Der konservative amerikanische Fernsehmoderator hat Moskau in Aufregung versetzt und hohe Erwartungen zu wecken versucht. Das Interview mit dem russischen Präsidenten sagt aber fast mehr über den Interviewer als über den Befragten aus.

Ein Amerikaner in Moskau in Zeiten des Krieges – und die russische Propaganda dreht durch. Die Ankunft des amerikanischen Fernsehmoderators Tucker Carlson in Russland ist von den staatlich kontrollierten Medien und von ihrer eifrigen Gefolgschaft zu einem Ereignis ersten Ranges stilisiert worden. Tagelang verfolgten Reporter praktisch jeden Schritt des Mannes, der ein euphorischer Unterstützer Donald Trumps und ein ebenso eingefleischter Gegner Joe Bidens und der Demokraten in den USA ist.

Telegram-Kanäle überschlugen sich mit Meldungen und Einschätzungen. Diese groteske Überhöhung zeigte nebenbei auch, wie Amerika-fixiert die Russen trotz ihrem ganzen Hass «Uncle Sam» gegenüber nach wie vor sind – stets auf der Suche nach Anerkennung vom Rivalen.

Putin holt weit aus

Es interessierte sie weniger Carlsons ehrfürchtiges Lob für das Moskauer Stadtleben als die Frage, ob und wann er Präsident Wladimir Putin interviewen würde. Die Ankündigung am Dienstagabend versetzte nicht nur die russischen Propagandisten in Verzückung, sondern auch ihre Gesinnungsgenossen im Westen. Dieses Interview, da waren sie sich schon Tage vorher sicher, würde ein Jahrhundertereignis werden und dem verhassten Biden und dem Kriegsgegner Ukraine einen Schlag versetzen – zugunsten Trumps.

Das gut zweistündige Interview, das Carlson in der Nacht auf Freitag europäischer Zeit veröffentlichte, vermag diesen überhöhten Erwartungen kaum zu entsprechen. Kaum etwas, was Putin darin sagt, hat er nicht schon bei früheren Gelegenheiten ausgeführt. Wer sich die Mühe machte, Putins Reden und Schriften zu studieren, und die Berichterstattung darüber kennt, erfährt nichts Neues.

Carlson selbst scheint das nicht getan zu haben. Für ihn beginnt der «Konflikt in der Ukraine» am 24. Februar 2022, und er scheint über die langen historischen Exkurse, die Putin als Antwort auf die Frage gibt, warum es zum Angriff gekommen sei, verwundert, ja zwischendurch enerviert zu sein. So sehr, dass er dem Interview eine kurze Einführung voranstellt, in der er dieser Verwunderung Ausdruck gibt. Von Putins Rolle als Hobbyhistoriker scheint er nichts zu wissen.

Insgesamt besteht mehr als die Hälfte des Interviews aus historischen Exkursen – einem fast halbstündigen von der Gründung der Rus bis zum Zerfall der Sowjetunion und zum Maidan 2014, der das Verhältnis Russlands zur Ukraine erklären soll, und einem nicht minder ausführlichen, der beschreibt, welche Fehler der Westen aus Putins Sicht seit 1991 gemacht hat. Putins altbekannte Überzeugung, die Ukraine gebe es eigentlich nicht und ihr Territorium sei historisch russisches Gebiet, zieht sich durch das ganze Gespräch. Es handle sich eigentlich um einen Bürgerkrieg.

Carlson fungiert dabei mehrheitlich als nicht besonders gut informierter Stichwortgeber, der häufig Putins Sicht zustimmt, etwa bei der Frage der Nato-Erweiterung. Der Kremlchef stellt sich als einer dar, der seit seiner Amtsübernahme jahrelang versuchte, Russland an den Westen heranzuführen, aber stets von den USA abgewiesen wurde. Das habe auch mit den nach dem Ende des Kalten Krieges überschüssigen amerikanischen Sowjetunion-Spezialisten zu tun gehabt, die weiterhin Russland an den Kragen wollten, sagt er an einer Stelle des Interviews.

Der Kreml will Frieden – aber die anderen nicht

Länger halten sich die beiden auch bei der Frage auf, wie der Krieg in der Ukraine zu einem Ende gebracht werden könnte. Bevor der Krieg beendet werden könne, müsse die Bedrohung durch eine Nato-Mitgliedschaft ausgeräumt und der «ukrainische Nazismus» verboten werden – als Teil eines Friedensvertrags, meint Putin. Widersprüchlich beantwortet Putin die Frage, ob der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in der Lage sei, selbst zu entscheiden, mit Russland den Faden wieder aufzunehmen. Einmal sagt er, das sei schwer zu sagen, aber warum nicht? Zum Schluss des Interviews beharrt er darauf, dass die Ukraine ein Satellit der USA sei und das gesetzliche Verbot, mit der russischen Führung zu verhandeln, ohne die Ansage aus Washington unvorstellbar sei.

Dass er den Schlüssel in den USA sieht, macht er schon davor deutlich. In einem Gespräch mit Präsident Joe Biden sieht er zwar wenig Sinn. Aber er giesst Öl ins Feuer der innenpolitischen Diskussion in den USA, wenn er fragt, was denn die Amerikaner in der Ukraine verloren hätten, wofür sie so viel Geld dort ausgäben – ob sie denn nichts Besseres zu tun hätten? Das Einfachste wäre es aus Putins Sicht, die Amerikaner würden die Waffenlieferungen einstellen; dann wären die Kampfhandlungen in wenigen Wochen zu Ende, und es könnten Friedensverhandlungen beginnen.

Mit ausführlicheren Einlassungen über die amerikanische Innenpolitik hielt Putin sich zurück. Auch waren von ihm keine neuen Drohgebärden zu vernehmen – im Gegenteil: Die Heraufbeschwörung einer atomaren Bedrohung durch Russland im Westen habe keine Grundlage und diene nur der Einschüchterung der eigenen, westlichen Bevölkerung. Auch die Furcht vor einem russischen Angriff auf Nato-Staaten – Polen, Lettland – sei völlig unbegründet. Kein vernünftiger Mensch würde einen Weltkrieg heraufbeschwören wollen.

Verzerrte Wahrnehmungen

Carlson hatte die Entscheidung, Putin zu befragen, mit der Einseitigkeit der englischsprachigen Berichterstattung über Russland, die Ukraine und den Krieg begründet und behauptet, Putin werde im Westen im Unterschied zu Selenski keine Gelegenheit gegeben, sich zu erklären. Kein westliches Medium habe um ein Gespräch mit Putin ersucht. Das Interview werde erstmals die Möglichkeit bieten, Putins Sicht auf die Ukraine und den Krieg zu hören. Russische und westliche Verächter der angeblichen «Mainstream-Medien» stimmten dem zu und prophezeiten einen Wendepunkt in der westlichen Wahrnehmung Russlands und des Krieges.

Selbst Putins Sprecher Dmitri Peskow musste Carlson jedoch korrigieren: Anfragen westlicher Medien für Interviews kämen in grosser Zahl. Aber da deren Standpunkt derart voreingenommen sei, bestehe weder Lust, darauf einzugehen, noch ergebe es für Putin Sinn. Allein der Wirbel um Carlsons Reise nach Moskau und die Bedeutung, die seinem Interview beigemessen wird, dürften den Kreml bestätigen. Darlegen zu können, was Russlands Sichtweisen sind, ist das eine. Das andere – und wohl wichtigere – Ziel war es, mit dem Interview Einfluss auf die amerikanische Innenpolitik zu nehmen, Trump und die Republikaner zu stärken in ihrem Ansinnen, Bidens Politik zu torpedieren.

Das Schicksal des Journalisten Gershkovich

Abgesehen davon entspricht die Behauptung, Putins Sicht werde im Westen nicht vermittelt und sei der Öffentlichkeit unbekannt, keinerlei Tatsachen. Alle westlichen Medien berichten stets ausführlich über Putins Auftritte und Reden und geben wieder, wie er die «Spezialoperation» begründet und wie er die Lage beurteilt. In diesem Sinne bringt das Interview auch überhaupt nichts Neues. Die westlichen Journalisten, die nach wie vor aus Russland berichten, versuchen darüber hinaus, auf vielfältige Weise die Realität im Land darzustellen.

Vielmehr ist die Relativierung der skrupellosen Unterdrückung der Freiheitsrechte durch vorgebliche westliche «Freiheitskämpfer» wie Carlson und seine Anhänger so verblüffend wie verlogen. Die westlichen Regierungen würden gewiss versuchen, sein Interview zu zensieren und dessen Verbreitung zu verhindern, raunte Carlson in seiner Ankündigung vom Dienstagabend, weil sie Angst vor allem hätten, was sie nicht selbst kontrollierten. Das klingt wie eine Beschreibung der russischen Verhältnisse – mit dem Unterschied, dass Carlson diese offenbar nicht sehen will und umgekehrt die Situation in Europa und Amerika völlig verzerrt.

Besonders fassungslos macht das diejenigen, die die Repression am eigenen Leib erfahren. Die Nachrichtenchefin des ins Exil gedrängten privaten russischen Fernsehsenders Doschd (TV Rain), Jekaterina Kotrikadse, zeigte sich in einem Kommentar auf ihrem Youtube-Kanal angewidert und empört von dem roten Teppich, der dem amerikanischen Propagandisten ausgelegt werde, während russische regimekritische Journalisten wie sie selbst bei einer Rückkehr in ihre Heimat mit dem Verlust der Freiheit zu rechnen hätten.

Sie erinnerte auch an das Schicksal des amerikanischen «Wall Street Journal»-Korrespondenten Evan Gershkovich, der seit zehn Monaten unter dem Vorwand der Spionage in russischer Untersuchungshaft sitzt. Immerhin stellt Carlson ganz zum Schluss des Interviews mit Putin die Frage nach Gershkovichs Schicksal und beharrt darauf, dass dieser Journalist sei, nicht Spion. Er bat Putin sogar darum, Gershkovich als Geste des guten Willens Carlson mitzugeben. Der russische Präsident lässt durchblicken, dass er für eine Freilassung den in Berlin für den Mord am Georgier Selimchan Changoschwili einsitzenden mutmasslichen Geheimdienstmitarbeiter Wadim Krasikow, den er einen «Patrioten» nennt, als Gegenleistung sieht.

Ein zweiter Feuchtwanger?

Tucker Carlson ist in gewissem Sinne das amerikanische Pendant zu russischen Propagandisten wie Wladimir Solowjow. Das macht ihn für diese und deren Zuschauer so anziehend. Kein anderer amerikanischer «Journalist» ist so bekannt und wird so bewundert in Russland wie Carlson, der ständig in den einschlägigen russischen Talkshows als eine Art Held gefeiert wird. Er stelle sich als Einziger gegen das System und trete für die Wahrheit ein – diesen Tenor bekamen Journalisten der staatlichen russischen Agentur Sputnik bei einer Strassenumfrage in Moskau zu hören.

Diese Russen sind paradoxerweise voller Ehrfurcht für einen, der in Amerika als Häretiker gilt und also in einer Position ist, wie sie in Russland sofort zum Ausschluss vom Bildschirm und womöglich zur Strafverfolgung führen würde. Die Inkonsistenz, dass einem Amerikaner derart gehuldigt wird, wo doch die Propaganda sonst den Ukrainern und Europäern vorwirft, sich Amerikas Einfluss zu ergeben, fiel sogar Andrei Medwedew, einem Journalisten des Staatsfernsehens und Moskauer Stadtparlamentarier, auf.

Manche Beobachter zogen in den vergangenen Tagen einen Vergleich zum Besuch des von den Nationalsozialisten verfolgten deutschen Schriftstellers Lion Feuchtwanger 1937 – auf dem Höhepunkt des Grossen Terrors – in Moskau. Feuchtwanger traf unter anderem den sowjetischen Diktator Josef Stalin zum Gespräch und veröffentlichte nach seiner Rückkehr in sein südfranzösisches Exil einen hymnischen Text über seine Reise. Dieser galt jahrzehntelang als Beispiel der Verblendung. Die jüngere Forschung dazu relativierte das Bild nach der Sichtung seiner Moskauer Tagebuchnotizen und der Protokolle seiner Übersetzerin: Feuchtwanger habe die düsteren Seiten sehr wohl wahrgenommen und mit sich gerungen.

Bei Tucker Carlson ist bis jetzt nur eines klar: Der riesige Rummel um sein Putin-Interview war kaum gerechtfertigt. Nichts, was Putin sagt, geht über das hinaus, was lange schon aus seinen Reden und Schriften bekannt war.

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