Dienstag, April 1

Necati Savas / EPA

Seit der Verhaftung des populären Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem Imamoglu, gehen in der Türkei Hunderttausende auf die Strasse. Die treibende Kraft der Proteste sind Studenten. Doch ihre Unzufriedenheit reicht viel tiefer. Eine Reportage.

Özgür Özel ist heiser von den vielen Reden der letzten Tage. Erneut haben sich Zehntausende vor dem Rathaus im historischen Zentrum Istanbuls versammelt, um gegen die Verhaftung des Bürgermeisters Ekrem Imamoglu zu protestieren.

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Özel, der Oppositionsführer und Vorsitzende der säkularen Republikanischen Volkspartei Imamoglus (CHP), spricht zur Menge über den «Putsch von oben» und den Angriff auf die türkische Demokratie. Grosse Lautsprecher verstärken seine Stimme. Schwer zu verstehen ist er trotzdem.

«Mustafa Kemals Soldaten»

Das hat weniger mit der Heiserkeit als mit der Sehzade-Moschee direkt gegenüber zu tun. Von den Minaretten des prächtigen Gotteshauses ertönt aus ebenso starken Lautsprechern der Ruf zum Abendgebet. Es ist Ramadan, und im heiligen Fastenmonat dauern manche Gebetsrufe länger. Doch als der Muezzin während Özels gesamter halbstündiger Rede nicht aufhört zu beten, argwöhnen immer mehr Demonstranten, dass dies kein Zufall sein könne.

Die Symbolik entgeht niemandem. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan hat in den zweieinhalb Jahrzehnten ihrer Herrschaft den Säkularismus von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gezielt ausgehöhlt und die Bedeutung des Islams im öffentlichen Leben gestärkt. Die staatliche Religionsbehörde, der alle Moscheen unterstehen, ist dabei zu einer der mächtigsten Institutionen des Landes geworden.

Arzu ist mit ihrer Freundin zur Kundgebung gekommen. Sie wirft kopfschüttelnd einen Blick in Richtung der Minarette. «Im Grunde gefällt mir der Gebetsruf. Aber nicht als Instrument der Macht», sagt die Mittvierzigerin. Als die Menge laut skandiert: «Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal», stimmt sie mit ein.

Sie habe kürzlich ihre Stelle in der Personalabteilung eines Pharmaunternehmens aufgegeben, um die Freizeit im Ferienhaus an der Ägäis zu geniessen, sagt Arzu. «Doch das hier ist wichtiger.» Wie alle Protestteilnehmer will sie nicht, dass ihr voller Name in der Zeitung steht.

Grosser Stolz auf demokratische Rechte

«Das hier», das sind die grössten Proteste gegen Erdogans Herrschaft seit mehr als einem Jahrzehnt. Die Empörung darüber, dass der Präsident mithilfe einer willfährigen Justiz seinen gefährlichsten Widersacher aus dem Weg räumen liess, ist riesig.

Ekrem Imamoglu ist der beliebteste Oppositionspolitiker des Landes und gilt seit Jahren als der Mann, der Erdogan dereinst beerben könnte. Seine Verhaftung erfolgte wenige Tage bevor er zum Präsidentschaftskandidaten seiner Partei nominiert werden sollte.

Die CHP liess die Nominierung am Sonntag dennoch durchführen. Neben anderthalb Millionen Parteimitgliedern gaben dabei 14 Millionen weitere Menschen aus Solidarität ihre Stimme für den inhaftierten Imamoglu ab. Ein deutliches Zeichen, wie verbreitet der Unmut ist.

Der im Berliner Exil lebende Journalist Can Dündar sagt es in seiner wöchentlichen Kolumne so: «Erdogan wäre gerne wie Putin. Doch die Türkei ist nicht Russland.» Will heissen: Die Türkinnen und Türken sind nicht bereit, Wahlen zu einer Pro-forma-Veranstaltung verkommen zu lassen, die lediglich der Bestätigung des Machthabers dient. Trotz allen Mängeln sind die Menschen im Land sehr stolz auf ihre demokratischen Rechte. Eine Wahlbeteiligung von 85 Prozent ist eher die Regel als die Ausnahme.

Heterogene Bewegung

«Ich will sagen dürfen, wenn mir etwas nicht gefällt. Und ich will das Recht haben, es zu verändern – oder es zumindest zu versuchen», sagt Sueda. Die junge Frau studiert Architektur an der Technischen Universität von Istanbul. An ihrer Fakultät besucht niemand mehr die Vorlesungen, seitdem zwei Kommilitonen bei einer Demonstration verhaftet wurden. Als wir uns treffen, halten die Studenten gerade einen Sitzstreik vor dem Uni-Gebäude ab. «Ich habe auch ein paar blaue Flecken von einem Schlagstock abbekommen», sagt Sueda. Mehr als 1000 Personen wurden seit Imamoglus Verhaftung festgenommen.

Die Studenten sind die treibende Kraft hinter den Protesten. Suedas Generation hat nie eine andere Türkei erlebt als die von Recep Tayyip Erdogan. «Es geht mir um mehr als Imamoglus Kandidatur», sagt die 21-Jährige. «Ich will mir nicht vorschreiben lassen, wie ich zu leben habe, als Frau, als Türkin. Nicht von den Nachbarn und nicht von der Regierung.» Sueda kommt aus einer konservativen Provinzstadt in Ostanatolien. Mit Kurzhaarfrisur und Baseballmütze entspricht sie nicht dem Frauenbild religiöser Kreise.

Kritik kommt aber auch aus anderen Lagern. Viele junge Menschen kritisieren die Flüchtlingspolitik der Regierung. In der angespannten Wirtschaftslage sehen sie die syrischen Flüchtlinge als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Der nationalistische Wolfsgruss ist genauso Teil der Proteste wie die Revolutionsballade «Bella ciao».

Politisch einig sind sich die Studenten vor allem in ihrer Gegnerschaft zur Regierung. Imamoglu und seine CHP, eine Partei des wirtschaftlichen Establishments, sind dabei eher Projektionsflächen für diese Ablehnung, als dass sie sich mit ihnen identifizieren.

Beissender Spott

Zwar kommen die Studenten zu den grossen Kundgebungen der CHP vor dem Rathaus. Vereinnahmen lassen wollen sie sich aber nicht. Tagsüber organisieren sie eigene Aktionen. Sie halten Mahnwachen in den Fakultäten oder marschieren durch die Stadt. «Wenn wir eine Hauptstrasse blockieren, nimmt man uns zur Kenntnis – selbst wenn die regierungsnahen Medien die Proteste totschweigen», sagt Mustafa, der an einer privaten Universität in Istanbul Informatik studiert. Er nimmt zum ersten Mal an einer Demonstration teil.

Auf ihren Plakaten spotten die Demonstranten beissend über die Regierung. «Wären nur am 6. Februar so viele Polizisten da gewesen wie heute», heisst es etwa in einer Anspielung auf das Behördenversagen nach den schweren Erdbeben vom 6. Februar 2023. Und immer wieder singen sie: «Der diplomlose Erdogan».

Die Annullierung von Imamoglus Universitätsdiplom kurz vor seiner Verhaftung löste unter den Studenten grosse Empörung aus, auch weil damit der Wert ihrer angestrebten Abschlüsse infrage gestellt ist. Ein Hochschulabschluss ist eine Voraussetzung für das Präsidentenamt. Erdogan hat die offenen Fragen zu seiner eigenen Hochschulzeit nie beantwortet.

«Wir müssen uns gegen diese Willkür wehren», sagt Mustafa. «Das ist unser Gezi-Moment. Bloss, dass es noch um viel mehr geht. Wenn Erdogan sich auch dieses Mal durchsetzt, hält ihn niemand mehr auf.»

Gezi-Proteste im Hinterkopf

Die Politisierung einer Generation, die bis vor kurzem noch als apolitisch galt, weist viele Parallelen zur Situation in Serbien auf. Seit Monaten gehen dort Studenten gegen Präsident Aleksandar Vucic auf die Strasse. Doch der wichtigere Referenzpunkt liegt in der Vergangenheit, bei den sogenannten Gezi-Protesten von 2013.

Damals wuchs der Widerstand gegen die Bebauungspläne für den kleinen Gezi-Park in der Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul rasch zu einer landesweiten Protestbewegung an. Dabei ging es um viel mehr als Städtebau. Im Visier standen die konservative Moralpolitik und die autoritäre Wende von Recep Tayyip Erdogan. Es sind ähnliche Themen wie heute – bloss ist die Regierung seither bei ihrem Umbau des Landes viel weiter gekommen.

Für Erdogan waren die Proteste ein Schock. Die Regierung bezeichnete die Demonstranten als Terroristen und ging mit grosser Gewalt gegen sie vor. Neun Personen kamen ums Leben. Bis heute ergehen Urteile gegen damalige Aktivisten.

Zornig und besorgt

Wegen des grossen Symbolgehalts will die Regierung jedes Anknüpfen der gegenwärtigen Bewegung an Gezi verhindern. Die Metrostationen am Taksim-Platz, dem Herz der republikanischen Türkei und Zentrum der damaligen Bewegung, werden seit Imamoglus Verhaftung jeden Abend verschlossen. Auch tagsüber ist die Polizeipräsenz hier gross.

Absperrgitter und mehrere Tomas – gepanzerte Wasserwerfer der türkischen Polizei – stehen bereit. Die Demonstranten reagieren auf die Machtdemonstration mit einem Schlachtruf von damals: «Überall ist Taksim, überall ist Widerstand.»

«Die Studenten sind zorniger und weniger unbekümmert, als wir es waren», sagt Murat Günalp. Der Soziologe war bei Gezi dabei und marschiert auch jetzt wieder mit. «Ich kann es ihnen nicht verübeln. Das autoritäre Regime ist fest installiert und hat ganz andere Möglichkeiten.» Das fange schon in den Universitäten an, wo mittlerweile fast überall regierungstreue Rektoren installiert worden seien.

«Ich spüre die Verunsicherung ja selber», sagt Günalp. Während Gezi habe er freizügig Fernsehinterviews gegeben. Heute habe er schon Bedenken, wenn sein Name in der Zeitung stehe. Günalp ist ein Pseudonym. Wie die meisten Teilnehmer trägt er bei den Protesten eine Maske.

Nicht nur während der Demonstrationen kommt es zu Verhaftungen. Wer als Regierungskritiker im Visier der Behörden steht, riskiert, nachträglich für die Teilnahme am Protest in Gewahrsam genommen zu werden. Allein gegen ein gutes Dutzend Journalisten wurde mittlerweile Anklage erhoben. Der Slogan «korkma!» (hab keine Angst!) kommt nicht von ungefähr.

Erdogan hat Zeit

Was bedeutet das für die Erfolgsaussichten der gegenwärtigen Bewegung? Gezi ist letztlich auch an der massiven Repression gescheitert. «Etwas haben wir ja bereits erreicht», sagt Arzu, die Personalfachfrau an der Kundgebung vor dem Rathaus. «Ohne all die Menschen hier hätten wir schon längst einen Zwangsverwalter als Bürgermeister.»

Tatsächlich wurde Imamoglu nach der Verhaftung zwar seines Amtes enthoben. Die Regierung hat aber keinen eigenen Vertreter an seiner Stelle eingesetzt, wie sie es etwa in den kurdischen Gebieten regelmässig tut. Der Stadtrat von Istanbul wählte am Mittwoch aus den Reihen der Opposition einen Interimsbürgermeister. Das dürfte sehr wohl mit den Protesten zu tun haben.

Doch Erdogan kann die Schraube jederzeit weiter anziehen. Unter anderem sind Ermittlungen wegen angeblicher Unregelmässigkeiten bei der Wahl des CHP-Vorstands im Gange. Theoretisch könnte die Oppositionspartei unter Zwangsverwaltung gestellt werden.

Ausserdem hat die Regierung Zeit. Die nächsten regulären Wahlen finden erst in drei Jahren statt. Für die Opposition kommt die erste Bewährungsprobe aber schon am Wochenende. Am Sonntag beginnt das Zuckerfest zum Ende des Ramadan. In seiner gesellschaftlichen Bedeutung ist der Feiertag mit Weihnachten zu vergleichen. Viele Studenten werden dann zu ihren Familien nach Hause fahren.

Der CHP-Vorsitzende Özel hat am Mittwoch eine neue Strategie verkündet. Die abendlichen Proteste beim Rathaus werden eingestellt. Stattdessen soll es an wechselnden Orten Kundgebungen mit der Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen geben. Die erste findet am Samstag auf einem grossen, aber abgeschlossenen Gelände auf der asiatischen Seite Istanbuls statt. Das mindert auch das Risiko von weiteren Zusammenstössen mit der Polizei.

Boykott regierungsnaher Medien

Ausserdem hat Özel zum Boykott von einzelnen Unternehmen aufgerufen. Dazu gehören die grossen regierungsnahen Medienhäuser, welche die Proteste gegen Imamoglus Verhaftung bisher weitgehend verschweigen, aber auch die Kaffeehauskette Espresso Lab. Der Firma werden geschäftliche Verbindungen zur Präsidentenfamilie nachgesagt.

Ob sich so ökonomischer Druck aufbauen lässt, muss sich zeigen. Wichtiger für die Opposition sei es ohnehin, die politische Mobilisierung in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, sagt der Soziologe Günalp. «Dazu kann ein Boykott beitragen, wenn er nachvollziehbar und leicht umzusetzen ist. Das ist in diesem Fall gegeben.» Die Studenten haben sich den Aufruf bereits zu Herzen genommen. Wenn sie auf ihren Märschen an einer Filiale von Espresso Lab vorbeikommen, buhen sie die Kunden nach Leibeskräften aus.

Egal, was sie kurzfristig erreichten, der Protest lohne sich in jedem Fall, sagt die Architekturstudentin Sueda. «Wir zeigen, dass der demokratische Geist in der Türkei nicht tot ist. Und irgendwann, das weiss ich, setzt er sich durch.»

Ob sie über das Zuckerfest zu den Eltern in die Provinz fahre, habe sie noch nicht entschieden. «Aber falls ich fahre, demonstriere ich auch dort.»

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