Dienstag, Oktober 8

In Kamjanka fanden beide Künstler Inspiration, die Kleinstadt lebte gut von der Erinnerung. Doch seit das Moskauer Regime Kultur als Waffe einsetzt, muss sich auch das Museum in den Abwehrkampf einreihen.

Grüner und friedlicher als Kamjanka ist kaum ein Ort in der Zentralukraine. Dass hier ein weltberühmter Musiker und ein Poet Inspiration fanden, versteht man sofort. Grün ist das Wasser des Tjasmin-Flusses, der zwischen steinernen Wänden durch einen Canyon fliesst. Sattgrün sind die Bäume des Stadtparks gleich daneben, die eine Statue des Schriftstellers Alexander Puschkin umgeben. Und mittendrin steht das «grüne Häuschen», in dem Tschaikowsky Ende des 19. Jahrhunderts fast dreissig Mal residierte.

Der russische Komponist kam nach Kamjanka, um Moskau zu entfliehen. Hier lebte seine Schwester Alexandra, die mit einem lokalen Adligen verheiratet war. «Nie in meinem Leben habe ich einen angenehmeren Sommer verbracht», schrieb ihr Peter Tschaikowsky nach seinem ersten Besuch im Jahr 1865. Später flüchtete er in die tiefe ukrainische Provinz, um seiner Scheinehe zu entfliehen. Er war sie eingegangen, um seine Homosexualität zu verbergen.

Selbst heute, in Kriegszeiten, ist das Tschaikowsky- und Puschkin Museum gut besucht. Die Leute kommen mit Bussen aus der Region und der relativ nahen Hauptstadt Kiew. Sie wollen Tschaikowskys Klavier sehen, die Fotos seiner Familie, die Partituren. In einigen Räumen des Museums stehen Erinnerungsstücke. Doch das «grüne Häuschen» ist geschlossen: Seit Beginn von Moskaus Angriffskrieg 2022 sieht sich die Ukraine auch in einem Abwehrkampf gegen den imperialen Geist der russischen Kultur. Gerade auch in Kamjanka.

Die Gewalt der «russischen Welt»

«2022 kam die russische Welt zu uns, um alles zu zerstören», sagt die Museumsdirektorin Halina Taran. Der Begriff «russische Welt» steht für Putins imperialistische Ambition, all das zurückzuholen, was nach seiner Meinung zu Russland gehören muss, auch die Ukraine. Neben dem Militär setzt Putin für seine grossrussischen Phantasien die Kultur ein. Wie «soft» und «hard power» auf zerstörerische Weise verschmelzen, zeigt sich in den besetzten ukrainischen Gebieten, wo die Russen jeden Widerstand mit Gewalt ersticken und gleichzeitig alles Ukrainische aus Strassen- und Ortsnamen tilgen.

Der Name Puschkin ist dabei deutlich belasteter als jener Tschaikowskys. Dass der Zar den Poeten 1820 wegen dessen spitzen Feder in die heutige Südukraine verbannte, nutzt Moskau perverserweise dazu, die «ewig währende» Verbundenheit dieser Gebiete mit Russland zu verkünden. Dabei hatte Puschkin ein widersprüchliches Verhältnis zu Moskau: Einerseits verteidigte er die Niederschlagung des Aufstands in Polen. Andererseits sympathisierte er mit der Dekabristen-Bewegung, die sich 1825 erfolglos gegen den Zaren erhob. Weil Kamjanka eines ihrer Zentren war, genoss Puschkin Gastrecht. Hier schrieb er «Der Gefangene im Kaukasus» fertig. Die Stadt wird auch in «Eugen Onegin» erwähnt.

Zum Symbol des russischen Imperialismus wurden Kamjanka und Puschkin aber erst 100 Jahre nach seinem Tod. 1937 widmete ihm Stalin in seiner Hochphase ein ganzes Puschkin-Jahr. Die Kommunistische Partei erfand den Literaten neu als Übervater der grossrussischen Literatur, als «Führer der Poeten», mit dem der Gewaltherrscher Stalin die Bühne teilte. Gleichzeitig ermordeten die Kommunisten Millionen von Ukrainern im Holodomor und erschossen im Grossen Terror Hunderttausende von Sowjetbürgern.

Ebenfalls 1937 widmete das Regime Puschkin in Kamjanka ein Museum, drei Jahre später wurde es um Tschaikowsky erweitert. Diese Vorgeschichte und weniger die Biografien der beiden Künstler macht den Ort für die Ukrainer so problematisch: «Unser Feind ist nicht Tschaikowsky selbst, sondern nur die ideologische Marke, welche die Sowjetunion und der Putinismus aus ihm gemacht haben», schreibt die Musikwissenschafterin Olena Kortschowa.

«Tschaikowsky nicht dem Feind überlassen»

Die Museumsführung weiss, dass es heute nicht mehr genügt, den Besuchern nostalgische Bilder und Klaviermusik aus einer vergangenen imperialen Ära zu vermitteln, wie sie dies früher tat. Sie muss sich positionieren, in den Verteidigungskampf einreihen. Bei Puschkin sind die Vorgaben relativ klar: Die Behörden haben beschlossen, seine Statue aus dem Park zu entfernen. Manche Mitarbeiterinnen bedauern das. Aber sie haben ein Rechtfertigungsproblem weniger.

Bei Tschaikowsky wirkt die 70-jährige Direktorin Halina Taran hingegen etwas ratlos. Sie, die das Museum seit 1999 leitet, ist keine Revolutionärin und wohl auch keine glühende Nationalistin. «Wir sollten Tschaikowsky nicht dem Feind überlassen», sagt sie. Das heisst, dass sie ihn neu deutet, gewissermassen als Proto-Ukrainer. «Sein Urgrossvater hatte Kosaken-Wurzeln, aber er wusste das nicht», führt sie aus. Und: «In jedem seiner Stücke stecken ukrainische Elemente, er fügte sie aus seinem genetischen Unterbewusstsein ein.»

Taran weiss sich mit solchen Aussagen auf sicherem Boden. Denn ganz verabschiedet hat sich die Ukraine von Tschaikowsky nie – trotz regelmässigen Appellen, seine Stücke auch im Ausland nicht mehr zu spielen. Nach ihm benannte Strassen gibt es weiterhin in vielen Städten des Landes, und sogar die Nationale Musikakademie will ihn in ihrem Namen behalten. Dieser ist für die internationale Wahrnehmung schlicht zu zugkräftig. Entsprechend lautet die von der nationalen Politik mitgetragene Kompromissformel, Tschaikowsky sei im Kern ein Ukrainer. Man müsse sein kreatives Erbe aber aus Russland zurückholen.

Tatsächlich war Tschaikowskys Urgrossvater in Krementschuk geboren, 100 Kilometer östlich von Kamjanka. Doch der Komponist hätte diese Stadt nicht als Teil der Ukraine, sondern höchstens «Kleinrusslands» verstanden, wie man das heutige Staatsgebiet damals bezeichnete. Die Elite in Moskau blickte herablassend auf die anderen Völker des Reiches herab. Sie konnten per Definition nicht so hoch entwickelt sein wie ihr «grosser Bruder».

Auch Tschaikowsky war ein Imperialist, nicht nur, weil er Musik für die Krönung von Zar Alexander III. schrieb. Er sah seine Musik als Mittel zur Schaffung einer grossrussischen Kultur, die sich vom Westen emanzipieren sollte. Zu seinen Innovationen gehörte, dass er volkstümliche Elemente aus Teilen des Reiches in seine Kompositionen einfügte, wie die Volkstänze im Ballett «Der Nussknacker». Als Ausdruck von Moskau unabhängiger nationaler Identitäten verstand er diese Elemente aber nicht. Vielmehr sollten sie dazu dienen, gerade die «Kleinrussen» näher an die imperiale Kultur heranzuführen.

In Kamjanka inspirierten ihn wiederholt Begegnungen mit Bauern und Bediensteten. Eine Melodie, die einer von ihnen sang, nahm er ins Klavierstück «Scherzo à la russe» auf. Das bekannte ukrainische Volkslied «Der Kranich» prägt das Finale seiner Sinfonie Nummer 2. Diese ist auch als «Die Kleinrussische» bekannt. Über die Lokalbevölkerung sprach Tschaikowsky dennoch höchstens gönnerhaft. Die «Chochly», wie er die Ukrainer abwertend nannte, beschrieb er als «Eingeborene», die einfach gestrickt und stets etwas misstrauisch gegenüber Fremden seien.

Ukrainische Inspiration für einen Imperialisten

Diese widersprüchliche, aber durchaus auch von Zuneigung geprägte Beziehung Tschaikowskys zu Kamjanka macht den Umgang mit ihm für die Ukraine nicht leichter. Die Bereitschaft, ihn entweder zu verstossen oder als ukrainischen Künstler komplett neu zu erfinden, fehlt. Die Energie, dies neben dem Verteidigungskrieg zu tun, ist schlicht nicht da. Dazu kommt, dass die Position des Kulturministers in Kiew seit über einem Jahr unbesetzt ist. Weil dort wenig entschieden wird, steht auch die Puschkin-Statue weiterhin an ihrem Ort.

Vielleicht passt es deshalb gut zu dieser verwirrlichen Lage, dass sich auch das Museum von Kamjanka in einem Übergangsstadium befindet. Es zeigt eine Ausstellung über die Geschichte der Region, die Bilder von ukrainischen Gefallenen und einige der Räume, die Tschaikowskys Leben gewidmet sind. Sie werden aber anders benutzt – in einem knüpfen Freiwillige Tarnnetze. Schnüre und Stoffballen hängen wild über Bildern und Möbelstücken. Nur im Stadtwald herrscht trotz Krieg und kulturpolitischen Turbulenzen Ruhe.

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