Dienstag, Oktober 1

Finnland darf auf den teilautonomen Ålandinseln kein Militär stationieren. Wegen der russischen Bedrohung regt sich aber Widerstand gegen ein über 100 Jahre altes Verbot, das ausgerechnet Moskaus Diplomaten überwachen.

Putins Mann im finnischen Aussenposten Mariehamn hat keine Wahl: Blickt der Konsul strassenseitig aus dem Fenster, sieht er unweigerlich auf den «Platz der Ukraine». Im Wind flattert dort die gelb-blaue Flagge des überfallenen Landes.

Bewohnerinnen und Bewohner des Hauptortes der Ålandinseln haben aus Protest gegen die Invasion eine Fahnenstange vor das russische Konsulat transportiert und die ukrainische Flagge gehisst. Der Platz heisst neuerdings «Ukrainaplatsen». Die Inselregierung hat den Wunsch einer Bürgerinitiative, die Kreuzung vor dem schlichten braunen Holzhaus umzubenennen, genehmigt. Auch die Bushaltestelle erhielt offiziell den neuen Namen.

Nicht nur visuell hat die Ukraine im Hauptort der Ålandinseln einen starken Auftritt. «Ukraine! Ukraine! Ukraine! Ukraine! Ukraine!», schreit ein Grüppchen vor dem Konsulat. Jeden Tag um 17 Uhr nachmittags, fünf Mal. Unkraut überwuchert die Treppe des Haupteingangs, als würde er nur selten benutzt. Ein Protestteilnehmer erzählt, der Diplomat nehme meist die Seitentüre. Seit Kriegsausbruch wird der Hausherr aber nur mehr selten im Städtchen gesichtet. Ein spitzer Eisenzaun umschliesst das Konsulatsgelände, im Garten stehen ein leerer Bootsanhänger und eine Fahnenstange mit russischer Flagge.

Es sind vor allem ältere Semester, die hier täglich zu dem kurzen, aber lauten Protest zusammenkommen. Er verläuft immer nach demselben Ritual: Auf den Ukraine-Ruf folgt eine Schweigeminute für die Kriegsopfer. Danach singen sie die Europahymne mit abgeändertem Text: «Freiheit und Unabhängigkeit hält uns zusammen.» Abschliessend ertönt aus voller Kehle der Slogan «Putin nach Den Haag!».

Mosse Wallen, ein pensionierter Journalist und Stammgast des 17-Uhr-Protests, führt Buch. «Heute, am 866. Tag der Invasion, demonstrierten 37 Personen». Das ist eine beachtliche Zahl in einer Kleinstadt mit rund 12 000 Bewohnern. Und noch beachtlicher: Seit dem 24. Februar 2022, als Russland über seinen Nachbarn hergefallen sei, hätten Einwohner von Mariehamn jeden Tag gegen die Aggression demonstriert, erzählt Wallen. Stets um 17 Uhr.

Wallen, braungebrannt, in Shorts und einem blauen Pullover, bastelte sich in der ersten Kriegswoche ein Holzschild und pinselte «Putin go home» drauf. Jeden Tag klemmt er es sich seither auf den Gepäckträger seines Velos und fährt damit zur Demonstration.

Seit Jahrhunderten umkämpft

Auf den Ålandinseln hat Putins Feldzug auch wegen der eigenen Vergangenheit einen Schock ausgelöst. Wie ganz Finnland stand die heute teilautonome Inselgruppe bis 1917 unter der Herrschaft des Zarenreichs. «Wir wissen, was es bedeutet, unter russischer Besetzung zu leben», sagt eine Demonstrantin.

Die Ålandinseln und Russland: Das ist eine lange, kriegerische und schmerzhafte Geschichte. Während des Krim-Krieges (1853–1856) vertrieben Frankreich und Grossbritannien die russischen Truppen von Åland. Auf der Hauptinsel zeugen die Ruinen von Bomarsund vom russischen Machtanspruch: Das Fort hätte 5000 Soldaten beherbergen sollen, wurde aber nie fertiggestellt. Als Verlierer des Krim-Krieges musste das Zarenreich die Demilitarisierung des Archipels, der sich aus 6700 Inseln und Schären zusammensetzt, akzeptieren.

Mit der Unabhängigkeit Finnlands 1917 wurde der demilitarisierte Status der Inselgruppe bekräftigt. Das heisst: keine Soldaten, keine militärischen Einrichtungen, keine Manöver. Russische Diplomaten erhielten ab 1940 die Befugnis, die Einhaltung der Vereinbarung zu überwachen. Wegen ihrer strategischen Lage inmitten der Ostsee, eines bedeutenden Korridors für die Schifffahrt, kämpften die Anrainerstaaten während Jahrhunderten um die Vormacht auf Åland.

Hüter des internationalen Rechts oder Spione?

Russlands Überfall auf die Ukraine hat die sicherheitspolitischen Konstanten in Europas Norden abermals ins Wanken gebracht. Finnland gab wie Schweden seine Neutralität auf und trat 2023 der Nato bei.

Was heisst das für die Ålandinseln? Der Sonderstatus und die Demilitarisierung seien Teil internationaler Verträge und Konventionen, argumentiert die finnische Regierung. Diese hätten weiterhin ihre Gültigkeit, ebenso das russische Mandat, die Einhaltung der Abkommen vor Ort zu überprüfen. Darauf lässt sich ein 38-seitiges Gutachten reduzieren, das das finnische Aussenministerium 2023 vorlegte.

Auf den Ålandinseln sehen das längst nicht alle so: Jonas Back, ein Reservist der finnischen Armee, sagt: «Das russische Konsulat gehört geschlossen.» Ausgerechnet Russland, das mit seiner Invasion in der Ukraine täglich das Völkerrecht verletzt, solle die Einhaltung internationaler Verträge kontrollieren? Grotesk, findet Back, der seit elf Jahren in Mariehamn lebt. Einige Inselbewohner schimpfen das Konsulat gar ein Spionagenest.

Auf seinem X-Profil zeigt sich Back im Kampfanzug und mit Tarnfarbe im Gesicht. Zum Gespräch in einer Hotellobby in Mariehamn erscheint er im T-Shirt und in Shorts. Der 36-Jährige betont: «Wir müssen diese Verträge zeitgemäss auslegen; sie zu ändern, würde zu lange dauern.» Back möchte auf Åland Kurse anbieten dürfen, um die Bevölkerung auf Krisen- und Kriegssituationen vorzubereiten. Er will sie dazu befähigen, Minen zu identifizieren, Wunden zu verbinden oder im Wald zu überleben.

Das Interesse für solche Kurse steige seit der russischen Invasion exponentiell, berichtet Back. Bis jetzt musste er wegen des pazifistischen Sonderstatus von Åland auf das finnische Festland ausweichen. Dies bedeutet mehr Zeitaufwand und höhere Kosten für die Teilnehmenden. Trotzdem hätten seit Kriegsbeginn über 150 Personen mehrere Module besucht: 18 Jahre alt sei der Jüngste gewesen, 63-jährig die Älteste, 15 Prozent Frauen, bilanziert Back. Bald folgt ein Fortsetzungskurs. Die Åländer sind von der Wehrpflicht in der finnischen Armee befreit. Manche leisten aber freiwillig Militärdienst.

Sosehr sich Back für die militärische Grundausbildung von Zivilpersonen begeistert und die Aktivitäten der Reservisten-Vereinigung auf Åland ausbauen möchte: «Aus uns wird nie eine bewaffnete Miliz werden», betont der fünffache Familienvater. Sollte der Ernstfall eintreten, würden er und seine Mitstreiter selbstverständlich in der regulären Armee dienen, sagt Back.

Backs Haltung lässt sich mit «Sonderstatus: Ja, aber anders» zusammenfassen. Vom finnischen Festland sind derweil unmissverständliche Töne zu vernehmen: Der frühere finnische Geheimdienstchef Pekka Toveri, der heute für die Regierungspartei NCP im Parlament sitzt, forderte öffentlich ein Umdenken. Eine Armeepräsenz auf Åland würde erlauben, schneller zu reagieren, sollte sich die Sicherheitslage verschlechtern. Auch der Chef der Viking Line, eines Schifffahrtsunternehmens, das die Inseln mit der Aussenwelt verbindet, stiess ins gleiche Horn. Hacker legten vor einem Jahr das Buchungssystem des Unternehmens lahm. Es sollen Russen gewesen sein. Unklar bleibt, wie sich die Fürsprecher einer Militarisierung die Umsetzung konkret vorstellen.

«Je tiefer die anderen fallen, desto höher zielen wir»

Wegen ihres Autonomiestatus haben die Ålandinseln eine eigene Regierung, spezielle Autonummern und Briefmarken sowie ein Parlament. Vor dem Haupteingang der Inselverwaltung empfangen der Parlamentsvorsitzende Jörgen Pettersson und Innenministerin Ingrid Zetterman. Neben dem Parlamentsgebäude weht die Flagge der Ukraine. «Die kommt erst weg, wenn der Krieg beendet ist», erklärt Pettersson.

Die Ålandinseln fühlen sich mit der Ukraine besonders verbunden. Da ist die eigene historische Erfahrung mit russischen Okkupatoren. Aber es bestehen auch viele persönliche Verbindungen mit Ukrainern. Vor dem Krieg kamen viele als Erntehelfer auf die Inseln und pflückten Äpfel. Nach dem Einfall in die Ukraine nahmen die Åländer auch Flüchtlinge aus der Ukraine auf.

Petersson, ein Mittfünfziger im hellblauen Veston und mit Schalk in den Augen, führte selber schon eine Protestkarawane zum russischen Konsulat an. «Ein Drittel des Parlaments marschierte mit.» Petterson geleitet vor den Eingang des Parlamentssaals. Wandmalereien bilden die Inselgeschichte ab, die Russen stechen als zornige Krieger mit blutverschmierten Schwertern hervor.

Sosehr Petterson den russischen Einmarsch in die Ukraine verurteilt, so falsch findet er die Schlussfolgerung, am Sonderstatus der Inseln zu rütteln. Nur weil Russland internationales Recht breche, dürfe man nicht dasselbe tun. «Je tiefer die anderen fallen, desto höher zielen wir», sagt Petterson dazu.

Aus Sicht des Parlamentariers besteht überhaupt kein Grund, etwas am Status quo zu ändern. Und was sagt Innenministerin Zetterman zu Umfragen, wonach mehr als die Hälfte der Finnen auf dem Festland eine militärische Präsenz auf der Inselgruppe befürworten? «Die wissen über unseren Sonderstatus zu wenig Bescheid.» Zetterman und Petterson sprechen von einem kostbaren Gut, das es zu verteidigen gelte. «Inseln des Friedens» nennen die Åländer ihr Archipel.

Finnische Soldaten auf Åland würden bloss Putin provozieren, sagen die Befürworter des Status quo. Andere finden diese «Stillhalten, dann passiert nichts»-Haltung naiv. Umfragen deuten darauf hin, dass viele Inselbewohner unschlüssig sind, ob eine Militarisierung die Sicherheit von Åland verbessern oder verschlechtern würde.

Die Befindlichkeiten auf Åland kann man nur mit einem Blick zurück ins frühe 20. Jahrhundert verstehen. Damals drohte Schweden den unabhängig gewordenen Finnen damit, sich die schwedischsprachige Inselgruppe mit Gewalt einzuverleiben. Unter Vermittlung des Völkerbundes gelang es, einen militärischen Konflikt abzuwenden.

Als Kompromiss erhielten die Ålandinseln eine weitreichende Autonomie. Abgesehen von der Aussen-, Sicherheits-, Justiz- und Währungspolitik entscheidet die Regierung in Mariehamn eigenständig. Zudem erlaubt das Modell der Bevölkerung, die sich mehr schwedisch als finnisch fühlt, ausschliesslich schwedisch zu sprechen. Auch die Regionalregierung korrespondiert mit den finnischen Ministerien auf Schwedisch.

Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, dass manche Åländer hoffen, dass ihr gewissermassen binationales Modell, das dank gutem Einvernehmen zwischen Stockholm und Helsinki bestens funktioniert, Inspiration für die Lösung von heutigen Territorialkonflikten sein könnte – womöglich gar für Russland und die Ukraine.

Am täglichen Protest vor dem russischen Konsulat mag man keine Theorien für die Zukunft wälzen. Nach Meinung der Teilnehmer braucht es derzeit nur eins: «Putin go home!» 15 Minuten nach 17 Uhr machen sich die Demonstranten auf den Heimweg.

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