Samstag, Oktober 5

Der Krieg in der Ukraine zieht sich in die Länge. In Putins Kalkül dürften die Binnenmeere eine wichtige Rolle spielen. Je nachdem, wie hoch der Preis für den Krieg ausfällt, wird er auch die Ostsee in seine Machtstrategie einbeziehen.

In den geopolitischen Debatten des 20. Jahrhunderts haben Binnenmeere eine nachgeordnete Rolle gespielt. Im Zentrum der Kontroversen stand vielmehr die Frage, ob die Kontrolle der Weltmeere oder die Beherrschung der eurasischen Landmasse der Schlüssel zur Weltherrschaft sei. Für die Weltmeere sprach der Welthandel; wer ihn kontrolliere, so der amerikanische Admiral Alfred Thayer Mahan, beherrsche die Welt.

Mahan stützte seine Überzeugung auf die Geschichte des britischen Empire, und er legte seinen amerikanischen Landsleuten nahe, sich an der englischen Geostrategie der maritimen Stützpunktbildung zu orientieren, wenn sie, wovon er ausging, im 20. Jahrhundert an die Stelle der Briten als dominierende Weltmacht treten würden.

Im Gegensatz dazu vertrat der britische Geopolitiker Halford Mackinder die Auffassung, dass sich mit dem Ende des 19. Jahrhunderts das Zentrum der Weltherrschaft von den Ozeanen aufs Land verlagert habe, wofür er insbesondere den Bau transkontinentaler Eisenbahnlinien verantwortlich machte. Westsibirien war seiner Auffassung nach der neue Mittelpunkt der Welt.

Sieht man sich die gegenwärtigen Transportraten der Reedereien und ihrer riesigen Containerschiffe an, kommt man zu dem Ergebnis, dass Mahan in jeder Hinsicht recht behalten und Mackinder die Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen weit überschätzt habe. Tatsächlich aber steht das russische ebenso wie das amerikanische Nachdenken über geopolitische Konstellationen und die daraus erwachsenden geostrategischen Direktiven eher in der Tradition Mackinders als der Mahans.

Strategische Achsen

Der ehemalige amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, der die geopolitischen Überlegungen in den USA bis heute prägt, hat den Fortbestand einer weltpolitischen Dominanz der USA davon abhängig gemacht, dass die USA die West- und Mitteleuropäer als verlässliche Verbündete behalten und dafür sorgen, dass Russland und China keine enge Beziehung miteinander eingehen.

Sein russischer Kontrahent Alexander Dugin geht wiederum davon aus, dass Russland zur global dominierenden Macht aufsteigen werde, wenn es ihm gelinge, aus dem Zentrum der potenziellen Weltherrschaft heraus strategische Achsen nach Osten, Süden und Westen zu schlagen, womit es den angeblichen Einschliessungsring der ozeanischen Macht, der USA, aufsprengen würde. Beide denken globale Dominanz von der eurasischen Landmasse her.

Nun sind geopolitische Analysen mitsamt geostrategischen Direktiven Empfehlungen für den optimalen Fall politischer Entscheidungsfreiheit. Aber der ist nur selten gegeben. Fast immer kommen Ereignisse dazwischen, die von der Befolgung der «reinen Lehre» ablenken. Im Fall der USA waren dies die wirtschaftliche Konkurrenz mit China und eine Politik der Handelszölle gegenüber den Chinesen, die in eine zunehmende Konkurrenz mündete.

Dazu kam die Präsidentschaft Trumps, denn er betrieb Politik nach der Opportunität von Deals (oder dem, was er dafür hielt) und interessierte sich nicht weiter für Geostrategie. So ging er auf einen scharfen Konfrontationskurs gegenüber China und sorgte gleichzeitig für eine wachsende Entfremdung zwischen den USA und Europa. Und bei der russischen Geostrategie der drei Achsen kam zwar die zu Iran zustande, aber nicht die nach Japan oder die nach Deutschland, wobei der Ukraine-Krieg auch noch die zuvor intensiven Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland zum Erliegen gebracht hat.

Der Preis des Risikos

Der Wert geopolitischer Analysen lässt sich an dem Preis ermessen, den deren Nichtbefolgung zur Folge hat. Im optimalen Fall hat dieser Preis bei den Beratungen über die einzuschlagende Politik eine Rolle gespielt, und die Höhe des Preises ist gegen den Nutzen des Abweichens aufgerechnet worden.

Zugegeben: Diese Vorstellung geht von einer rationalen Politik aus, und das zu unterstellen, ist mitnichten immer zutreffend. Die Unterstellung ermöglicht jedoch, die Kosten einer zuwiderlaufenden Entscheidung zu überschlagen. Was also war, um es zu konkretisieren, der angenommene Nutzen des offenen Angriffskriegs gegen die Ukraine, den sich Putin und seine Umgebung versprochen haben?

Zwar kann man nicht ausschliessen, dass man im Kreml davon ausgegangen ist, die Europäische Union und insbesondere die Deutschen würden die Einverleibung der gesamten Ukraine mit ebensolcher Zurückhaltung hinnehmen wie sie das im Fall der Krim getan haben, so dass der zu zahlende Preis eher gering wäre. Doch war dies ein riskantes Kalkül, setzte es doch voraus, dass die Eroberung der Ukraine innerhalb einer Woche vonstattengehen und es dabei nicht zu grösseren Kampfhandlungen kommen würde.

Vor einer solchen Annahme hätte der russische Geheimdienst warnen müssen. Und auch die russische Führung hätte kaum von ihr ausgehen können, wenn sie ernst genommen hätte, was sie selbst öffentlich behauptete: dass in der Ukraine Faschisten an der Macht seien und namentlich die USA das Land zum vorgeschobenen Posten der Nato zwecks Einkreisung Russlands ausgebaut hätten.

Was sich Putin versprochen hat

Nun lässt sich nicht ausschliessen, dass die Entscheidung zum Angriffskrieg gegen die Ukraine tatsächlich auf der Grundlage unbedarfter Annahmen gefallen ist. Dennoch lohnt sich die Frage, welchen politischen Nutzen sich die russische Führung von der Einverleibung der Ukraine versprochen hat, als sie sich zum Eroberungskrieg entschlossen hat.

Einige verweisen auf eine Abwehr der Einkreisung durch die Nato, aber das ist kein plausibles Argument, da ein Riesenreich wie Russland geostrategisch nicht einzukreisen ist. Es dürfte nicht um die Verhinderung eines Nachteils, sondern um das Einstreichen eines Vorteils gegangen sein, und zwar eines Vorteils, der als so gross angesehen wurde, dass man dafür erhebliche Risiken in Kauf zu nehmen bereit war.

Damit kommt erneut die Geopolitik ins Spiel, freilich nicht die der Weltmeere und der grossen Landmassen, sondern die der Binnenmeere, im konkreten Fall des Asowschen und des Schwarzen Meeres. Wirft man einen Blick in die Geschichte der Imperien, so haben Binnenmeere immer wieder als Nukleus von imperialen Machtbildungen gedient. Das ist über der Entgegensetzung von ozeanischen und tellurischen Grossreichsbildungen in jüngerer Zeit in Vergessenheit geraten.

Das Imperium Romanum mit dem Mittelmeer als Zentrum war eine auf ein Binnenmeer gestützte Grossreichsbildung; das Osmanische Reich mit dem Schwarzen Meer und dem östlichen Mittelmeer als Mitte war es ebenfalls, und auch die schwedische Reichsbildung um die östliche Ostsee ist diesem Typus von Imperialität zuzurechnen. Wer ein Binnenmeer beherrscht, kontrolliert auch die Küstenregionen, und aus beiden bezieht er qua Steuern und Zöllen die Einnahmen, aus denen er das Reich finanziert.

Der «unversenkbare Flugzeugträger»

Das Binnenmeer ist das wirtschaftliche und logistische Rückgrat der Reichsbildung. Das geostrategische Interesse der russischen Führung am Schwarzen Meer lässt sich an ihrer Kaukasuspolitik der letzten zwanzig Jahre nachzeichnen. Von der Amputation Georgiens bis zur Unterstützung Armeniens ging es darum, die Ostküste des Schwarzen Meeres unter Kontrolle zu halten und engere Bindungen der dortigen Länder zur EU schon im Ansatz zu verhindern.

Die Besetzung und Annexion der Krim als «unversenkbarer Flugzeugträger» im Schwarzen Meer war dann der nächste Schritt, auf den schliesslich der offene Krieg gegen die Ukraine folgte. Es kommt nicht von ungefähr, dass dieser Krieg auch als ein Krieg um die Kontrolle über das Schwarze Meer geführt wird.

Nicht dass Russland eine binnenmeerzentrierte Macht werden will. Aber die Kontrolle des Schwarzen Meeres ist für Putin ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur globalen Macht. Hinweise in diese Richtung finden sich sowohl bei Brzezinski als auch bei Dugin, bei Ersterem als Direktive des Fernhaltens der Russen von der Ukraine, bei Letzterem als Imperativ zu deren Inbesitznahme.

Bei all dem dürfte für die Russen auch das Verhältnis zur Türkei eine Rolle gespielt haben, dem alten Kontrahenten um das Schwarze Meer im Krimkrieg und im Ersten Weltkrieg. Dass die Türkei in die Nato aufgenommen wurde, wiewohl sie alles andere als ein demokratischer Rechtsstaat war (und unter Erdogan auch nicht mehr ist), hatte einen geostrategischen Grund, nämlich die Sowjetunion vom Zugang zum Mittelmeer – und damit von einer Einflussnahme auf das arabische Erdöl – fernzuhalten.

Wie hoch der Preis ausfällt

Die Türkei hat sich inzwischen, wenngleich nach wie vor Nato-Mitglied, weit vom Westen entfernt und betreibt die Politik einer eigenständigen Mittelmacht. Das eröffnet Russland die Option eines geopolitischen Neuarrangements für den gesamten Raum. Mit Syrien steht es bereits in der arabischen Welt, und mit Iran verbindet es eine antiamerikanische Grunddirektive. Das alles hat die Präsenz im Schwarzen Meer, von dem Russland nach dem Zerfall der UdSSR nahezu ausgesperrt war, hochgradig attraktiv gemacht.

Man kann davon ausgehen, dass der Raum um das Schwarze Meer auch nach einem wie auch immer gearteten Ende des Kriegs in der Ukraine einer der Instabilität und der immer wieder aufflackernden Kriege bleiben und dass das erhebliche Auswirkungen auf den Balkan haben wird. Hinzu kommt, dass die Geopolitik der Binnenmeere aus russischer Sicht auch für den Ostseeraum gilt: Alles, was mit Blick auf das Schwarze Meer gesagt wurde, lässt sich mit geringfügigen Modifikationen auch über die Ostsee sagen: für Russland ein seit Peter dem Grossen beherrschter Raum, der attraktiv ist, wenn es darum geht, einen starken Einfluss auf Mittel- und Westeuropa auszuüben.

Ob Russland auch hier zum Aggressor wird, dürfte vermutlich davon abhängen, wie hoch der Preis ausfällt, den es für seinen Revisionskrieg in der Ukraine und um das Schwarze Meer zu zahlen hat. Je höher dieser Preis ist, desto eher ist mit einer verlässlichen Befriedung dieses Raumes zu rechnen. Und je niedriger er ist, desto mehr Nachahmer wird Putin finden.

Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Exit mobile version