Mittwoch, Januar 15

In vielen europäischen Ländern bekommen transsexuelle Jugendliche Pubertätsblocker nur noch im Rahmen von Studien. Hierzulande setzen Mediziner die Medikamente weiterhin breit ein – es gibt jedoch Zweifel und Kritik an dieser Praxis.

Fühlen sich Kinder und Jugendliche unwohl mit dem ihnen zugewiesenen Geburtsgeschlecht, so leiden sie an Geschlechtsinkongruenz oder Geschlechtsdysphorie. Damit sie sich in Richtung ihres Wunschgeschlechts entwickeln können, ist der erste Schritt in der Behandlung die Verabreichung von sogenannten Pubertätsblockern, die die Geschlechtsreifung des Körpers stoppen.

Doch bei der Behandlungspraxis in Sachen Pubertätsblocker hat sich international ein Wandel vollzogen: In Grossbritannien hat der Nationale Gesundheitsdienst kürzlich die Verabreichung von Pubertätsblockern auf eine Therapie im Rahmen von wissenschaftlichen Studien beschränkt. Vor einigen Monaten hatten bereits Schweden, Finnland, Norwegen, Australien und die Niederlande die Verschreibung begrenzt.

Auch in Frankreich und in den USA steht die bisherige Praxis auf dem Prüfstand. Alle Gesundheitsdienste der verschiedenen Staaten geben als Grund die dünne Studienlage und die möglichen Risiken wie Unfruchtbarkeit oder Osteoporose an.

Und in der Schweiz und Deutschland? Deutschsprachige Mediziner haben am Mittwoch eine neue Leitlinie vorgestellt, die Empfehlungen für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz zusammenfasst.

In der Ärzteschaft tobt eine Debatte

Die Autoren der Leitlinie kommen zu einem anderen Ergebnis als die Gesundheitsdienste der erwähnten Staaten: Sie empfehlen unter bestimmten Voraussetzungen und bei passender Diagnose weiterhin Pubertätsblocker als Mittel der Wahl. Die Autoren betonen den hohen Konsens, der in Fachkreisen und unter den Autoren der Leitlinie bestehe. Tatsächlich tobt aber in der Ärzteschaft eine Debatte darüber, wie mit den besonders schutzbedürftigen Jugendlichen umzugehen ist, die sich in ihrem Geschlecht unwohl fühlen – denn deren Zahl hat international extrem zugenommen.

«Wir wissen, dass geschlechtsangleichende Massnahmen den jungen Menschen guttun, die geschlechtsdysphor bleiben. Nichtstun ist keine Option, denn das schadet ihnen», sagte Dagmar Pauli, eine Autorin der Leitlinie und stellvertretende Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich, an der offiziellen Pressekonferenz.

Doch die sogenannte Evidenzlage, also der Beweisgrad der wissenschaftlichen Studien, um die Aussagen der Leitlinien zu untermauern, ist weitgehend gering – das räumen die Autoren der Leitlinien selbst ein. Das ist auch an der Einstufung der Leitlinie zu sehen: Es ist eine S2k-Leitlinie, also nur die zweite Qualitätsstufe von vieren. Eine S2k-Leitlinie definiert sich dadurch, dass die Autoren formal einen Konsens gefunden haben. Von Kritikern werden solche Leitlinien manchmal als «Eminenzleitlinien» bezeichnet, weil hier Fachpersonen nur ihre Meinungen und Erfahrungen miteinander abglichen – eine seriöse wissenschaftliche Untermauerung fehle weitgehend.

«Pubertätsblocker aus der Sorge heraus zu verweigern, dass diese Nebenwirkungen machen, ist medizinisch und ethisch unangemessen», erklärt Claudia Wiesemann. Die Medizinethikerin ist ebenfalls Autorin der Leitlinie. «Menschen, die sich mit einer Transidentität vorstellen, sind in einer derartigen Krise, dass wir ihnen mit Pubertätsblockern Zeit und einen Entwicklungsraum schaffen, damit sie zu einer reflektierten Entscheidung kommen können.» Sie argumentiert, Sorgen bezüglich der Nebenwirkungen von Pubertätsblockern seien im Vergleich zu der Krisensituation durch die Geschlechtsdysphorie unerheblich.

Unfruchtbarkeit durch Pubertätsblocker

«Diese Aussage sehe ich kritisch», sagt Tobias Banaschewski, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters in Mannheim. Er ist kein Autor der Leitlinie. «Wenn ich die körperliche und psychosexuelle Entwicklung einer 12-Jährigen stoppe, dabei aber alle ihre Schulfreunde sich zu 14-, 15-, 16-Jährigen entwickeln, bringe ich die Jugendliche nicht in eine neutralere Ausgangssituation, damit sie eine bessere Entscheidung treffen kann. Damit kann ich im Gegenteil wieder ganz neue seelische Zwangslagen erzeugen.» Das Argument des «Zeitkaufens» hält Banaschewski für nicht sinnvoll.

Nicht wegzudiskutieren seien ausserdem die möglichen Risiken und Nebenwirkungen der Pubertätsblocker: allen voran Unfruchtbarkeit, eine geringere Knochendichte und Osteoporose, ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und eine erhöhte Tumorneigung. Allerdings sind auch diese Risiken weder zweifelsfrei bestätigt noch widerlegt.

«Es gibt einfach nicht genug Evidenz, weder in Bezug auf die Risiken der Medikamente noch auf den Nutzen, deshalb brauchen wir mehr und bessere Studien – auch, um Kinder vor nicht wieder zu korrigierenden Eingriffen zu schützen», sagt Banaschewski. Bis dahin sei seiner Ansicht nach grosse Vorsicht angezeigt.

Eine recht neue Erkenntnis ist die Tatsache, dass es noch nicht einmal Hinweise auf einen eindeutigen Nutzen der Pubertätsblocker gibt. Ein Studien-Review des angesehenen britischen Nice (National Institute for Health and Care Excellence), das im Jahr 2021 veröffentlicht wurde, zeigte ein ernüchterndes Ergebnis: Ein Einfluss auf die Lebensqualität und die Geschlechtsinkongruenz war nicht erkennbar, noch nicht einmal der am häufigsten als Argument verwendete positive Effekt – die Reduktion der Suizidalität der Betroffenen – konnte bestätigt werden.

Das Risiken-Nutzen-Verhältnis ist fraglich

«Ich habe schon länger sehr grosse Bedenken, und diese Nice-Übersichtsarbeit hat mich zusätzlich sehr nachdenklich gemacht», sagt Florian Zepf. Der Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Jena war knapp zwei Jahre lang Teil der Leitlinienkommission und hat sie auf eigenen Wunsch verlassen.

Als Grund nennt er: «Ich konnte das nicht mit meiner Berufsauffassung und meinem Verständnis von Kinder- und Jugendschutz vereinbaren. Ich habe schon sehr früh moniert, dass dies keine höherwertige S3-Leitlinie ist, sondern nur eine S2k-Leitlinie, was jetzt zuletzt auch angepasst wurde. Und wenn ich ein Kind oder einen Jugendlichen behandle, muss ich sicher sein, dass die erwartete Wirkung auch eintreten kann und dass ich sicher nicht schade – oder dass zumindest das Risiken-Nutzen-Verhältnis stimmt.»

Diese Voraussetzungen sieht Zepf bei der Therapie mit Pubertätsblockern nicht gegeben. «In Fachkreisen ist das Thema extrem kontrovers, das Meinungsbild meiner Kolleginnen ist sehr unterschiedlich», berichtet er. Damit widerspricht er Dagmar Pauli und den Autoren der Leitlinie, die betonen, wie hoch der Konsens in der Fachwelt sei.

Die Folgen bestehen lebenslang

Zepf hat vor allem ein ethisches Problem: «Entscheidend ist für mich, dass die Kinder und Jugendlichen ein informiertes Einverständnis geben sollen. Aber wenn ich ihnen selbst gar nicht sagen kann, ob Pubertätsblocker und Hormone wirklich dazu führen, dass sich die psychische Gesundheit bessert, dabei aber die Risiken erheblich sind – wie kann ein 12-Jähriger die Folgen für sein gesamtes Leben überblicken, wenn diese Fragen selbst in Fachkreisen kontrovers diskutiert werden?»

Besonders dramatisch findet Zepf diese Situation in Bezug auf die Fruchtbarkeit: «Nach einer Behandlung mit Pubertätsblockern und Cross-Sex-Hormonen sind die Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit unfruchtbar.»

Die Autoren der Leitlinie bekräftigen, wie wichtig eine individuelle und umfassende Beratung der Jugendlichen hinsichtlich der Folgen ihrer Entscheidungen sei. Claudia Wiesemann betonte: «Wir müssen unserer Fürsorgepflicht genügen, Kinder und Jugendliche vor Schaden an Körper und Seele zu schützen. Aber auch Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Selbstbestimmung, die Urteilsfähigkeit beginnt nicht erst mit 18 Jahren. Wir können uns nicht einfach über die Wünsche von Kindern hinwegsetzen.»

Doch hinsichtlich einer adäquaten Beratung sieht Zepf ein Problem: «Wir haben gar keine Mindeststandards, wie die altersgerechte Fertilitätsberatung beispielsweise einer 13-Jährigen in der Krise aussehen soll – ein fast unüberblickbares und schwieriges Thema für ein Kind in diesem Alter.» Damit beispielsweise Mädchen, die Jungen werden wollen, später noch Kinder bekommen können, müssen sie sich einer Hormonbehandlung unterziehen und ihre Eizellen einfrieren lassen.

Achim Wüsthof, ein weiterer Autor der Leitlinie, sagte am Ende der Pressekonferenz: «Wir müssen sorgfältig abwägen. Aber es gibt auch ein Recht auf Irrtum.»

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