Eine neue Empfehlung der deutschen Bundesärztekammer will den Einsatz von Hormontherapie bei unter 18-Jährigen einschränken. Ein Arzt und Psychiater erklärt im Gespräch mit der NZZ, was Deutschland beim Phänomen «trans» bisher übersehen hat.

Herr Korte, das Gremium der Bundesärztekammer hat deutliche Grenzen für den Einsatz von Pubertätsblockern bei Kindern gefordert. Überrascht Sie das?

Das ist tatsächlich überraschend, wenn auch eine erfreuliche Bestätigung meiner seit vielen Jahren in Deutschland gegen massive Widerstände formulierten Forderungen. Vor allem für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern ist es eine gute Nachricht, denn das biologische Geschlecht ist natürlich nicht frei wählbar. Medikamente zur Blockade der Pubertät sollen «nur im Rahmen kontrollierter wissenschaftlicher Studien» verabreicht werden. Im klinischen Alltag sehen wir eine immense Steigerung der Diagnose Geschlechtsdysphorie – das ist das, was der Laie als «transgender» versteht.

Liegt dieser Anstieg vielleicht daran, dass es mehr gesellschaftliche Akzeptanz gibt für verschiedene geschlechtliche Identitäten?

Heute sind die meisten Patienten weibliche Jugendliche. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen westlichen Ländern. Wäre allein Toleranz verantwortlich für die exponentielle Zunahme, müsste es auch deutlich mehr Transmänner über vierzig Jahre geben, doch das sehen wir Ärzte nicht. Die Selbstdiagnose «trans» ist überwiegend zum Zeitgeistphänomen geworden. Influencer auf Tiktok und Instagram werben geradezu dafür. Nemo, der «nonbinäre» Schweizer Gewinner des diesjährigen Eurovision Song Contest, wird den Hype noch verstärken. Ärzte und Psychologen sollten sich dem aber nicht unterwerfen. Hinter der Symptomatik Geschlechtsdysphorie stecken häufig ganz andere Probleme.

Welche Probleme sind das?

Das reicht von vorübergehenden pubertären Krisen über eine abgewehrte Homosexualität der Patienten bis hin zu Erkrankungen aus dem Autismus-Spektrum. Die Begründung für geschlechtsangleichende Massnahmen ist dann nur schwer herzuleiten.

Ist die Resolution der Ärztekammer für die Politik bindend?

Nein, aber ein starkes Signal. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die neue Leitlinie zur Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen jetzt noch vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie sowie von den anderen beteiligten Fachgesellschaften ohne gravierende Änderungen verabschiedet wird.

Die Behandlungsleitlinie soll auch in Österreich und der Schweiz gelten. Sie verfolgt einen affirmativen Ansatz. Jugendliche, die sich im falschen Körper fühlen, sollen gegebenenfalls von Ärzten in ihrer Wahrnehmung bestätigt werden. Altersgrenzen lehnen die Experten ab.

Das widerspricht dem gewöhnlichen Ansatz in der Psychotherapie. Damit wäre der Arzt nur noch eine Art Notar, der die Selbstdiagnose des Patienten entgegennimmt und bestärkt, statt auch andere Möglichkeiten zur Therapie aufzuzeigen. Beim Krankheitsbild Magersucht würde niemand in Erwägung ziehen, versuchsweise Appetitzügler zu verschreiben, um den Leidensdruck zu mildern. Es gibt verschiedene Formen der Geschlechtsdysphorie. Die Geschlechtsdysphorie vom transsexuellen Typus ist die einzige psychische Störung, bei der die Einleitung körperverändernde Massnahmen sinnvoll sein können – wenngleich der Beweis für den tatsächlichen Nutzen bisher nicht eindeutig erbracht wurde. Weil das so ist, kommen solche Massnahmen aus meiner Sicht grundsätzlich nur bei Erwachsenen infrage, deren Entwicklung abgeschlossen ist.

Der Kinder- und Jugendpsychiater Georg Romer hat die Leitlinie mitentwickelt. Er sagt, für Patienten mit Geschlechtsdysphorie sei Abwarten keine neutrale Option, da die Pubertät sich nicht zurückdrehen lasse. Ist da nicht etwas dran?

Pubertätsblocker sind keine «Pausentaste», das Narrativ ist falsch. Der affirmative Ansatz ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Einmal eingeschlagen, wird der «trans»-Weg fast immer bis zum Ende gegangen. 95 Prozent der einmal behandelten Kinder nehmen dann auch gegengeschlechtliche Hormone ein. Das bedeutet: Der Patient ist sehr wahrscheinlich im Erwachsenenalter unfruchtbar, nimmt erhebliche körperliche Strapazen auf sich, hat womöglich mit lebenslangen Nebenwirkungen zu rechnen. Diese sind übrigens nur wenig erforscht.

Wie sollten Ärzte und Therapeuten reagieren, wenn Leute sich im falschen Körper fühlen?

Jeder Patient und jede Patientin, vor allem aus der vulnerablen Altersgruppe von Kindern und Jugendlichen, braucht eine intensive psychiatrische und psychologische Untersuchung, Beratung und Begleitung, wenn es um den Wunsch nach Pubertätsblockade und anderen massiven medizinischen Eingriffen geht.

In einem freien Land sollte jeder selbst über seinen Körper entscheiden dürfen, oder?

Das gilt für Erwachsene, sofern sie anderen nicht schaden. Gerade weil die körperlichen und seelischen Folgen aber irreversibel und zu wenig erforscht sind, ist bei Kindern und Jugendlichen mehr Vorsicht geboten. Es gibt bis heute keine belastbare Evidenz, dass eine pubertätsblockierende und eine anschliessende Hormonbehandlung sich vorteilhaft auf das psychische Wohl auswirken. Dieser Erkenntnis, die im Ausland nicht zuletzt durch den Cass-Report (Kritischer Bericht der Kinderärztin Hilary Cass zur Behandlungspraxis in Grossbritannien, Anm. d. Red.) zum grossen Umdenken geführt hat, tragen die neuen Leitlinien nicht genügend Rechnung.

Wenn das so ist, warum gab es bis zum Deutschen Ärztetag so wenig Widerspruch aus der medizinischen Welt?

Wir hinken in Deutschland hinterher. Inzwischen haben aber 15 deutsche Hochschullehrer für Kinder- und Jugendpsychiatrie und nun auch die Bundesärztekammer widersprochen und fordern dringend Nachbesserung. Spät, aber nicht zu spät.

Er mahnt: «Du sollst nicht schaden»

Alexander Korte ist leitender Oberarzt an einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in München. Ausserdem ist er Sexualtherapeut. Er war mehrmals als medizinischer Sachverständiger für Fragen zum Selbstbestimmungsgesetz in verschiedenen Ausschüssen des Bundestags tätig, hat selbst Hunderte Patienten mit Geschlechtsdysphorie behandelt. Bereits im Jahr 2022 sagte Korte in der linken «Tageszeitung»: «Es ist hip, trans zu sein.» 

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