Mittwoch, März 19

Stalking-Opfer machen regelmässig die Hölle durch, doch manchmal bleiben Täterinnen und Täter dennoch straflos. Jetzt will das Parlament das Strafgesetz verschärfen.

An einem kalten Januarabend vor drei Jahren rüstet sich ein 33-jähriger Schweizer in Bülach mit Teleskop, Feldstecher und zwei Thermosflaschen aus, klettert über die Absperrung einer Baustelle und versteckt sich hinter einem Bagger. Von seinem Versteck aus hat er freie Sicht auf die Wohnung seiner früheren Chefin, die sich in der gegenüberliegenden Liegenschaft befindet.

Noch am selben Abend wird der Mann von der Polizei entdeckt und weggeschickt. Doch weniger als eine Woche später sitzt er schon wieder dort. Dieses Mal entdeckt er die Polizei zuerst – und haut ab. Dennoch wird ein Verfahren eingeleitet. Obwohl der Mann schweigt, ist völlig klar, was er im Sinn hat: Er will seine frühere Vorgesetzte ausspionieren. Das ergibt sich aus einem früheren Strafverfahren: Ein Jahr zuvor wurde der Mann bereits einmal verurteilt, weil er dieselbe Frau gestalkt hatte.

Doch nun tut sich die Justiz schwer mit dem Verhalten des Mannes. Denn es ist grundsätzlich nicht verboten, ein Haus zu beobachten. Das Bezirksgericht verurteilt ihn zwar zunächst wegen Nötigung – einem jener Straftatbestände, die bei Stalking regelmässig zur Anwendung kommen. Doch die Verteidigung des Beschuldigten widerspricht. Weil die Frau vom Übergriff gar nichts bemerkt habe und von dem Mann auch nicht eingeschüchtert worden sei, sei sie nicht wirklich genötigt worden. Vor dem Obergericht bekommt er tatsächlich recht.

Schutzdispositiv ist lückenhaft

Der Gerichtsvorsitzende erklärte damals, der Fall zeige beispielhaft, weshalb die Schweiz dringend einen Stalking-Tatbestand brauche. Seit Jahren wird diese Forderung erhoben, bisher ohne Erfolg. Mehrere parlamentarische Vorstösse blieben chancenlos. Das Strafgesetzbuch biete genügend Möglichkeiten, gegen Stalker vorzugehen. Nicht zuletzt der Bundesrat war der Ansicht, das genüge. Zudem wurde vor zwei Jahren die Möglichkeit geschaffen, zivilrechtlich gegen Stalker vorzugehen, indem Rayon- und Kontaktverbote ausgesprochen werden.

Von aussen betrachtet, ist oft schwer nachvollziehbar, wie stark Stalking die Lebensqualität beeinflussen kann. Das Phänomen ist vielschichtig und kommt in ganz unterschiedlichen Formen vor. Es reicht von der unaufhörlichen Belästigung mit Mails und SMS über nächtliche Telefonanrufe und ständiges Auflauern bis hin zu falschen Beschuldigungen oder zur Veröffentlichung gefälschter Todesanzeigen oder Fotos. Nicht selten werden die Opfer mit Geschenken und Postsendungen belästigt. Und auch Drohungen und tätliche Angriffe kommen vor.

Zwar decken zahlreiche Straftatbestände viele solcher Übergriffe und Belästigungen schon heute ab. Fälle wie jener auf der Baustelle von Bülach zeigen jedoch, dass das Schutzdispositiv nicht lückenlos ist. Darauf weisen Praktikerinnen und Praktiker seit langem hin: Es fehle ein griffiger Spezialtatbestand, der dann anwendbar sei, wenn die konkreten Einzelhandlungen zwar als sozial adäquat (und damit straflos), aber in ihrer Gesamtheit strafwürdig seien, erklärte die Schweizerische Staatsanwälte-Konferenz im vergangenen Jahr.

Das Diffuse wird zur besonderen Bedrohung

Denn genau das ist das Problem: Viele Handlungen sind isoliert betrachtet unproblematisch – etwa das Versenden von Textnachrichten oder Geschenken. Eine Statistik der Stadt Bern bestätigt dies: In fast der Hälfte aller Fälle verstiessen die als Stalking identifizierbaren Handlungen nicht gegen das Strafgesetz, und die betroffenen Personen konnten keine Strafanzeige einreichen. Auch im Fall aus Bülach führte dieses Phänomen zu einem unbefriedigenden Ergebnis. Verurteilt wurde der Täter schliesslich wegen Hausfriedensbruchs auf der Baustelle – ein Delikt, das nur auf Antrag des Berechtigten verfolgt werden kann. Er erhielt eine Geldstrafe in Höhe von 1800 Franken.

Betroffene erleben Stalking als regelrechten Psychoterror. Manche getrauen sich nicht mehr in die Öffentlichkeit, kapseln sich aus lauter Angst vor dem nächsten Übergriff ab und erleiden seelische Höllenqualen. Das Diffuse, das Stalking-Übergriffe für die Justiz oft schwer fassbar macht, wird zur besonderen Bedrohung: Durch ihr Verhalten versuchen Täterinnen und Täter ihren Opfern das Sicherheitsempfinden gänzlich zu nehmen. Und auch dann, wenn gerade kein Belästigung stattfindet oder diese für sich betrachtet harmlos erscheint. Zudem rechnen Betroffene stets damit, dass die Lage eskaliert.

Nicht zuletzt haben verschiedene TV-Serien das Phänomen aufgriffen und zur Sensibilisierung beigetragen. Inzwischen hat auch in der Politik ein Umdenken stattgefunden. Vor zwei Wochen lenkte der Bundesrat ein und anerkannte, dass das Bedürfnis nach einem eigenständigen Tatbestand berechtigt ist. Hintergrund ist ein neuer Gesetzesentwurf der Rechtskommission des Nationalrates, der diese Woche behandelt wird. Alle Parteien bis auf die SVP sprechen sich dafür aus, das Strafrecht zu ergänzen. Auch die Rechtskommission im Ständerat hat ihre Zustimmung bereits signalisiert.

Mehraufwand für Strafverfolgungsbehörden befürchtet

Geplant ist ein neuer Tatbestand unter dem Titel «Nachstellung». Darin heisst es: «Wer jemanden beharrlich verfolgt, belästigt oder bedroht und ihn dadurch in seiner Lebensgestaltungsfreiheit beschränkt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.» Der Bundesrat möchte zusätzlich festschreiben, dass Nachstellung erst dann vorliegt, wenn das Opfer auf unzumutbare Weise eingeschränkt wird. So sollen geringfügige Handlungen von der Strafbarkeit ausgenommen und sichergestellt werden, dass die Polizei nicht schon bei gewöhnlichen Auseinandersetzungen auf den Plan gerufen wird.

Bei Sachverhalten, deren strafrechtliche Relevanz heute fraglich sei, könne die Strafnorm sonst nämlich als Einladung verstanden werden, Strafantrag zu stellen. Der Bundesrat rechnet mit einem «grossen Mehraufwand für die kantonalen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte» im Falle der Einführung der Strafnorm. Er spricht damit ein Problem an, das die Justiz seit Jahren beschäftigt: Die Schaffung immer neuer Strafbestimmungen trägt massgeblich zur Überlastung der Strafverfolgungsbehörden bei. Beim neuen Stalking-Artikel könnte die Zusatzlast erheblich sein, weil de facto jede einzelne Handlung, die zur Nachstellung beiträgt, nachgewiesen werden muss.

Trotz vielen guten Gründen für die neue Strafbestimmung dürfen davon keine Wunder erwartet werden. Ob sie eine Eskalationsspirale in einem frühen Stadium zu stoppen vermag, ist ebenso offen wie die Frage, ob der erhoffte Abschreckungseffekt wirklich eintritt. Manchmal sind zudem gar nicht ungenügende Strafbestimmungen das Hauptproblem, sondern überforderte Polizeibehörden, die die Not der Opfer nicht rechtzeitig erkennen – und sie deshalb mit ihrem Leid allein lassen.

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