Mit dem ersten Kampfeinsatz einer Mittelstreckenrakete in Europa hat Russland eine weitere Schwelle der Kriegsführung überschritten. Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.
Eine bedeutende ukrainische Rüstungsfabrik in der Grossstadt Dnipro ist am Donnerstag mit einer neuartigen Rakete angegriffen worden. Zunächst rätselten ukrainische und amerikanische Beobachter darüber, ob es sich sogar um eine Interkontinentalrakete gehandelt haben könnte. Das wäre weltweit der erste solche Einsatz unter Kriegsbedingungen gewesen. Der russische Präsident Putin gab dann aber am Abend in einer Fernsehansprache mehr Details bekannt und verband dies mit einer harschen Drohung gegen den Westen.
Welche Rakete kam zum Einsatz?
Putin sprach bei seiner Fernsehrede von einer ballistischen Rakete mittlerer Reichweite, die den Namen Oreschnik (Haselstrauch) trage und mehrfache Schallgeschwindigkeit erreiche. Eine Rakete dieses Namens war bisher unbekannt. Westliche Experten gehen jedoch davon aus, dass es keine wirklich neue Rakete ist. Es handelt sich wahrscheinlich um eine RS-26 Rubesch oder eine Weiterentwicklung davon. Eine amerikanische Regierungssprecherin äusserte die Einschätzung, dass die Rakete auf einer RS-26 «basiere».
Das erklärt auch die anfängliche Verwirrung um die Art der Rakete. Die 2012 erstmals erfolgreich getestete RS-26 war von Moskau ursprünglich als Interkontinentalrakete deklariert worden. Doch in Wirklichkeit dürfte dies nur ein Trick gewesen sein, um eine Verletzung des damals noch geltenden Vertrags über das Verbot von Mittelstreckenraketen (INF) zu kaschieren. Die Rakete legte bei ihrem ersten Test eine Distanz von 5800 Kilometern zurück, nur 300 Kilometer mehr als die im Vertrag festgelegte Limite. Laut Militärexperten wäre die Rakete, wenn sie Gefechtsköpfe getragen hätte, wesentlich weniger weit geflogen und hätte damit als Mittelstreckenrakete klassifiziert werden müssen.
2017 wurde die Weiterentwicklung der RS-26 angeblich aufgegeben, wohl auch, weil sich die Verletzung des INF-Vertrags nicht mehr hätte leugnen lassen. Aber die Vorgeschichte erklärt, weshalb Russland nun scheinbar überraschend eine Mittelstreckenrakete in seinem Arsenal hat. Die RS-26 stellt keine revolutionäre neue Entwicklung dar; sie beruht auf der schon 2010 in Dienst gestellten Interkontinentalrakete RS-24 Jars und verfügt einfach über eine Raketenstufe weniger als diese.
Was macht diesen Raketenangriff so ungewöhnlich?
Russland greift die Ukraine regelmässig aus der Luft an, auch mit ballistischen Raketen. Dabei handelt es sich (im Unterschied zu Marschflugkörpern) um Lenkwaffen, deren Flugbahn nicht nahe am Boden verläuft, sondern wie bei einem Wurfgeschoss parabelförmig in grosse Höhen führt. Bei Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen wird dabei sogar der Weltraum erreicht.
Neu ist, dass Russland erstmals eine Mittelstreckenrakete zu Kriegszwecken eingesetzt hat. Bisher hatte es die Ukraine nur mit ballistischen Raketen kürzerer Reichweite angegriffen, namentlich mit Iskander-Raketen und Raketen nordkoreanischer Bauart. Die nun mutmasslich verwendete RS-26 Rubesch legte vom Raketenstartgelände Kapustin Jar nördlich des Kaspischen Meeres rund 800 Kilometer zurück, deutlich mehr als bei Iskander-Raketen üblich.
Aber nicht nur die Reichweite stellte eine Premiere dar, bedeutsam ist auch die erstmals eingesetzte Waffenklasse. Raketen wie die RS-26 oder Interkontinentalraketen sind für den Einsatz von Atomwaffen konzipiert. Die RS-26 kann sogenannte Mehrfach-Gefechtsköpfe mit sich führen. Diese werden kurz vor dem Erreichen des Zieles abgetrennt und ermöglichen somit den Angriff mit mehreren Atombomben gleichzeitig. Beim Einsatz vom Donnerstag waren mindestens sechs Gefechtsköpfe im Spiel, aber solche ohne nukleare Sprengsätze. In Aufnahmen aus der Stadt Dnipro war deutlich zu sehen, wie diese Gefechtsköpfe kurz nacheinander niedergingen, wie Feuerblitze. Eine Explosion am Boden blieb aus; die Schäden waren entsprechend bescheiden.
Another video of the ruSSian ICBM’s multiple independently targetable reentry vehicles https://t.co/maEa5qFcQi pic.twitter.com/88fEGZHy1r
— 𝔗𝔥𝔢 𝕯𝔢𝔞𝔡 𝕯𝔦𝔰𝔱𝔯𝔦𝔠𝔱△ 🇬🇪🇺🇦🇺🇲🇬🇷 (@TheDeadDistrict) November 21, 2024
Welches Signal will Putin senden?
Der Einsatz von Mittelstreckenraketen, deren Atomsprengköpfe entfernt wurden, ist rein militärisch praktisch sinnlos. Mit konventionell bewaffneten Kurzstreckenraketen und Marschflugkörpern kann Russland seine Angriffsziele in der Ukraine viel effizienter bekämpfen. Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen mit Mehrfach-Gefechtsköpfen stellen eine sehr teure Technologie dar.
Es ging Russland somit nicht um den Angriff auf die Rüstungsfabrik per se, sondern um eine Machtdemonstration gegenüber dem Westen. Putin signalisiert, dass er über nuklear bestückbare Mittelstreckenraketen verfügt, die nicht nur die Ukraine, sondern sämtliche europäischen Hauptstädte erreichen können. Es handelt sich um die bisher aggressivste Warnung des Kremls vor einem Atomkrieg. Seit Beginn der Invasion im Februar 2022 hatte er wiederholt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht, zunächst sehr verklausuliert, mit der Zeit konkreter. Nun hat er eine weitere Stufe auf der Leiter der nuklearen Warnsignale zurückgelegt.
Putin verstärkte dieses Signal noch dadurch, dass er sich gleichzeitig in einer seiner seltenen Fernsehansprachen an die Öffentlichkeit wandte. Er drohte darin damit, dass sich Russland das Recht vorbehalte, Militäranlagen von westlichen Partnern der Ukraine anzugreifen.
Weshalb erfolgt dieser Eskalationsschritt gerade jetzt?
Putin begründete seinen Schritt mit den jüngsten Angriffen der Ukrainer auf russische Stützpunkte im Grossraum Kursk. Dabei hatten die Ukrainer am Dienstag und Mittwoch erstmals amerikanische Atacms-Raketen beziehungsweise britische Marschflugkörper des Typs Storm Shadow gegen Ziele im russischen Hinterland eingesetzt. Diesem Schritt war die Entscheidung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden vorangegangen, das bisherige Verbot solcher ukrainischer Einsätze mit weitreichenden westlichen Waffen zu lockern.
Russland hat jedoch nicht spiegelbildlich reagiert, sondern die Eskalationsspirale gleich um mehrere Drehungen vorangetrieben. Atacms und Storm Shadows sind mit Reichweiten von um die 300 Kilometer Kurzstreckenwaffen, wie sie Russland seit Kriegsbeginn in grosser Zahl einsetzt. Putin griff nun jedoch zu einer Mittelstreckenrakete und wählte eine massive Antwort, die offensichtlich der Einschüchterung dienen soll. Der einstige russische Aussenminister Andrei Kosyrew äusserte die Ansicht, dass Putin verzweifelt versuche, die Regierung in «Washington und den Westen so zu erschrecken, dass sie die Ukraine fallen lassen».
Der Kremlchef erklärte in seiner Ansprache, dass mit dem Einsatz der amerikanischen Atacms-Raketen in Westrussland am 19. November der regionale Konflikt in der Ukraine einen «globalen Charakter» angenommen habe. Die Logik dieser Aussage ist schwer nachvollziehbar. Denn die Ukrainer hatten schon früher wiederholt mit Atacms-Raketen russische Stützpunkte angegriffen, einfach nur auf der Krim und in anderen besetzten Gebieten. Die Unterscheidung ist für den Westen wichtig, nicht aber für den Kreml, der die Krim schon lange als russisches Staatsgebiet betrachtet. Deshalb wirkt es, als habe Putin willkürlich eine Art Zäsur ausrufen wollen.
Wie reagiert der Westen?
Die bisherigen westlichen Reaktionen sind eher gelassen. Das Pentagon betonte, dass die USA die «gefährliche, verantwortungslose Rhetorik» aus Moskau ernst nähmen, aber an der Militärhilfe für die Ukraine festhielten. Eine Sprecherin hob positiv hervor, dass Washington kurz vor dem Raketeneinsatz eine Vorwarnung von russischer Seite erhalten hatte. Diese Kommunikation half, ein gefährliches Missverständnis rund um den Raketenstart zu vermeiden.
Ungenannte amerikanische Beamte wiesen darauf hin, dass Russlands Arsenal an solchen Raketen sehr begrenzt sein dürfte. Generell wird in den USA und den meisten westlichen Hauptstädten das Risiko eines Atomkrieges zwar nicht als vernachlässigbar, aber als sehr gering eingestuft. Die Nato-Staaten posaunen es nicht heraus, aber der Kreml weiss es: Auch der Westen hat Atomwaffen und damit ein sehr starkes Mittel der Abschreckung. Trotzdem ist damit zu rechnen, dass der jüngste russische Eskalationsschritt die entsprechende Debatte in Militärkreisen wie auch in der politischen Öffentlichkeit befeuern und manche Regierungen beeinflussen wird.