidentin zu unterstützen, während die geisteswissenschaftliche und die naturwissenschaftliche Fakultät zu den Studierenden hält. Die Situation ist angespannt, es gibt offene Briefe von beiden Seiten. Aber die Proteste auf dem Campus sind friedlich, und es gibt wenig offenen Antisemitismus. Ein Viertel der verhafteten Studierenden ist übrigens jüdisch, und am Montag wurde im Zeltlager ein Seder mit etwa 70 Studierenden und Professoren abgehalten, also die traditionelle Mahlzeit zum Auftakt des Pessachfestes.
Also müsste sich kein Jude bedroht fühlen?
Auf dem Campus selbst würde wohl kaum jemand angerempelt, weil er eine Kippa trägt. Würde er hingegen mit einer israelischen Flagge durch das Zeltlager gehen, käme es wohl zu Auseinandersetzungen. Die Konfliktlinien verlaufen nicht entlang ethnisch-religiöser Identitäten, sondern entlang politischer Haltungen zum Krieg in Gaza. Viele jüdische Professoren kritisieren die Kriegsverbrechen Israels, andere ziehen sogar das Existenzrecht Israels in Zweifel, andere wiederum sind stramme Zionisten und setzen jede Kritik an Israel mit Antisemitismus gleich.
Könnte die Situation eskalieren?
Die Angst ist, dass Jihadisten die propalästinensischen Proteste vor den Toren des Campus unterwandern, Provokateure von beiden Seiten auf den Campus eingeschleust werden und es zu Gewalttaten kommt.
Worum ging es bei der Anhörung der Columbia-Präsidentin Nemat Shafik am Freitag im Kongress?
Es war vor allem die republikanische Abgeordnete Elise Stefanik, die Shafik angriff, weil diese angeblich dem grassierenden Antisemitismus keinen Riegel vorschiebt. Es ist ein Drehbuch wie mit den Präsidentinnen von Harvard und Penn, die nach einem ähnlichen Kreuzverhör zurücktreten mussten. Diese politischen Kampagnen sind Teil des rechten Kulturkampfs gegen die «progressiven, woken Eliteuniversitäten». Shafik versuchte es besser zu machen, indem sie frühzeitig kurz nach dem Hearing die Polizei einschaltete, um der Öffentlichkeit zu zeigen, dass sie es mit ihren in Washington gemachten Versprechen erst meinte. Damit lud sie allerdings den Zorn vieler Professoren und Studierender auf sich, was eine Räumung des zweiten Zeltlagers durch die Polizei schwierig macht. Und die Republikaner konnte sie auch nicht beschwichtigen; Stefanik fordert ihren Rücktritt.
Shafik ist in einer Zwickmühle?
In mehreren. Sie muss einerseits die Redefreiheit der Protestierenden verteidigen und andererseits das Recht der jüdischen Studierenden schützen, frei von Verunglimpfungen und Einschüchterungen studieren zu können. Und sie muss aufpassen, dass sie militanten Republikanern keine Angriffsfläche bietet, um zu verhindern, dass die Bundesgelder wegen Diskriminierung gestrichen werden könnten, aber auf der anderen Seite auch die Unabhängigkeit der Universität angesichts von politischem Druck verteidigen. Sie muss einerseits die privaten Geldgeber, die Trustees, und die Alumni befriedigen, von denen viele über die angeblich antisemitischen Proteste besorgt sind, und andererseits verhindern, dass die Professorenschaft ihren Rücktritt fordert.
Wie wirkt sich der politische Druck aus?
Er verstärkt die Polarisierung. Die «Identitätsprogressiven» haben nun erst recht das Gefühl, sich in einem heldenhaften Kampf gegen die Kräfte des Bösen zu befinden. Je radikaler sie sich gebärden, umso mehr bestärkt das die Rechten in der Überzeugung, diese Universitäten seien ein Hort von verblendeten Extremisten. Jeder gräbt seinen Schützengraben tiefer aus; die Universität wird zerrieben zwischen linkem Bekenntniszwang und rechtem Kulturkampf. Auf der Strecke bleibt die Freiheit des Denkens. Das ist verheerend für eine Institution, die auf dem Prinzip der Denk-, Forschungs- und Lehrfreiheit beruht.
Aber gibt es nicht tatsächlich ein ideologisches Problem an den Elite-Universitäten? Die Sicht auf den Nahostkonflikt ist doch oft sehr einseitig, und das hat wiederum mit weit verbreiteten «woken» und «postkolonialen» Anschauungen zu tun.
Das ist nur zum Teil richtig. Es gibt viele seriöse, differenzierte Analysen, gerade von einigen unserer Nahostexperten. Aber bei bestimmten Professoren und in grossen Teilen der Studentenschaft wird die ganze Nahost-Problematik darauf reduziert, dass Israel ein weisser, kolonialer Siedlerstaat sei, der die nichtweissen Palästinenser vertreibt. Da wird vieles ausgeblendet, und die Gewaltspirale, an der mehrere Akteure beteiligt sind und die sich immer weiter dreht, versteht man so nicht. Die Simplifizierungen ergeben sich aus einer Kombination aus Versatzstücken der Postkolonialen Studien und der «critical race theory», wo der Täter immer weiss ist und das Opfer zu den «People of Color» gehört. Aber solche Anschauungen, und schon gar nicht die dahinter stehenden Theorien, dürfen nicht durch politischen Druck von aussen zensuriert werden; man muss sie inneruniversitär debattieren, das ist unsere Kernaufgabe.
Das Bekenntnis der Universitätsleitung zur Redefreiheit ist ja einleuchtend. Allerdings wird hier oft mit zwei Ellen gemessen. Bei linken Anliegen verteidigt man die Redefreiheit, aber Konservative müssen befürchten, gecancelt zu werden.
In der Tat gibt es verschiedene Massstäbe. Aber es gibt auch positive Anzeichen. So scheint es, dass Diversität nicht mehr ausschliesslich auf Hautfarbe und Geschlecht reduziert wird. Es gibt Rufe danach, auch konservative Professoren zu berufen, um dem linken «Einheitsbrei» etwas entgegenzusetzen und eine Diversität der Perspektiven zu erreichen. Eine zweite, ähnliche Tendenz ist, dass die Universitäten sich davon distanzieren, offizielle Statements zu politischen Ereignissen abzugeben, und sich auf ihre Autonomie besinnen, wozu auch politische Neutralität gehört. Dazu hat sich unsere Präsidentin verpflichtet. Und schliesslich sind unter dem Stichwort «heterodoxe Akademie» auch innerhalb der Professorenschaft Bewegungen im Gang, die ideologische Einheitsfront etwas aufzubrechen. Ob sich diese Tendenzen gegenüber der Politisierung und Ideologisierung durchsetzen, bleibt abzuwarten.