Freitag, September 12

Mit der Premiere von «Blösch» beginnt am Zürcher Schauspielhaus nächste Woche die erste Saison unter der Doppelintendanz von Pinar Karabulut und Rafael Sanchez. Im Theater wollen sie gute Geschichten erzählen und dabei die Persönlichkeiten des neuen Ensembles ins Zentrum stellen.

Pinar Karabulut, Rafael Sanchez – wer von Ihnen hat die Idee einer gemeinsamen Intendanz aufgebracht, und wer hat das Jawort gegeben?

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Karabulut: Wir würden dazu gerne eine schöne Geschichte erzählen, aber die gibt es nicht. Wir kennen uns einfach schon sehr lange, waren gleichzeitig in Köln oder in Zürich am Theater Neumarkt. Unsere gemeinsame Bewerbung war dann irgendwie logisch für uns.

Was ist der Vorteil einer Doppelintendanz?

Karabulut: Wir zwei wollen weiterhin auch Regie führen. Wenn einer mit der Regiearbeit beschäftigt ist, bleibt die andere Person nah am Betrieb und somit konstant ansprechbar für die Belegschaft.

Sanchez: Der Dampfer fährt so nie ohne Captain. Inszenierende Intendantinnen und Intendanten wie wir haben den Vorteil, dass sie ganz tief ins Haus gucken können. So haben wir den Überblick über alle Abteilungen des Theaters und merken, was gut läuft und was nicht. Wir sind bei der Regiearbeit in tiefen Etagen unterwegs, wo ein Intendant, der selber nicht inszeniert, nie hinkommt.

Gibt es aber nicht Reibungsverluste, wenn man sich stets einigen muss?

Sanchez: Bis jetzt erzeugt die Reibung vor allem produktive Elektrizität, aber eine Doppelintendanz bringt tatsächlich Mehrarbeit mit sich – Arbeit für uns, die dem Hause zugutekommt. Wir können Projekte schon zu zweit gut vorbereiten. Und wir können zu zweit auch Konfliktpotenzial abarbeiten. Ein Beispiel: Wenn ich mich über jemanden aufrege, kann Pinar Karabulut dazwischengehen und das Problem mit mir besprechen, so dass der Mitarbeiter meinen Ärger nicht abbekommt.

Haben Sie untereinander eine fixe Arbeitsteilung eingeführt?

Karabulut: Vorerst möchten wir beide überall involviert bleiben, um einen möglichst vollständigen Überblick zu bekommen. Es gibt jedoch auch Aufgaben, bei denen uns bereits intuitiv klar ist, wer von uns sie übernimmt.

Sanchez: Pinar Karabulut hat einen tausendmal besseren Geschmack als ich, wenn es um Design geht. Deshalb bin ich froh, wenn sie sich um Fragen des Marketings und der Grafik kümmert.

Finden Sie neben der Schauspielhaus-Intendanz noch Zeit, sich mit der Aktualität auseinanderzusetzen? Beeinflusst das Weltgeschehen den Spielplan?

Karabulut: Was draussen in der Welt passiert, ist leider ziemlich schrecklich. Ich habe heute ein Video von Christoph Waltz gesehen, der am Filmfestival Venedig gefragt wurde, was er mache, um hoffnungsvoll zu bleiben. «Ich bin nicht hoffnungsvoll», war seine Antwort.

Sanchez: Wir aber müssen hoffnungsvoll bleiben! Es ist eine wichtige Aufgabe des Theaters, dem Publikum Werkzeuge an die Hand zu geben, um im privaten oder gesellschaftlichen Leben zurechtzukommen. Manchmal ist es aber gut, eine gewisse Distanz zu schaffen zur Gegenwart. Man greift dann zu einem älteren Stück, um aktuelle Probleme zu verhandeln. Wir wollen das Schauspielhaus Zürich zu einem Ort machen, an dem man sich gut aufgehoben fühlt, während man sich mit der Realität beschäftigt.

Können Sie ein Beispiel geben für die Aktualität Ihres Theaters?

Sanchez: In der Inszenierung von Beat Sterchis Roman «Blösch», mit der wir die Saison 2025/26 am Schauspielhaus nächste Woche eröffnen, geht es um einen Spanier aus La Coruña, der in die Schweiz auswandert – genau wie einst mein Grossvater in den 1960er Jahren. Im Mittelpunkt steht aber nicht mein privater Bezug, sondern das Leben, das körperliche Empfinden eines Menschen, der von einer Gesellschaft gebraucht und dann wieder ausgestossen wird, nachdem er vierzig Jahre für diese Gesellschaft gearbeitet hat. Das passiert Immigranten in der Schweiz bis heute, es passiert aber auch auf zunehmend brutale Weise Immigranten in den USA und an vielen weiteren Orten.

Was können Sie denn mit dem Begriff der Klassik anfangen?

Karabulut: Wir sind sozialisiert im Sprechtheater, im klassischen Sinne. Uns interessieren heutige Perspektiven auf klassische Texte, das macht sie erst spannend.

Sanchez: 99 Prozent der Menschen, die das Wort Klassik in den Mund nehmen, drücken damit ihre Sehnsucht nach Theatererlebnissen in ihrer Kindheit und Jugend aus. Ich habe einmal «Tod eines Handlungsreisenden» von Arthur Miller inszeniert – in einem Wasserbecken, die ganze Bühne war mit Wasser bedeckt. Irgendwann erzählte mir ein junger Besucher, dass er sich diese Inszenierung schon achtmal angesehen habe. Da wusste ich, in zwanzig Jahren wird er motzen, wenn das Stück nicht mehr in einem Wasserbecken spielt.

Spiegelt sich in der Idee eines klassischen Theaters nicht auch das Bedürfnis nach bleibenden ästhetischen Werten – unabhängig von aktuellen Bezügen?

Sanchez: Das hat dann aber nichts mit dem Alter eines Stückes zu tun, sondern mit Genauigkeit, mit der Tiefe der Sprache. Wie die Sätze von «Blösch». Oder wie die Stücke von Sarah Kane: Egal, wie man die Texte der britischen Dramatikerin inszeniert, die Menschen kommen und saugen das auf, als wären sie trockene Schwämme.

Jahrzehntelang hat das Theater das Publikum durch Provokationen sozusagen erwecken oder erziehen wollen. Was halten Sie von theatralen Provokationen?

Sanchez: Provokation – das war in den neunziger Jahren. Jetzt haben wir 2025, wir sind gesättigt mit Provokation. Provokation ist langweilig.

Karabulut: Und Langeweile halte ich für eine Provokation.

Provokation lehnen Sie also ab? Dada und Punk, alles Schnee von gestern?

Karabulut: Die Provokation sollte jedenfalls kein Selbstzweck sein. Provokation ist oft auch eine sehr subjektive Sache. Die Frage sollte sein: Wann und wie wird Provokation produktiv und für wen? Provozieren die Schlachthausszenen in «Blösch» die Vegetarier oder die Fleischesser unter uns oder doch alle gleichermassen, und wo führt das hin? Konfrontieren wir damit akute Themen, individuelle Gefühle? Welche Geschichte wird damit erzählt?

Vielleicht provoziere ich Sie jetzt mit dieser Frage: Wie haben Sies mit der sogenannten Wokeness, die die Kontroversen um das Zürcher Schauspielhaus eine Zeitlang bestimmt hat?

Sanchez: Den Begriff brauchen wir nicht mehr. Geblieben ist aber das Interesse für Menschen und Gruppen, die nicht die Möglichkeit haben, sich in der Mehrheits- oder Dominanzgesellschaft zu artikulieren. Ihnen wollen wir eine Stimme geben. Das ist auch eine Aufgabe eines subventionierten Hauses, sich um Leute zu kümmern, um die sich sonst niemand kümmert, weil es nicht immer rentabel sein muss.

Muss es nicht immer rentieren?

Karabulut: Wir müssen zuletzt auf eine schwarze Null kommen. Wir müssen das Geld aber so einsetzen, dass wir Themen abdecken, die andere nicht abdecken können. Das ist ja der Sinn der Sache, dass wir forschen und sagen können: Okay, dieses Stück müssen wir jetzt machen, auch wenn es nicht jedes Mal ausverkauft sein wird.

Ihre Vorgänger Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann haben viel Wert auf unterschiedliche Ausdrucksformen gelegt – vom Sprechtheater über Tanz und Performance bis zu Filmprojekten. Steht nun ausschliesslich Sprechtheater auf Ihrem Programm?

Karabulut: Ich würde nicht sagen, dass unser Spielplan Tanz oder Performance ausschliessen wird. Am Eröffnungswochenende findet die Uraufführung von «Are You Ready to Die» statt, einem Stück von Marie Schleef, die Theater ganz ohne Sprache macht; der Fokus geht ganz auf den Körper. Für einen Tänzer ist das vielleicht noch nicht spartenübergreifend, aber es ist eine neue, spannende Form von Theater.

Sanchez: Wir sind offen für verschiedene künstlerische Formen. Eine Gemeinsamkeit von uns und von den Künstlerinnen und Künstlern, die wir zu uns einladen, ist aber das Bestreben, Geschichten zu erzählen. Dabei soll die künstlerische Persönlichkeit der Schauspielerinnen und Schauspieler immer erkennbar bleiben.

Werden Sie auch die Stadt Zürich thematisieren am Zürcher Schauspielhaus?

Sanchez: Es wäre falsch, in unserer ersten Spielzeit den Zürchern ihre Stadt erklären zu wollen. Doch Theater entsteht ja immer im Kontext des direkten Umfelds – auch wenn es sich nicht in Titel oder Thema zeigt, sind die Inszenierungen in und für Zürich gedacht und entstanden. Aber irgendwann wollen wir auch Stücke zeigen, die ganz auf diese Stadt zugeschnitten sind. Ein legendäres Beispiel dafür ist «Top Dogs» von Urs Widmer, das in den neunziger Jahren am Neumarkttheater lief.

Wie gut ist heute der Ruf des Zürcher Schauspielhauses in der deutschsprachigen Theaterlandschaft?

Sanchez: Der Ruf des Schauspielhauses ist gut, es strahlt immer noch krass nach aussen. Weniger gut ist der Ruf der Zürcher Politik.

Und weshalb?

Sanchez: Die Politiker seien ungeduldig und hart. Wenn es einem als Intendanten mal nicht so gut laufe, wenn man trotz künstlerischen Verdiensten nicht genug einbringe, sei man schnell wieder weg. Aber das macht uns keine Sorgen, wir sind gut vorbereitet.

Haben Sie schon Zürcher Politiker kennengelernt?

Karabulut: Wir haben die Stadtpräsidentin Corine Mauch kennengelernt und den Stadtrat Filippo Leutenegger in einem Lokal zufälligerweise getroffen. Wir wurden ausserdem zur 132-Jahre-Feier der FDP eingeladen, wo wir ein Referat halten durften.

Und was für Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Sanchez: Es gibt Ähnlichkeiten zwischen Politikerinnen und Politikern und uns Künstlerinnen und Künstlern. Wir versuchen mit den Mitteln des Theaters an der Gesellschaft zu arbeiten und sie mit Politik. Und so interessiert es uns natürlich, mit ihnen in einen Dialog zu kommen. Das Schöne an der Schweiz ist ja, dass man hier noch mit beinahe allen reden kann.

Sie haben auf die neue Saison hin ein neues Ensemble zusammengestellt. Wie würden Sie dieses charakterisieren?

Karabulut: Wir haben ein grosses Ensemble mit über dreissig Schauspielerinnen und Schauspielern. Manche sind seit drei, manche schon seit zwanzig Jahren hier, manche ganz neu. Wichtig war uns, dass das Ensemble divers ist, ein Beispiel dafür sind die zwölf Frauen und Männer über 50 Jahre. Margot Gödrös, das älteste Ensemblemitglied, ist sogar schon 86-jährig. Es gibt kein anderes Theater im deutschsprachigen Raum, das so viele ältere Schauspielerinnen und Schauspieler beschäftigt wie wir. Bei uns haben auch ältere Schauspielerinnen und Schauspieler eine Chance auf eine Sichtbarkeit und auf Rollen, die ihnen viele andere Häuser nicht mehr anbieten.

Eines der prominentesten Mitglieder des neuen Ensembles ist Mike Müller. Berühmt geworden ist er als Komiker am Fernsehen. Welche Rolle spielt er in Ihrem Theater?

Sanchez: Mike Müller ist ein genialer Schauspieler, der tagesaktuelle Themen auf die Bühne bringt wie kaum ein anderer. Genauer als er guckt niemand auf die Schweiz. Und er kennt hier ja auch jeden Politiker. Er ist im besten Sinne ein Schweizer Volksschauspieler.

Das Zürcher Schauspielhaus wird stets für die Kombination von Pfauenbühne und Schiffbau gerühmt. Tatsächlich finden in der grossen Schiffbauhalle nur noch selten Premieren statt. Weshalb?

Sanchez: Das Geld gibt das vor. Es ist zu teuer. Im Schiffbau kann man keine Repertoirestücke zeigen. Im Schiffbau braucht man fünf Tage, um die Bühne für ein Stück aufzubauen, und dann nochmals vier für den Abbau. Das ist sehr kostspielig.

Wäre es möglich, den Schiffbau in ein Repertoiretheater umzufunktionieren?

Karabulut: Wir haben jetzt erst einmal die Aufgabe, die vorhandenen Bühnen gut zu bespielen. Wenn das gut läuft, kommen wir mit unseren Ideen und Wünschen. Wir haben aber schon ein ziemlich klares Bild, was am Schauspielhaus gut funktioniert und was nicht. Den Schiffbau gibt es schon seit 25 Jahren; aber man hat hier noch nicht einmal in jedem Raum ein funktionierendes WLAN. Und die Lüftungen in den Proberäumen wurden nie fertiggestellt.

In die Zeit Ihrer Intendanz wird wahrscheinlich die Renovation des Pfauensaals fallen. Haben Sie schon eine Idee, wie der Pfauen zu ersetzen sein wird?

Sanchez: Es wird eine Interimsbühne geben müssen, unbedingt, der Schiffbau alleine wird nicht ausreichen. Aber ich bin da zuversichtlich.

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