Freitag, November 22

Russland reagiert auf den Beschuss russischer Territorien mit westlichen Langstreckenwaffen. Der Kreml sieht darin eine Eskalation hin zu einem Krieg mit «globalem Charakter».

Russland hat am Donnerstag eine neu entwickelte Hyperschall-Mittelstreckenrakete mit dem Namen Oreschnik (Nusswäldchen oder Haselnussstrauch) auf die ukrainische Grossstadt Dnipro abgefeuert. Das teilte der russische Präsident Wladimir Putin gleichentags am Abend in einer kurzen, überraschenden Fernsehansprache mit. Als Ziel nannte er eine aus Sowjetzeiten stammende Rüstungsfabrik in Dnipro. Das sei die Antwort darauf, dass die Amerikaner und ihre Verbündeten den Einsatz ihrer weitreichenden Waffen gegen Ziele im russischen Kernland zugelassen hätten.

Er bestätigte, dass in den vergangenen zwei Tagen je Ziele in Brjansk und Kursk angegriffen worden seien, ein Munitionslager sowie ein militärischer Kommandoposten. In beiden Fällen seien die Angriffe – mit Atacms-Raketen in Brjansk und mit britisch-französischen Storm-Shadow-Marschflugkörpern in Kursk – von Russland abgewehrt worden, behauptete er. In Kursk habe es Tote und Verletzte unter dem Bewachungspersonal gegeben.

Neue Dimension des Krieges

Wie schon in früheren Stellungnahmen sagte er auch jetzt, diese Waffensysteme seien nur durch westliche Spezialisten zu bedienen. Dadurch habe der «vom Westen provozierte Regionalkonflikt in der Ukraine Züge globalen Charakters» angenommen. Russland werde sich das Recht herausnehmen, bei weiteren Angriffen auf russisches Territorium militärische Ziele derjenigen Länder ins Visier zu nehmen, die sich an diesen Angriffen mit ihren Waffensystemen beteiligten, drohte er. Niemand solle sich jedoch Illusionen darüber machen, dadurch Russland eine strategische Niederlage zufügen oder auch nur den Verlauf der «militärischen Spezialoperation» beeinflussen zu können.

Seitdem in den frühen Morgenstunden des Donnerstags sechs Sprengköpfe in Dnipro eingeschlagen waren, hatte es Spekulationen über das von den Russen verwendete Waffensystem gegeben. Die ukrainischen Streitkräfte vermuteten den Einsatz einer Interkontinentalrakete. Militärexperten hinterfragten den Sinn einer solchen Massnahme, aber deuteten die Videoaufnahmen von den ungewöhnlichen Einschlägen gleichwohl in diese Richtung. Putin lieferte nun eine Erklärung, die zwar den erstmaligen Einsatz eines neuen Waffensystems bestätigt, aber weitere Fragen aufwirft. Der Raketenkomplex Oreschnik war bis anhin auch Fachleuten kein Begriff. Entsprechend rätseln sie über die Eigenschaften der Waffe.

Rätsel um die neue Rakete

Putin stellte die Entwicklung der Oreschnik-Rakete in den Kontext der Kündigung des Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) durch die USA Anfang 2019 und bezeichnete diese einmal mehr als schweren Fehler der Amerikaner. Allerdings hatten diese damals Russland vorgeworfen, mit der Entwicklung des Marschflugkörpers 9M729 (Nato-Bezeichnung SSC-8) heimlich gegen den Vertrag verstossen zu haben. Moskau bestritt dies, konnte seine Position aber nie glaubwürdig belegen. Nach dem Ende des INF-Vertrags war bekannt, dass Russland auch eine neue ballistische Mittelstreckenrakete erarbeitet. Welche Eigenschaften diese genau hat und inwieweit sie mit bekannten Raketensystemen verwandt ist, wissen derzeit auch Militärexperten nicht zu sagen.

Den Einsatz am Donnerstag bezeichnete Putin als erfolgreichen Test dieser neuen Rakete und als Reaktion aggressiven Gebarens der USA und ihrer Nato-Verbündeten. Die Ziele weiterer Tests neu entwickelter Raketensysteme hingen von der Bedrohung der russischen Sicherheit ab. Er kündigte aber an, im Falle weiterer Einsätze von Oreschnik auf ukrainische Ziele die Zivilbevölkerung vorher zu informieren. Es sei zum jetzigen Zeitpunkt technisch unmöglich, die Raketen abzufangen. Deshalb könne Russland aus humanitären Gründen auch in Kauf nehmen, dass der Gegner vorzeitig von dem Einsatz wisse.

Warnung an den Westen und Beruhigung nach innen

Putins ungeplante und daher eher ungewöhnliche Rede richtete sich sowohl an die USA und die westlichen Staaten, die die Erlaubnis zum Einsatz ihrer Waffen auf russischem Kernland gegeben hatten, als auch nach innen, an die eigene Bevölkerung. Im September und Oktober hatte er bereits zweimal beschrieben, welche Folgen aus seiner Sicht der Einsatz dieser Waffen bedeuten würde – nämlich die direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland.

Mit dieser Warnung will er nicht zuletzt die westliche Öffentlichkeit aufschrecken, in der Hoffnung, sie wende sich stärker als bisher gegen ihre politische Führung. Auch die Inkraftsetzung der erneuerten Nukleardoktrin am Mittwoch war wohl als Abschreckung nach aussen und als Versicherung der Stärke nach innen gedacht. Der Kreml hatte seine «roten Linien» in den vergangenen bald drei Jahren des Krieges gegen die Ukraine immer wieder verschoben und damit vor allem die Scharfmacher verärgert. Die breite Masse der Bevölkerung, die den Krieg mehr oder weniger unwillig mitträgt, fürchtet sich vor dem Ausbruch eines dritten Weltkriegs. Putins Auftritt sollte ihnen zeigen, dass Russland die Lage im Griff habe, aber – im Unterschied zum Westen – besonnen handle.

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