Dienstag, April 22

Seine Bilder erregten Aufsehen und empörten die Öffentlichkeit. Der in Zürich ausgebildete Fotograf Oliviero Toscani hat mit seiner Werbekommunikation Geschichte geschrieben.

Liebe, Sex und Tod. Das sind die grossen Themen des Lebens. Und ohne sie wäre Kunst langweilig. Dieser Überzeugung ist der italienische Fotograf Oliviero Toscani (geb. 1942). Seine Werbekampagnen waren ebenso umstritten wie ikonisch. Bilder wie der Kuss einer Nonne und eines Priesters haben sich ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben.

«Provokation ist etwas Gutes», war sein Credo. Bis an die äussersten Toleranzgrenzen – und manchmal weit darüber hinaus – hat Toscani mit seiner Fotokunst Tabuthemen wie freie Liebe, Sexualität, Sterben und Tod aufgegriffen. Seine Fotografien werfen Fragen zu aktuellen Themen wie Ethik und Ästhetik, Gender und Rassismus auf. Darin besteht der künstlerische Wert vieler seiner gewagten Bildfindungen.

Oliviero Toscani erhielt seine Ausbildung ausgerechnet im zwinglianischen, einst bilderstürmenden Zürich. Er schaffte es 1961 an die Kunstgewerbeschule, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Toscani wollte unbedingt Fotograf werden. Sein Vater war Fotoreporter bei der Tageszeitung «Corriere della Sera», seine ältere Schwester Marirosa Toscani Ballo führte zusammen mit Aldo Ballo das legendäre Mailänder Fotostudio Ballo+Ballo. Toscani brachte das nötige Talent mit. Auf Anhieb erhielt er einen der begehrten Studienplätze, es gab nur sechs pro Jahr.

Massgebend für Toscanis steil verlaufende Karriere war Mitte der fünfziger Jahre die weltweit aufkommende Concerned Photography. Diese interessierte sich für Menschen, auch solche am Rand der Gesellschaft. Unter diesem Einfluss standen Toscanis erste eigenständige Werke. Sie entstanden in New York.

New Yorker Strassen und Klubs

Noch als Student gewann Toscani einen internationalen Wettbewerb der Fluggesellschaft Pan Am. Er reiste über den Atlantik, wurde vom Flughafen John F. Kennedy mit dem Helikopter abgeholt und landete auf dem Dach des Firmenhauptsitzes an der Park Avenue. Im Auftrag von Pan Am sollte er in den kommenden Monaten die halbe Welt bereisen.

Erst aber tauchte Toscani tief in den Big Apple ein. In Harlem und der Bronx begann er, fasziniert vom coolen Style der Schwarzen, sein Objektiv auf die bunten Strassenszenen der Black Community zu richten. Der kontaktfreudige Italiener schoss bald auch Porträts von Persönlichkeiten wie etwa dem damaligen schwarzen Starcoiffeur, der für die Frisuren von Miles Davis und Jimi Hendrix zuständig war.

Für «Uomo Vogue» gelang Toscani bald ein erster Coup: Das Modemagazin gab unter seiner Einwirkung ungeplant eine Nummer nur mit schwarzen Models heraus. Toscani hatte sich eines Tricks bedient, indem er die versprochenen Bilder viel zu spät einreichte. So sah sich der Verlag gezwungen zu drucken, was er erhielt. Die Ausgabe war ein Meilenstein in der Modegeschichte.

Das tat Toscani tagsüber. Nachts aber suchte er die angesagten Klubs auf, um Zeuge von dem grossen hedonistischen Rausch der Epoche zu werden. Er kam mit Celebritys wie Patti Smith, Lou Reed, Andy Warhol oder Robert Rauschenberg in Kontakt, begann die Gäste vor nüchternem Hintergrund im Treppenhaus zu porträtieren, was mit deren Extravaganz besonders kontrastierte. Im «Limelight», dem ersten Klub weltweit nur für Homosexuelle, fotografierte er die sich in aller Exzentrik inszenierenden Schwulen- und Lesben-Pärchen.

Diese Zeitzeugnisse schlummerten über Jahrzehnte in Oliviero Toscanis Archiv. Jetzt sind sie im Museum für Gestaltung zum ersten Mal öffentlich zu sehen. Sie bilden den intimen Rahmen zu Toscanis zum Teil weltbekannten Modefotografien und Werbekampagnen, die in dieser fulminanten Schau in Grossformaten präsentiert werden.

Ein Skandal nach dem anderen

Zusammen mit dem Schweizer Peter Knapp war Toscani bereits Hoffotograf der internationalen Modezeitschrift «Elle», als er Fotos für die Jeans-Marke «Jesus Jeans» zu machen begann. Diese Kampagne stand am Anfang seiner provokativen Werbefotografie. Die Bilder zeigen das Hinterteil des Models Donna Karan in einer kurzen, knapp gehaltenen Hose. Auf dem wohlgeformten Po hat Toscani den Schriftzug «Chi mi ama mi segua» aufgedruckt. Wer mich liebt, folgt mir.

Die Plakate mit dem Bibelzitat schlugen 1973 in der italienischen Öffentlichkeit wie eine Bombe ein. Sie wurden von den Hausfassaden gerissen – einerseits von den konservativen Gläubigen und anderseits von der begeisterten Jugend. Toscani polarisierte die Öffentlichkeit. Das war die Stunde null einer Denkhaltung, die er nun im Verlauf seiner rasanten Karriere konsequent durchdeklinieren sollte.

Sein wichtigster Kunde wurde bald Luciano Benetton. Dieser war mit seinem Modelabel bereits auf vier Kontinenten unterwegs – von Oslo bis Kapstadt und von Tokio bis Mexiko-Stadt – und arbeitete mit Models aus Afrika, Europa, Amerika und Asien zusammen. Als Toscani an Bord kam, wurde alles anders. Toscani taufte den Brand eigenmächtig in «United Colors» um, führte die Models aus aller Welt in einer grossen Umarmung zusammen und liess sie dabei fortan völlig hüllenlos antreten.

Aus einer Werbebotschaft für Textilien machte Toscani eine gesellschaftspolitische Aussage. Die neue Mission: ein friedvolles, gleichberechtigtes Miteinander. Die Wirkung auf der Strasse, in den Läden und vor allem auch in den Medien war enorm. Man wartete förmlich darauf, bis das nächste Sujet herauskam.

Toscani hielt die Öffentlichkeit mit immer akzentuierteren Sujets bei Laune. Er machte Plakate mit gleichgeschlechtlichen Paaren mit Kindern auf dem Arm, bald liess er weisse und schwarze Babys zusammen spielen – zwangsläufig nackt, da für diese Altersklasse bei Benetton gar keine Mode hergestellt wurde. Damit verdiente Toscani rasch viel Geld, und als er sich ein Gestüt leisten konnte, liess er für «United Colors» auch schon einmal einen Rappen eine Schimmelstute besteigen.

Schliesslich, um 1988, sprangen Toscani und Benetton auf ein neues Steckenpferd auf, um noch stärker auf ihre Kundschaft, die Gruppe der Jugendlichen, zu fokussieren: Das grosse, aber in der Öffentlichkeit verdrängte Thema der Zeit war Aids. Die Aufklärung rund um die sexuell übertragbare Immunkrankheit sollte die neue Kernbotschaft des Modekonzerns werden. Aus «United Colors» wurden «United Condoms», versinnbildlicht in Plakaten mit lauter farbigen Kondomen.

Abermals führte das zu einem Aufschrei in der Öffentlichkeit. Derweil gingen die Verkaufszahlen von Benetton durch die Decke. Damit aber nicht genug. Toscani ging noch weiter. Als er eines Tages durch das «Life»-Magazin blätterte und die Foto des an Aids erkrankten David Kirby sah, im Sterbebett umringt von seiner Familie, entschied er sich, ebendieses Bild zum nächsten Benetton-Plakat zu machen. Das war radikal. Das war weder eine eigene Fotografie noch eine, die auch nur im Entferntesten irgendetwas mit Mode zu tun hatte. Das Kalkül ging auf. Es gab laute Proteste. Aids wurde zur öffentlichen Debatte.

Für das Werbeplakat hatte Toscani die Familie Kirby selbstverständlich um Erlaubnis gefragt, es gab sogar eine gemeinsame Pressekonferenz. Die Kirbys sahen sich nicht als Opfer einer Werbeaktion, sondern als Nutzniesser derselben. Dank Benetton erhielten sie für ihr Anliegen, im Namen ihres Sohns Aids zu bekämpfen, die entsprechende Publicity. Gleichwohl hatte die Provokation ein kritisches Mass erreicht. In vielen Ländern wurden die Plakate verboten, in der Schweiz allerdings nicht.

Eine rote Linie war schliesslich überschritten, als Toscani anfing, Porträts von zum Tode Verurteilten in amerikanischen Gefängnissen zu machen. Die Bilder schockierten. Aus Kreisen von Opfervertretungen formierte sich massiver Widerstand. Dem Modekonzern wurde vorgeworfen, Mörder zu glorifizieren.

Die amerikanische Kaufhauskette Sears gab dem Druck nach und liess über Nacht sämtliche Benetton-Filialen schliessen. Der geschäftstüchtige Luciano Benetton war schockiert und entschuldigte sich öffentlich. Toscani empfand das als Verrat und beendete die 18 Jahre währende Zusammenarbeit im Streit. Sein letztes Bild für Benetton war ein leerer elektrischer Stuhl.

«Oliviero Toscani: Fotografie und Provokation», Museum für Gestaltung in Zürich, bis 15. September.

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