Samstag, September 28

Demente Menschen erhalten oft Antipsychotika, obwohl diese teilweise schwere Nebenwirkungen haben. Doch was soll man tun, wenn der Vater oder die Partnerin so unruhig ist oder gar aggressiv, dass nur ein Medikament zu helfen scheint?

Liesel rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, schiebt Teller und Tassen durcheinander, hämmert mit der Gabel auf den Tisch. Plötzlich steht sie auf. Sie läuft unruhig im Zimmer auf und ab, packt ihre Tochter am Arm und schimpft mit ihr. Solche Dinge kamen jeden Tag vor.

«Es fiel mir anfangs sehr schwer, sie nicht anzuschreien, weil mich ihr Verhalten so verletzte und wütend machte», sagt Lieselotte Klotz, die ihre Mutter zwölf Jahre zu Hause bis zu deren Tod pflegte. «Ich fühlte mich hilflos und lernte erst mit der Zeit, wie ich ihr am besten helfen und mich schützen konnte: mit Liebe, Humor und radikaler Akzeptanz.»

So wie Liesel ergeht es fast allen Menschen mit Demenz. Fachleute sprechen von BPSD. Das Kürzel steht für Behaviorale – das Verhalten betreffende – und Psychische Symptome der Demenz. Typisch dafür sind Unruhe, aber auch Apathie, Traurigkeit bis zur Depression, Ängste, Stimmungsschwankungen, leichte Reizbarkeit, Halluzinationen oder aggressives und enthemmtes Verhalten.

Gemäss internationalen Leitlinien sollte man solche Krankheitserscheinungen in erster Linie mit nichtmedikamentösen Massnahmen behandeln. Medikamente – insbesondere Antipsychotika – sollten erst dann verabreicht werden, wenn sonst nichts hilft. Oder wenn die Betroffenen sich und andere gefährden könnten.

Ob diese Empfehlungen hierzulande eingehalten werden, ist indes fraglich. 2019 und 2020 bekamen zwei von drei Bewohnern in Schweizer Pflegeheimen mit Anzeichen für eine Demenz und typischen Verhaltensauffälligkeiten ein Antipsychotikum.

Seit Jahren ist bekannt, dass Antipsychotika akute Nebenwirkungen haben wie parkinsonähnliche Beschwerden, Schwindel, Angst, Depressionen, Kopfschmerzen, Magen-Darm-Probleme, Inkontinenz und Veränderungen des Stoffwechsels. Langfristig erhöhen sie das Risiko für Schlaganfälle und einen vorzeitigen Tod.

Schritt für Schritt vorgehen

Jüngst haben Forscher aus Manchester die Daten von fast 174 000 Patienten mit Demenz untersucht, von denen jeder fünfte erstmalig ein Antipsychotikum erhalten hatte. Diese liefen eher Gefahr, Lungenentzündungen, akute Nierenschäden, Thrombosen, Herzinfarkte, Knochenbrüche oder Herzversagen zu erleiden.

«Solche Zusammenhänge lassen sich zum Teil durch die Nebenwirkungen erklären», sagt Stefan Klöppel, Direktor der Klinik für Alterspsychiatrie an der Universität Bern. «Wird einem schwindelig, stürzt man eher und bricht sich die Knochen, Antipsychotika-bedingte Herz-Rhythmus-Störungen können zum Tod führen, und das erhöhte Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte könnte womöglich mit einem veränderten Fettstoffwechsel zusammenhängen.» Weshalb die anderen Krankheiten aufträten, sei noch unklar. «Möglicherweise litten die Patienten schon vorher unter ihnen, und das Antipsychotikum hat sie noch verschlimmert», sagt Klöppel.

In der Entstehung von BPSD wirken verschiedene Faktoren zusammen. So kann die Demenz Bereiche im Hirn schädigen, die für die Verarbeitung und Steuerung von Emotionen und Verhalten zuständig sind. Hinter Unruhe, Apathie oder Aggressivität können auch Schmerzen, Schlafstörungen, ein Harnwegsinfekt oder eine Verstopfung stecken. Selbst Hunger vermag einen Menschen mit Demenz unruhig oder wütend zu machen, ebenso wie unerfüllte Bedürfnisse, etwa nach Wärme und körperlicher Nähe.

Reden pflegende Angehörige aus lauter Erschöpfung unwirsch mit ihren Liebsten oder schreien sie gar an, ist vorstellbar, dass diese aggressiv reagieren oder traurig werden. Die Umgebung spielt ebenfalls eine Rolle: Unruhiges Umherlaufen kann ein Zeichen dafür sein, dass es dem Betroffenen zu laut ist, er sich langweilt oder sich nicht mehr orientieren kann.

Für den Umgang mit Menschen mit BPSD empfehlen die ärztlichen Leitlinien ein schrittweises Vorgehen. Und das bedeutet: erstens die Symptome so genau wie möglich zu erfassen, zweitens auslösende Faktoren zu identifizieren, drittens einen individuellen Behandlungsplan aufzustellen und viertens zu evaluieren, ob die Massnahmen geholfen haben, und diese allenfalls anzupassen.

Falls die Ursachen bekannt sind, sind diese vergleichsweise einfach anzugehen. Eine Zahnsanierung bringt Schmerzen durch einen entzündeten Zahn zum Verschwinden. Eine neue Brille verbessert die Orientierung, eine Umstellung der Ernährung kann Verstopfungen lösen.

Die Angehörigen unterstützen

Anspruchsvoller wird es, wenn die Gründe für die Beschwerden unklar oder vielfältig sind. «Dann muss man ausprobieren, was welchem Patienten nützt», sagt der Psychiater Klöppel. Manchen hilft eine Erinnerungstherapie, in der man mit ihnen Aktivitäten von früher aufleben lässt. Anderen geht es besser mit körperlicher Bewegung, Beschäftigungs-, Musik- oder Tanztherapie, mit Licht- oder Aromatherapie oder Massagen.

Es lohnt sich zudem, pflegende Angehörige zu unterstützen. Sie können insbesondere von Psychoedukation profitieren, also von der Aufklärung über die Symptome von BPSD und was dahintersteckt, von Schulungen zum Erlernen von Bewältigungsstrategien oder der Teilnahme an Selbsthilfegruppen.

Lieselotte Klotz hatte mit der Zeit ihr eigenes Repertoire an Massnahmen gefunden. «Damit gelang es, meine Mutter fast immer gut zu erreichen», erzählt sie. Das gemeinsame Hören ihrer Lieblingsmusik, das Betrachten alter Fotos und das tägliche Kochen wurden zu Ritualen, mit denen die Symptome seltener auftraten. War ihre Mutter wieder einmal extrem aufgeregt und unruhig, hielt sie ihr die Hand, manchmal sanft, manchmal energisch. «Mitunter half es, sie einfach nur in den Arm zu nehmen, sie zu streicheln oder eine bekannte Melodie zu summen.»

Versagen die nichtmedikamentösen Massnahmen, raten die Fachleute zunächst zu Arzneimitteln, die Menschen mit Alzheimer-Demenz standardmässig bekommen, etwa Donepezil oder Memantin. Erst wenn diese nicht ausreichen, sollte der Einsatz von Antipsychotika in Betracht gezogen werden. Dass Antipsychotika wirken, bedeutet, dass sich in Studien Durchschnittswerte auf Symptom-Skalen verbessern, mit denen BPSD gemessen werden – und nicht, dass die Beschwerden verschwinden.

«Doch selbst wenn sich die Symptome auf diese Weise nur ein wenig lindern lassen, kann das schon viel ausmachen», sagt der Psychiater Klöppel. «Der Betroffene ist dann vielleicht immer noch unruhig, aber nicht mehr so aggressiv.» Begonnen wird jeweils mit der kleinsten Dosis, und nach einigen Wochen sollte versucht werden, die Dosis zu reduzieren und allenfalls das Medikament zu stoppen.

Liesel hat keine Antipsychotika in der häuslichen Pflege erhalten. «Und das aus gutem Grund», sagt Lieselotte Klotz. «Sie musste öfter einmal ins Spital, bekam dort häufig Antipsychotika, und als sie entlassen wurde, war sie verwirrt und apathisch. Wir haben die Präparate immer mühevoll ausgeschlichen.»

Wie Detektive eine Lösung suchen

Antipsychotika seien nicht per se schlimm, sagt Florian Riese, Facharzt für pharmazeutische Medizin und Leiter der Forschungsgruppe Lebensqualität bei Demenz an der Universität Zürich. «Es kann Situationen geben, in denen die Medikamente durchaus zu rechtfertigen sind. Zum Beispiel, wenn jemand nicht mehr gepflegt werden kann, weil er extrem aggressiv ist oder weil man den Eindruck hat, er leide zutiefst an seiner unerschöpflichen Unruhe.»

Nichtmedikamentöse Massnahmen sollten Vorrang haben, aber was tun, wenn dafür das Personal fehlt oder die Angehörigen überfordert sind? Schon wenige, dafür gezielte Massnahmen könnten helfen, sagt Remo Stücker, Leiter Pflege in den Domizil-Demenzzentren mit den Standorten Bethlehemacker, Elfenau und Wildermettpark in Bern.

Dazu gehöre etwa eine Umgebung, die den Bewohnern Geborgenheit und Sicherheit vermittle. «Klare Aufteilung der Räume, Schilder für die Orientierung, genügend Licht und Nischen mit Sofas, die zum Verweilen einladen.» Wichtig sei auch eine gute Ausbildung der Mitarbeiter – unter anderem, um ihre Kommunikationskompetenzen zu stärken, damit sie spürten, was den Betroffenen fehle.

«Sehen wir, wie ein Mensch mit Demenz unruhig ist oder sich ablehnend verhält, versuchen wir wie Detektive herauszufinden, was dahinterstecken könnte», erzählt Stücker. «Im Gespräch untereinander und mit den Angehörigen finden wir dann meist eine Lösung.» Manchmal sei aber das gesamte Team ratlos, weil nichts helfe. «Das Wichtigste ist dann, den Betroffenen und seine Gefühle ernst zu nehmen und mit ihm die Situation auszuhalten.»

Der Demenzforscher Florian Riese hat noch einen Tipp für pflegende Angehörige: «Wenn Sie merken, dass Sie immer mehr in die Situation hineingezogen und immer aufgeregter werden, gehen Sie in ein anderes Zimmer und lassen Ihren Liebsten einen Moment allein.» Einen Menschen mit Demenz zu pflegen, sei ein Marathon und kein Sprint. «Was Sie jetzt an Kraft verbrauchen – ohne dass es die Situation besser macht – fehlt Ihnen nachher zehnfach.»

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