Mittwoch, Oktober 23

Riccardo Chailly und das Lucerne Festival Orchestra besuchen auf ihrer Europatournee die beiden bedeutendsten neuen Konzerthäuser, die Philharmonie de Paris und die Elbphilharmonie. Das Debüt in Hamburg scheitert beinahe wegen eines Flugzeugschadens.

Irgendwann in der siebten Stunde reicht es der Oboengruppe. Die drei Musiker haben genug vom Warten und packen ihre Instrumente aus. Mitten im betriebsamen Pariser Flughafen Charles de Gaulle. Dort schlägt man nun schon seit acht Uhr in der Früh die Zeit tot, gemeinsam mit rund hundert Kolleginnen und Kollegen aus dem Lucerne Festival Orchestra (LFO). Triebwerksschaden, so lautete die Ansage am Morgen, kurz vor dem geplanten Abflug nach Hamburg.

Ob sich noch rechtzeitig eine Ersatzmaschine finden wird, ist zu dem Zeitpunkt ungewiss, das für den Abend vorgesehene Konzert in der Elbphilharmonie steht auf der Kippe. Es wird auch fast bis zur letzten Minute spannend bleiben. Immerhin ist der zweite Auftrittsort auf dieser Europatournee des LFO rund 750 Kilometer Luftlinie entfernt. Und in gerade einmal vier Stunden soll Riccardo Chailly, der LFO-Chefdirigent, an der Elbe vor ausverkauftem Haus den Taktstock heben. Am Abflugschalter in Paris wird vorerst jedoch immer noch mit roten Köpfen und zunehmend fatalistischem Gesichtsausdruck telefoniert.

Manche Musiker entwickeln in solchen Situationen besondere Kräfte: Sie besinnen sich auf ihre Profession und setzen dem Fatalismus die beruhigende Wirkung schöner Töne entgegen – und sei es inmitten eines Flughafens. Die Macht der Musik wirkt auch hier: Als Lucas Navarro, Dina Heidinger und Miriam Pastor Burgos das Adagio aus Beethovens Trio für zwei Oboen und Englischhorn op. 87 anstimmen, wird es ganz rasch still in dem unwirtlichen Terminal – alles lauscht, sogar etliche gestresste Touristen bleiben stehen und zücken hingerissen ihre Smartphones. Der magische Moment, das spürt man unerhört stark in diesem Augenblick, gibt allen Kraft und beruhigt die Nerven. Die Mitglieder des LFO und das begleitende Team vom Lucerne Festival können die kleine Seelenmassage gut gebrauchen.

«Zum Glück sind das Profis»

Als das Orchester schliesslich doch noch – nach harter Landung des Ersatzfliegers und rasantem Transfer quer durch Hamburg – die Elbphilharmonie betritt, sind es kaum mehr fünfzig Minuten bis zum Konzertbeginn. In den Foyers und auf der Plaza, der Aussichtsplattform inmitten des schmucken Konzerthauses von Herzog und de Meuron, tummelt sich bereits das Publikum. Es ahnt nichts von dem Drama, das sich hinter den Kulissen angebahnt hat. «Zum Glück sind das alles Profis», sagt Michael Haefliger, der Festivalintendant, mit demonstrativer Gelassenheit. Die eigentlich nötige Einspielprobe im ungewohnten Saal wird mangels Zeit gestrichen.

Das ist ein Wagnis, denn das LFO gibt an diesem Abend sein Debüt in der «Elphi» (wie der Volksmund das Haus eingemeindet hat). Sie wird für ihre besondere Akustik gerühmt, aber auch ein wenig gefürchtet. Der kristalline, analytisch transparente Klang des Grossen Saals verzeiht nämlich nichts und bringt selbst kleinste Unsicherheiten schonungslos ans Licht. Das bedeutet eine zusätzliche Bewährungsprobe, zu all den anderen Umständen – die Musiker sind an diesem Tag wirklich nicht zu beneiden. Allerdings kennt Riccardo Chailly den Saal gut von Auftritten mit anderen Ensembles, er schätzt die «beautiful hall», wie er sagt. Auch viele der Musiker, die sich jeweils ad hoc zu den Konzertprojekten des LFO zusammenfinden, sind hier seit der Eröffnung 2017 bereits aufgetreten.

Vielleicht braucht es deshalb am Sonntagabend nur wenige Minuten, bis sich Dirigent und Orchester an die akustischen Gegebenheiten angepasst haben. Es ist faszinierend, zu hören, wie schnell und subtil das sonst im KKL Luzern beheimatete Ensemble auf den Saal reagiert: indem es nicht nur dynamische Härten im Tutti umgehend abmildert, sondern auch die Vorzüge des Raums spielerisch für sich zu nutzen beginnt, etwa die herrlich satten Bassresonanzen oder die aussergewöhnliche Plastizität der einzelnen Instrumentengruppen. Dem schwerblütigen Ton des Violinkonzerts von Jean Sibelius kommt das sehr zugute. Gleichzeitig tritt der Solist, Daniel Lozakovich, fast mühelos aus den hoch aufbrandenden Klangwogen der Orchesterbegleitung hervor.

In der Philharmonie de Paris, wo man tags zuvor mit dem gleichen Programm aufgetreten war, klang dies noch ganz anders. Unter den zahlreichen Konzerthäusern, die in Europa und Asien während der 2010er Jahre bis zum Ausbruch der Pandemie errichtet wurden, ist die Philharmonie fraglos der spektakulärste Neubau neben der Elbphilharmonie. Wie einst das Luzerner Kultur- und Kongresszentrum wurde sie von dem Architekten Jean Nouvel entworfen, und nach einigen Querelen um bauliche Details – eine weitere Parallele zum KKL – ist das Haus in der Pariser Peripherie zu dem erhofften Hotspot im Kulturleben der Stadt geworden.

Wer allerdings vom KKL auf den Klang der Philharmonie schliesst, wird überrascht: Der Saal klingt erheblich satter und üppiger, um nicht zu sagen: blumiger. Er umhüllt die Besucher, schliesst sie manchmal regelrecht in Klangwolken ein. Auf diese Weise bringt er die Musik durch Fülle zum Leuchten, nicht durch lichte Transparenz wie die Elbphilharmonie. Entsprechend hat Daniel Lozakovich aber auch mehr zu kämpfen, er muss in Paris dynamisch mehr Druck machen, um durchzudringen.

Im Ganzen wirkt hier der Klang geschlossener und steht damit dem traditionellen Mischklang-Ideal der Romantik näher als das offene, deutlich moderner konzipierte Klangbild in Hamburg. Die dort anfangs bemängelte Kühle und Überpräzision hat sich unterdessen gegeben, weil sich die tieferen Frequenzen – wie vom Akustiker Yasuhisa Toyota vorhergesagt – unter anderem durch die Austrocknung des Holzbodens inzwischen spürbar besser im Raum ausbreiten. Im Bassbereich ist die Elbphilharmonie ihrer dort etwas resonanzarmen Pariser Schwester klar überlegen. In den mittleren und hohen Frequenzbereichen dagegen verfolgen die beiden Säle – so anschaulich hört man das selten – grundverschiedene, aber jeweils in sich stimmige Konzepte.

Jetzt erst recht

Wie die LFO-Musiker stellt sich auch Daniel Lozakovich rasch auf die unterschiedlichen Bedingungen ein. In Paris kehrt der schwedische Geiger, der mit gerade 23 Jahren bereits vor dem Sprung an die Weltspitze steht, die sinnlichen und schwelgerischen Seiten des Sibelius-Konzerts hervor; in Hamburg setzt er mehr auf virtuose Brillanz. Dass er dabei auch am zweiten Abend die Nerven und weitgehend auch seine technische Souveränität behält, nötigt Bewunderung ab – schliesslich hat auch er zuvor neun Stunden lang mit seiner Stradivari am Flughafen herumgesessen. Beim erlösenden Einstieg ins Flugzeug tauscht er sich denn auch nicht zufällig mit Chailly über Entspannungstechniken aus. Von dieser Seite des Musikerberufs erfährt das Publikum sonst in der Regel ebenfalls wenig.

Auch viele andere Musiker des LFO kapseln sich mithilfe von Noise-Cancelling-Kopfhörern immer wieder für längere Zeit von der lauten Umgebung ab, manche meditieren, andere studieren ihre Noten. Die Sorge gilt dabei vor allem dem mentalen Gleichgewicht, das erst zur notwendigen höchsten Konzentration beim Konzert am Abend befähigt. Bei Chailly scheint irgendetwas geholfen zu haben: Er ist nach aussen die Ruhe selbst, aber es ist eine Ruhe, berstend vor innerer Energie. Denn der erfahrene Dirigent weiss, dass seine Rolle beim Hamburger Konzert in erster Linie die des Motivators sein wird, der die Spannung aufrechterhalten und Sicherheit vermitteln muss in dem ungewohnten Saal.

Bei Sergei Rachmaninows «Sinfonischen Tänzen», dem zweiten Werk des Tourneeprogramms, legt Chailly tatsächlich eine Expressivität in seine sonst so elegant-sublimierte Gestik, die unmittelbar überspringt. Aber auch das LFO spielt über weite Strecken mit einer «Jetzt erst recht!»-Dynamik, wie sie sich nur in solchen Ausnahmesituationen entwickelt. Verglichen mit den Aufführungen desselben Stücks in Paris und zuvor am Festival in Luzern, klingt die Musik rauer, grimmiger, auch etwas weniger poliert. Aber es ist die Hamburger Aufführung, die am meisten über den vertrauensvollen künstlerischen Austausch erzählt, der zwischen dem Dirigenten und dem Orchester gerade in jüngster Zeit nochmals an Intensität gewonnen hat.

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