Donnerstag, Oktober 10

Vor einer Woche wurde eine Ärztin in einem Spital in Kolkata vergewaltigt und umgebracht. Nun streiken in ganz Indien Ärzte und fordern besseren Schutz vor Übergriffen und sexueller Gewalt.

Die Assistenzärztin hatte sich am vergangenen Freitag nach einer langen Schicht im Spital in Kolkata in einen Seminarraum zurückgezogen, um sich etwas auszuruhen. Am nächsten Morgen fanden Kollegen ihren leblosen, halbnackten Körper, der deutliche Spuren von Gewalt aufwies. Die 31-Jährige war offenbar in der Nacht vergewaltigt und ermordet worden. Die Polizei nahm rasch einen Tatverdächtigen fest, der als «Freiwilliger» in dem staatlichen Spital tätig war. Er hatte dort angeblich Patienten gegen Geld Termine bei Ärzten vermittelt.

Seither sind die Spitalmitarbeiter in Indien in Aufruhr. Überall im Land gibt es Streiks und Proteste, für Samstag hat der Ärzteverband Indian Medical Association zu einem 24-stündigen Ausstand aufgerufen. Die schreckliche Tat in Kolkata hat offensichtlich einen Nerv getroffen. Die Ärzte klagen, dass sie bei der Arbeit zunehmend Opfer von Gewalt durch Patienten und deren Angehörige würden. Viele Frauen fühlen sich an ihrem Arbeitsort nicht sicher.

Das Problem geht aber offenkundig über die Spitäler hinaus. Sexuelle Gewalt ist ein riesiges Problem in Indien. International für Schlagzeilen sorgte 2012 die Gruppenvergewaltigung einer 23-Jährigen in einem Bus in Delhi, die später ihren Verletzungen erlag. Damals gab es grosse Proteste, die Regierung verschärfte darauf die Gesetze. Zwar stiess der Fall eine Diskussion über sexuelle Gewalt an. An dem Problem der Belästigung von Frauen hat sich seither aber wenig geändert.

Ein Mob von Männern stürmt in der Nacht das Spital

In der Nacht auf Donnerstag versammelten sich Zehntausende Frauen zu einem ungewöhnlichen Protestmarsch in Kolkata. Viele Frauen vermeiden es sonst, im Dunkeln auf die Strassen zu gehen. Unter dem Motto «Erobere die Nacht zurück» marschierten Frauen allen Alters in den frühen Morgenstunden durch die Strassen der Metropole. Schon vor Jahren hatte es in Delhi und Mumbai nach Vergewaltigungen ähnliche Protestmärsche gegeben, doch war jener in Kolkata der bislang grösste.

Zur gleichen Zeit drang ein Mob in das Spital ein, in dem der Mord an der jungen Ärztin passiert war. Mehrere hundert Männer stürmten das Erdgeschoss, verwüsteten die Einrichtung des Spitals und griffen die Ärzte an, die dort für bessere Sicherheitsvorkehrungen demonstrierten. Die Protestierenden klagten, die Polizei habe nur zögerlich reagiert. Inzwischen wurden 25 Verdächtige festgenommen. Ihre Identität und ihre Motive waren zunächst unklar.

Ein Gericht in Kolkata rügte am Freitag die Polizei und warf ihr mangelnde Vorbereitung vor. Die Stürmung des Spitals durch den Mob «sei ein absolutes Versagen des Staates», erklärten die Richter. Auch sonst heizte der Vorfall die Kontroverse weiter an – zumal er in der Nacht vor Indiens Unabhängigkeitstag erfolgte. Mamata Banerjee, die Regierungschefin des Teilstaats Westbengalen, warf der Opposition vor, hinter dem Angriff auf das Spital zu stecken. Ihre Rivalen warfen ihr daraufhin vor, sie nutze den Fall, um Politik zu machen.

Waren noch mehr Täter an dem Mord beteiligt?

Nach dem Mord machten zahlreiche Gerüchte die Runde. Die Eltern des Mordopfers äusserten gegenüber der Polizei den Verdacht, dass weitere Personen wie Ärzte und Praktikanten an der Tat beteiligt gewesen seien. Einige Demonstranten beschuldigten Polizei und Regierung, die Aufklärung der Tat zu hintertreiben und die Täter schützen zu wollen. Auf Druck der Ärzte traten mehrere Verantwortliche des Spitals zurück, doch reicht dies den protestierenden Ärzten nicht.

Die Parteien gaben sich derweil gegenseitig die Schuld für die Sicherheitsprobleme in den Spitälern und bezichtigten einander, den Mord an der Ärztin politisch instrumentalisieren zu wollen. Die Hindu-nationalistische BJP, die auf nationaler Ebene die Regierung anführt, im Teilstaat Westbengalen aber in der Opposition ist, forderte den Rücktritt der dortigen Regierungschefin Banerjee. Ihre Regierung habe die Lage nicht länger unter Kontrolle, Westbengalen sollte direkt der Kontrolle des Zentralstaats unterstellt werden, sagte ein BJP-Sprecher.

Als Zeichen der Entschlossenheit organisierte Banerjee daraufhin am Freitag einen Protestmarsch in Kolkata. Bei der Kundgebung forderte sie die Todesstrafe für den Hauptverdächtigen. Die Vollstreckung der Todesstrafe ist in Indien relativ selten. Nach der Gruppenvergewaltigung in dem Bus in Delhi wurden aber vier der sechs Täter hingerichtet. Der Hauptverdächtige war zuvor in seiner Gefängniszelle unter nicht geklärten Umständen zu Tode gekommen. Ob härtere Strafen allein gegen sexuelle Gewalt viel bringen, ist allerdings zweifelhaft. Vielmehr braucht es wohl einen grundlegenden Kulturwandel.

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