Dienstag, April 29

Für die unmittelbare Zukunft hängt viel davon ab, wie und ob der Ukraine-Krieg beendet werden kann. Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew sieht eine Zeit der Barbaren heraufziehen.

Was ist die Barbarei des 21. Jahrhunderts, die in meinem Land den Sieg davongetragen hat? In erster Linie bedeutet sie das vollständige Ersetzen von Gerechtigkeit durch den Kult der Stärke. Putin wird getrieben von einem primitiven menschlichen Siegerinstinkt. Das heisst schlicht: «Ich habe recht, weil ich stark bin und weil ich bin, wie ich bin.» Jegliche Lebensfreude, alle Wünsche und Vorstellungen von Glück gehen einher mit dem orgiastischen Bewusstsein von Macht und Aggression. Guck dir einen Schwachen aus und mach ihn zu einem Fremden, tu ihm weh – das wird dir Vergnügen bereiten. Ideologie, imperialer Drang, alles das ist natürlich wichtig, aber die Hauptsache ist etwas anderes. Die Hauptsache ist das triumphierende Ich des Machthabers.

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Die Ukraine geriet in die Schusslinie, weil sie in einem ungünstigen Moment der Geschichte nach Europa fliehen wollte und hartnäckig ihr Fortbestehen in der westlichen Zivilisation suchte. Das hat zum Teil mit ihrer zerrissenen Geschichte zu tun, ihrer geografischen Lage zwischen Russland und Europa. Doch das Unglück der Ukraine besteht nicht nur darin, dass das riesige Russland stärker und unerbittlicher ist als sie – es hat auch damit zu tun, dass das heutige Europa, wo die Freiheit sich am liebsten schlafen legen möchte, allmählich seine liberale Grundlage verliert.

Die Philosophen Europas sind nun die Bürokraten und nicht charismatische Figuren. Die Ukraine geht durch Krieg, Tod, Prüfungen in eine schwindende, noch nicht gänzlich gespenstische, doch auch nicht mehr von lebendigem Leben erfüllte Realität. Zu Beginn des Krieges wusste Europa nicht, was es tun sollte. Sollte man die Ukraine Russland überlassen und weiterhin mit Putin erfolgreich Handel treiben? Gäbe es denn eine Alternative? Und Selenski in die sichere Emigration schicken – wäre das etwa kein würdiger Ausweg?

Als Europa mit Erstaunen sah, dass die Ukraine sich auch am dritten Tag des Krieges nicht ergab, beschloss es doch, ihr zu helfen. Moralisch, in militärischer und jeglicher Hinsicht, wenn auch vorsichtig, natürlich, um nicht den Bären mit seiner Atombombe zu wecken und nicht selbst zur Zielscheibe zu werden.

Trump macht Fehler

Nun sind drei Jahre vergangen, und vom Standpunkt des liberalen Bewusstseins entwickeln sich die Dinge schlechter und schlechter. In Russland kann, ja will niemand gegen die Staatsmacht kämpfen. In Europa selbst fühlen sich viele ultrarechte Kräfte zu Putin hingezogen – in ihm sehen sie einen Regenten zum Nachahmen. Es herrscht Mittelmässigkeit und Tristesse, wohin das Auge blickt, und da kann ein Herrscher mit starker Hand zum Ausweg werden. Europa ähnelt einer nicht besonders sportlichen Dame in Schlittschuhen auf dem Eis. Wie oft noch wird sie auf ihrem Hintern landen? Der Kreml schaut sich das an und lacht sich kaputt.

Wie werden sich die Beziehungen zwischen Trump und Putin gestalten? Wenn sie Freunde werden, ist das ein Unglück für die Ukraine und für das von beiden ungeliebte Europa. Wenn sie Feinde werden, wird ein neuer Weltkrieg möglich. Was also tun? Sich wünschen, dass Trump und Putin ihre «Deals» machen wie Mafiosi, wie zwei kleine Lumpen? Respekt statt Freundschaft. Vorteil statt Feindschaft.

Putin ist bis jetzt der erfahrenere Gopnik. Während Trump Fehler macht. Er fängt an, auf den russischen Partner sauer zu sein, und er droht mit neuen schmerzhaften Sanktionen. Mit anderen Worten: Er wendet die Methode Zuckerbrot und Peitsche an. Das funktioniert bei Putin nicht. Die beiden Staatenlenker reden über gemeinsame Eishockeyspiele und die Wiederaufnahme von Direktflügen zwischen Russland und Amerika, während der Krieg tobt wie gewohnt und niemand weiss, ob der russische Zar überhaupt einen Frieden braucht.

Übrigens haben nicht Trump und Putin die neue Barbarei erschaffen. Es ist umgekehrt die neue Barbarei, die sie erschaffen hat.

Trump muss als Sieger und Friedensstifter hervorgehen, mit der Hoffnung auf den Friedensnobelpreis, als derjenige, der den Krieg stoppt – hier teilt er mit niemandem. Aber Jalta 2.0 – das ist die fröhliche barbarische Idee, die Welt zwischen Amerika und Russland (China darf auch mitmachen) aufzuteilen. Europa, schwächlich wie es ist, wird auch die Barbarenmaske aufsetzen, in Teile zerfallen, hier und da werden rechte Nationalisten regieren. Fukuyama hätte dann doch recht behalten: Das ist dann das Ende der Geschichte. An ihre Stelle ist allerdings nicht Demokratie, sondern Barbarei getreten.

Selenski lässt sich demütigen

Ob die Welt diesmal für lange Zeit in Barbarei versinken wird? Gibt es überhaupt einen Weg zurück in die liberale Zivilisation, in den magischen Raum grosser Literatur, feiner Philosophie, zukunftsweisender Strömungen in der Malerei, durch welche sich seinerzeit Impressionismus, Kubismus und Surrealismus auszeichneten?

Aber wie sehr blamierte sich doch Selenski, der meinte, mit Trump reden zu können wie mit Biden. Nun ja, dachte sich vermutlich Selenski, der ist zwar ein etwas verschrobener Cowboy, aber im Grunde steht er doch auf unserer Seite. Und dann plötzlich wie Blitz und Donner aus heiterem Himmel: Trump empfindet ein sadistisches Vergnügen daran, seinen ukrainischen Gast zu demütigen, zu erniedrigen und zu beleidigen. Was steht hinter all den Beleidigungen? Kult der Stärke!

Soll Russland doch ein schönes Stück Ukraine bekommen, geschenkt, wir Amerikaner brauchen Grönland, wenn nicht gar Kanada. Und wenn der Golf von Mexiko jetzt Golf von Amerika heisst, warum sollte Putin zum Beispiel nicht das Schwarze Meer in Russisches Meer umbenennen und der Türkei, wie Dostojewski es einst erträumte, den Bosporus und die Dardanellen abzwacken, diese strategisch wichtigen Meerengen zum Mittelmeer?

Das erste Anzeichen für die Rückkehr in die neuzeitliche Barbarei war nicht so sehr der Erste Weltkrieg, der aufgrund von Dummheit und einer Menge politischer Missverständnisse ausbrach, als vielmehr die bolschewistische Revolution von 1917. Das heisst nicht, dass das vorrevolutionäre Russland eine europäische Macht war. Dank Peter dem Grossen öffnete es tatsächlich ein Fenster nach Europa, die Tür aber ist bis heute verriegelt.

Dabei besass Russland, bei aller Missgestalt seines Staatswesens, eine intellektuelle und künstlerische Kultur von Welt. Dank dieser Kultur hat Russland in vieler Hinsicht die Barbarei abgeschüttelt und hätte eine europäische Macht werden können. Der Oktoberumsturz war ein recht zufälliger Sieg der Kommunisten, es hätte auch anders ausgehen können. Doch die utopische Idee Lenins, eine lichte Zukunft in einem Land mit einer ignoranten Bevölkerung aufzubauen, wurde umgesetzt bei Verlust einer echten, auf Gerechtigkeitsgefühl basierenden Menschlichkeit.

Die ganze Welt hat sich verlaufen

Wie auch immer sich die Beziehungen zwischen Putin und Trump gestalten mögen, dass sie auch die letzten Funken Gerechtigkeit auslöschen werden, mit Politik wie mit Karten spielen, ihr Super-Ich preisen, über die Schwachen lachen – das ist sicher, das ist unsere Zukunft, jedenfalls die unmittelbar vor uns liegende. Und das Europa der Nationalisten spielt sich als Generalprobe desselben Orchesters vor unseren Augen ab.

Für mich als russischen Schriftsteller gilt es darüber nachzudenken, was wird, wenn irgendwann in unbekannter Zukunft unser Diktator abtritt, der sein Regime in Stein gemeisselt und eine neue Elite-Generation herangezogen hat, die aus Ukraine-Kämpfern besteht. Sie werden in bedeutender Anzahl im nächsten russischen Parlament sitzen, und der hypothetische Übergang zu einem kleinen Tauwetter à la Chruschtschow wird möglicherweise nicht von frühlingshaften Bächlein der Hoffnung begleitet werden, sondern von blutigen Strömen der Konflikte zwischen Anhängern und Gegnern von Veränderungen.

Und was soll die über die europäische Welt verstreute russische Opposition tun? Amerika, du wichtigste Kraft der Gerechtigkeit in der Welt, woran hat es dir gefehlt, warum läufst du in eine Sackgasse? Mir scheint, die ganze Welt hat sich verlaufen.

Natürlich kann man für sich selbst in der neuen Barbarei eine verschwiegene Nische finden, sich von Idioten fernhalten, auf der Datscha leben und die Sterne betrachten. Und hat man Glück, bekommt man obendrein noch Liebe in der Familie dazu. Doch die Welt ist gerade erst im Begriff, in der neuen Barbarei zu versinken.

Das antike Griechenland und das alte Rom – ein süsser Traum der Menschheit. Man kann aber nicht ständig süsse Träume haben. Da ist die Schlaflosigkeit, da sind Albträume, da ist schliesslich auch die Hoffnung, dass Europa einen riesigen Koffer voller Kultur besitzt und dass wir uns einer neuen schrecklichen Welt der Barbarei noch widersetzen werden.

Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew lebt seit Beginn des Ukraine-Krieges im Exil in Deutschland. – Aus dem Russischen von Beate Rausch.

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