Sonntag, November 24

Wie bereits zahlreiche andere Medien schreiben nun auch «Die Zeit» und «Der Spiegel» die ukrainische Hauptstadt neu Kyjiw. Sie unterstützen damit ukrainische Bemühungen, die sprachliche Eigenständigkeit gegenüber Moskau zu behaupten.

Kiew ist die Mutter aller russischen Städte. So weit ist man sich in der Ukraine und in Russland einig. Über die praktischen Konsequenzen dieser Aussage gehen die Meinungen allerdings weit auseinander. Putin zitierte den berühmten Satz aus der frühmittelalterlichen Nestorchronik 2021 in seinem geschichtsklitternden Aufsatz «Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer» und zog daraus ein Jahr später den Schluss, russische Panzer in Richtung der ukrainischen Hauptstadt rollen zu lassen.

In der Ukraine war man bereits früher darauf bedacht, Kiew gerade nicht als russische Stadt, sondern als Hauptstadt des ersten ostslawischen Staatsgebildes, der Rus, zu positionieren. Bereits 1995 beschloss die ukrainische Regierung, den Namen der Hauptstadt auf Englisch nicht mehr Kiev, sondern Kyiv zu schreiben. 2012 wurde diese Schreibweise auch von der Uno-Konferenz für die Standardisierung von geografischen Namen übernommen.

Fünf Zentimeter in der Mundhöhle

Allerdings zeigte erst die Online-Kampagne #KyivNotKiev des ukrainischen Aussenministeriums Wirkung. Innerhalb kurzer Zeit wechselten im Jahr 2019 die Medienkanäle Reuters, CNN, BBC, al-Jazeera, «Daily Mail», «The Washington Post», «The New York Times», «The Guardian», «The Wall Street Journal» und Euronews zur neuen Schreibweise. Das Auswärtige Amt in Berlin schreibt seit dem offenen russischen Überfall auf die Ukraine Kyjiw.

Nun haben auch wichtige deutsche Medien wie «Die Zeit» und «Der Spiegel» auf diese Schreibweise umgestellt. Beide Redaktionen begründen ihre Entscheidung damit, dass der Kreml seinen Krieg auch mit der Sprache führe. Die neue Schreibweise unterstreiche die Existenzberechtigung des ukrainischen Staates mit seiner Staatssprache Ukrainisch.

So gross, wie die Änderung auf den ersten Blick erscheint, ist sie gar nicht. Anders als man denken könnte, liegt der entscheidende Unterschied zwischen der russischen und der ukrainischen Aussprache nicht im «e» in der zweiten Silbe, sondern im anlautenden «K». Auch auf Russisch wird das unbetonte «e» zu einem gesprochenen «i» reduziert. Im Ukrainischen wird das anlautende «K» im Rachen artikuliert, im Russischen vor dem Gaumen. Es geht also um fünf Zentimeter in der Mundhöhle.

Der Wechsel in der internationalen Schreibweise der ukrainischen Hauptstadt muss als Teil der tektonischen Verschiebung von Nationskonzepten gesehen werden. Die sowjetische Kontinentalplatte stösst in der Ukraine auf den östlichen Ausläufer eines modernen europäischen Staatsverständnisses, in dem politische Entscheidungen nicht auf einen angeblich im Diktator verkörperten allgemeinen Volkswillen zurückgehen, sondern in einem offenen demokratischen Prozess ausgehandelt werden.

Paradoxe Wirkung

Putins Russland ragt als verkalkter Anachronismus ins dynamische 21. Jahrhundert hinein. Da nützt es auch nichts, dass der russische Despot 2020 die angeblich «tausendjährige Geschichte» Russlands in die Verfassung schreiben liess. Er jongliert hier mit einer «translatio imperii», die von der Kiewer Rus über das Moskauer Fürstentum, das St. Petersburger Zarenreich und die Sowjetunion bis zur Russischen Föderation reichen soll.

Putin wird sich damit abfinden müssen, dass es auch für Russland Zeit ist, sich vom Reichsgedanken zu verabschieden. Durch seine blindwütige Aggression hat er paradoxerweise wie kein anderer das ukrainische Nationalprojekt gefördert. Dass Kiew nun im Ausland immer öfter Kyjiw heisst, ist nur einer der vielen Aspekte der internationalen Anerkennung einer autonomen Ukraine.

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