Mittwoch, April 2

Die Trump Administration verbreitet alte Klischees über die Ukraine und sitzt einem Propagandamythos auf.

Die Probleme des amerikanischen Verhandlungsteams im russisch-ukrainischen Krieg lassen sich allein schon daran ablesen, dass Donald Trumps «Nahost»-Spezialbeauftragter Steve Witkoff nach Moskau pilgert und dort im Kreml mit Putin spricht. Der Verteidigungsminister Peter Hegseth gibt bereits bei Amtsantritt alle Trümpfe aus der Hand. Trump selbst behauptet in einer Endlosschlaufe, Putin «wolle den Frieden», obwohl sich seit über drei Jahren das genaue Gegenteil beobachten lässt.

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Trumps Sondergesandter Steve Witkoff mag ein erfolgreicher Immobilienhändler sein, hat aber keine Ahnung von dem, was er in einem Interview mit Tucker Carlson verharmlosend den «Russland-Ukraine-Konflikt» nennt. Begeistert erzählt Witkoff von seinem Kreml-Besuch über den russischen Präsidenten: «I liked him.» Als Beweis für Putins Menschlichkeit führt Witkoff an, dass Putin ihn gefragt habe, was er denn machen solle mit ukrainischen Soldaten, die von der russischen Armee umzingelt seien und sich nicht ergeben wollten. Putin – so der sichtlich gerührte Witkoff – wolle die Ukrainer dazu bringen, die weisse Fahne zu schwenken, damit er sie nicht töten müsse.

Verfehlter ethnolinguistischer Ansatz

Witkoff erkennt den emotionalen Kitsch nicht, mit dem ihn der erfahrene russische Geheimdienstler umgarnt: Als Trump im Wahlkampf angeschossen worden sei, habe Putin in der Kirche für seinen «Freund» gebetet. Schliesslich führt Witkoff den «komplizierten Konflikt» darauf zurück, dass die von Russland annektierten ukrainischen Gebiete «russischsprachig» seien und dass die Bevölkerung sich dort dafür ausgesprochen habe, «unter russischer Herrschaft» zu leben. Er verliert kein Wort darüber, dass diese manipulierten Referenden im doppelten Wortsinn phantastische Ergebnisse von bis zu 99 Prozent Zustimmung erreicht hatten.

Die verbreitete Annahme, die Ukraine lasse sich in einen proeuropäischen ukrainischsprachigen Westen und einen prorussischen russischsprachigen Osten aufteilen, ist ebenso alt wie falsch. Bereits im Januar 2014, also auf dem Höhepunkt der Euromaidan-Demonstrationen, veröffentlichte die «Washington Post» einen Artikel, in dem die politischen Präferenzen in der Ukraine durch den Sprachgebrauch erklärt wurden.

Das Problem solch vereinfachender Aussagen liegt darin, dass erstens eine moderne Nation wie die Ukraine nicht durch einen ethnolinguistischen Ansatz erklärt werden kann und dass zweitens die verwendeten soziologischen Daten unzuverlässig sind. Meistens verwenden Journalisten die Sprachdaten aus dem offiziellen Zensus von 2001, in dem allerdings nur nach der Muttersprache gefragt wurde. Ein geplanter neuer Zensus konnte 2016 wegen der russischen Annexion und des verdeckten Angriffs in der Ostukraine nicht durchgeführt werden.

Es gibt allerdings mittlerweile neuere Forschungsdaten, die ein differenziertes Bild zeichnen. Richtig ist, dass in Galizien mit der Hauptstadt Lwiw das Ukrainische klar vorherrscht. Die Sonderstellung der Westukraine liegt darin begründet, dass sie bis 1918 zur Donaumonarchie und in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörte. Je weiter man sich gegen Osten bewegt, desto mehr nimmt die dominante Rolle der ukrainischen Sprache ab.

Es gibt allerdings keine sprachliche Zweiteilung der Ukraine. Dies hat auch damit zu tun, dass ein Sprachkontinuum zwischen dem Russischen und dem Ukrainischen besteht. Es gibt sogar eine Mischsprache, die als Surschik bezeichnet wird. Die Situation ist asymmetrisch: Die Verwendung des Russischen in der Ostukraine ist nicht so ausgeprägt wie die Präsenz des Ukrainischen im Westen und in Kiew.

Seit 2014 und besonders seit 2022 verstärkt sich die bestehende Tendenz zur breiteren Verwendung des Ukrainischen in der Zentral- und der Ostukraine. Spätestens nach dem russischen Überfall ist deutlich geworden, dass die Zugehörigkeit der Menschen zum ukrainischen Nationalprojekt nicht von der Sprache abhängt. Mittlerweile gibt es sogar einen ausgeprägten russischsprachigen ukrainischen Patriotismus.

Verbreitete Zweisprachigkeit

Die Zweisprachigkeit der Ukraine hat sich auch in der ukrainischen Literaturgeschichte niedergeschlagen. Der Nationaldichter Taras Schewtschenko schrieb den grössten Teil seiner Lyrik auf Ukrainisch und die meisten Prosatexte auf Russisch. Sogar sein Tagebuch, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, verfasste er auf Russisch. Nikolai Gogol machte zwar seine Karriere im russischen Literaturbetrieb, debütierte aber mit «ukrainischen Erzählungen», die er in einem ukrainisierten Russisch schrieb. Für die russische Leserschaft fügte Gogol seinen ersten Publikationen sogar eine Liste mit ukrainischen Wörtern bei, die «nicht jedem verständlich» seien.

Auch Marko Wowtschok, die «ukrainische George Sand», wechselte frei zwischen dem Ukrainischen und dem Russischen und veröffentlichte ihre Prosa in beiden Sprachen. In der frühen Sowjetzeit wurde zwar die ukrainische Literatur gefördert, allerdings endet der Honigmond zwischen sozialistischem Aufbau und nationaler Emanzipation im Stalinismus jäh. 1937 wurden die besten ukrainischen Autoren hingerichtet; in der Literaturgeschichte spricht man von der «erschossenen Renaissance». In den letzten Jahren haben Autoren aus Donezk wie Olena Stjaschkina oder Wolodimir Rafejenko ostentativ vom Russischen ins Ukrainische gewechselt. Andrei Kurkow bezeichnet sich seit je als ukrainischen Autor, der auf Russisch schreibe.

Diktatoren haben eine Vorliebe für homogene Gesellschaften mit klaren Geschlechterverhältnissen, eindeutigen Sprachgruppen und unkritischen politischen Überzeugungen. Schon Mussolini hielt die Schweiz für einen «Fehler auf der europäischen Landkarte». Putin ist überzeugt, dass die Zentral- und Ostukraine von «Russen» bevölkert sei, die sich nichts sehnlicher wünschten, als in Russland zu leben.

Steve Witkoff plappert genau solche Klischees nach, die mit den Verhältnissen in der Ukraine nichts zu tun haben, sondern dem Wunschdenken des Kremlherrschers entspringen. Immerhin muss man Witkoff zugutehalten, dass es auch in der Schweizer Kulturgeschichte ähnliche Verblendungen gab.

Gottfried Keller, der aus Putins Sicht ja ein «ethnischer Deutscher» in einem fremden Staat wäre, richtete seinen Patriotismus ganz auf den deutschen Kulturraum aus. Das zeigte sich deutlich im Jahr 1871 nach dem deutschen Sieg über Frankreich und der Gründung des Deutschen Reichs. Die zahlreichen Deutschen in Zürich feierten ausgiebig in der Tonhalle, und auch der germanophile Gottfried Keller war anwesend. Schweizer Gegner dieser Manifestation protestierten lautstark. Es kam zu Krawallen und Ausschreitungen. Erst die Intervention von eidgenössischen Truppen konnte den Aufruhr beseitigen.

Gottfried Kellers Germanophilie ging so weit, dass er 1872 an einer privaten Feier einen Toast ausbrachte, in dem er in Aussicht stellte, dass das Deutsche Reich sich dereinst in eine Republik verwandeln könnte und dass dann eine «freiwillige Rückkehr der Schweiz zu Deutschland doch nicht so ganz unmöglich» sei. Diese Aussage führte zu einer öffentlichen Kontroverse, bei der Keller wieder zurückrudern musste.

Es ist aber bezeichnend, dass Keller weitgehend blind für die multikulturelle Verfassung der Schweiz blieb. Zeit seines Lebens war er nie im Tessin, auch den Genfersee sah er nie. Möglicherweise hatte Keller den Gedanken an eine schweizerisch-deutsche Wiedervereinigung bereits im «Fähnlein der sieben Aufrechten» versteckt, als er einen seiner Helden das «sichere Ende seines Vaterlandes» ankündigen und darüber sinnieren lässt, «welches Völkerbild einst nach uns in diesen Bergen walten möge».

Mittlerweile die erste Sprache

Gottfried Kellers Wunschbild der politischen Vereinigung mit dem grossen Kulturraum im Norden ist die Schreckvision vieler Ukrainer. Mittlerweile sind nicht nur russische Staatslenker zum Feindbild geworden, sondern auch der russische Nationaldichter Alexander Puschkin zieht sich den Hass der ukrainischen Intelligenzia zu. In der Westukraine wurden die zahlreichen Lenin-Denkmäler aus der Sowjetzeit bereits in den neunziger Jahren demontiert. Nach 2014 kam es auch in den übrigen Regionen zu einem «Lenin-Fall».

Serhij Zhadan, der in der Ukraine bereits den Kultstatus des Nationaldichters des 21. Jahrhunderts erreicht hat, fragte im August 2022 auf Facebook: «Ist Puschkin daran schuld, dass in Russland Kriegsverbrecher geboren werden? Er ist schuld. Natürlich ist er schuld. Alle sind sie schuld.» Später postete Zhadan Selfies mit noch bestehenden Puschkin-Denkmälern in verschiedenen ukrainischen Städten – viele wurden kurz darauf demontiert. Kürzlich erklärte Zhadan in einem Interview, dass der Krieg die Sprachsituation in der Ukraine verändert habe. Heute sei Ukrainisch nicht mehr eine der beiden Sprachen, die in der Ukraine gesprochen würden. Es sei die wichtigste. Die erste.

Vielleicht sollte sich Witkoff nicht von Putin, sondern von Zhadan über die Sprachsituation in der Ukraine briefen lassen.

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