Montag, September 16

Nach den Landtagswahlen könnten zwei Parteien des linken und des rechten Randes in das parlamentarische Kontrollgremium in Erfurt einziehen. Das würden die anderen gern verhindern – mit schweren Folgen für die Demokratie.

Wenn die AfD in Deutschland an die Regierung käme, dann würde der Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes noch am selben Tag mit seiner Familie auswandern. Das hatte Stephan Kramer nach der Wahl des AfD-Politikers Robert Sesselmann zum Landrat des Landkreises Sonneberg im vergangenen Jahr gesagt. Kramer war zehn Jahre lang der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland und ist Mitglied der Sozialdemokraten.

Nun sind erst im kommenden Jahr die nächsten Bundestagswahlen. Doch wesentlich angenehmer dürfte das nun in Thüringen mögliche Szenario für Kramer auch nicht sein. Er ist seit Dezember 2015 der Verfassungsschutzpräsident und könnte künftig von einem Gremium kontrolliert werden, in dem mindestens ein AfD-Mitglied sitzt. Diese Partei wurde von Kramers Behörde als «erwiesen rechtsextremistisch» eingestuft und wird von ihr seit mehreren Jahren beobachtet.

Grundlage für die Kontrolle von Kramers Behörde bildet das Thüringer Verfassungsschutzgesetz. Danach besteht die Parlamentarische Kontrollkommission für den Landesverfassungsschutz aus fünf Mitgliedern, die der Landtag zu Beginn der Wahlperiode mit einer Zweidrittelmehrheit bestimmen muss. Dabei hat die Opposition «im Verhältnis ihrer Stärke zu den regierungstragenden Fraktionen und parlamentarischen Gruppen des Landtags» im Gremium vertreten zu sein.

AfD hat eine Sperrminorität

Seit den jüngsten Wahlen ist klar, dass keiner der fünf Sitze in dem Gremium mehr ohne die Zustimmung der AfD vergeben werden kann. CDU, BSW, Linke und SPD verfügen gemeinsam über 63,64 Prozent der Sitze im Landtag. Für eine Zweidrittelmehrheit brauchten sie aber 66,66 Prozent. Mit ihrem Anteil von 36,36 Prozent verfügt die AfD daher über eine Sperrminorität.

Jahrelang hatten die im Landtag vertretenen Parteien die in Teilen rechtsradikale Partei mit ihrer Mehrheit von vielen Ämtern und Posten ausgeschlossen. Nun kann die AfD auf einigen Feldern der Landespolitik den Spiess umdrehen. Dazu gehört etwa die Besetzung von Richterposten am Verfassungsgerichtshof in Weimar. Für die AfD ist die Besetzung der Parlamentarischen Kontrollkommission aber mutmasslich noch wichtiger.

Für diese vertrackte Lage sind insbesondere die linken Parteien im Landtag verantwortlich. Sie wollten in der abgelaufenen Wahlperiode unbedingt das Thüringer Verfassungsschutzgesetz ändern. Im Dezember 2022 bewirkte die Minderheitsregierung von Linkspartei, SPD und Grünen gemeinsam mit der FDP und bei Enthaltung der CDU, dass statt einfacher Mehrheit nun zwei Drittel der Abgeordneten der Wahl zum Parlamentarischen Kontrollgremium zustimmen müssen. Das war, wie sich nun zeigt, ein Schuss ins eigene Knie.

Krieg um die Kontrollkommission

Hintergrund dieser Änderung war damals, dass vor allem die linken Parteien unter dem bisherigen Regierungschef Bodo Ramelow der CDU misstrauten, nicht doch gemeinsame Sache mit der AfD zu machen. Darunter verstanden sie eine parlamentarische Zusammenarbeit, die auch Einfluss auf die Besetzung des Kontrollgremiums hätte nehmen können.

Im letzten Landtag waren diese Befürchtungen noch gegenstandslos, denn da kamen Christlichdemokraten und AfD zusammen auf nur 43 von 90 Stimmen. Das hätte nicht für eine Mehrheit gereicht. Allerdings gab es auch noch die FDP, und da sich Thomas Kemmerich seinerzeit mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten hatte wählen lassen, traute die Linke der Sache nicht. Seit Jahren bekriegen sich im Thüringer Landtag die verschiedenen Parteien bei der Besetzung der Parlamentarischen Kontrollkommission, sogar dann, wenn sie gemeinsam in der Regierung sitzen.

Immer wieder scheiterten in der Vergangenheit einzelne Abgeordnete der Linkspartei, der Grünen und der AfD. Mal handelte es sich um einen früheren Parteikader der DDR-Staatspartei SED, mal um eine äusserst linke Grüne. Mehr als fünfzig Mal hatte die AfD versucht, einen ihrer Kandidaten in das Gremium wählen zu lassen. Wiederholt warfen sich CDU, Linke und die anderen Parteien vor, nicht die Bedürfnisse des Landes, sondern parteipolitische Interessen im Blick zu haben. Das wirft ein Schlaglicht auf die bundespolitische Diskussion, wie neutral der Inlandsgeheimdienst ist.

Die Parlamentarische Kontrollkommission ist eines der wichtigsten Gremien des Landtages. Was dort besprochen wird, unterliegt strenger Geheimhaltung. Monatlich informiert der Innenminister über die Tätigkeit des Verfassungsschutzes. Zu dessen Aufgaben gehört die Abwehr ausländischer Spionage und Sabotage, aber auch die Bekämpfung politisch-extremistischer Bestrebungen. Nur ist diese Bekämpfung nun zunehmend Gegenstand politischer Auseinandersetzungen.

Die Kommissionsmitglieder können den Präsidenten des Amtes und andere Mitarbeiter vor das Gremium zitieren und von ihnen Einsicht in geheime Berichte verlangen. Personalbefugnisse haben sie indes nicht. Der Verfassungsschutzpräsident ist politischer Beamter. Er kann nur vom Ministerpräsidenten berufen oder entlassen werden.

Die Ausnahme wird zur Regel

Die Zerstrittenheit des Thüringer Landtags hat dafür gesorgt, dass es die meiste Zeit der nun abgelaufenen Wahlperiode kein ordnungsgemässes Kontrollgremium gegeben hat. Der Kommission gehörten teilweise Mitglieder an, die noch vom vorherigen Landtag gewählt worden waren. Dem Verfassungsschutzgesetz gemäss ist das unzulässig.

Allerdings gibt es eine Ausnahmeregelung. Danach muss die parlamentarische Überwachung des Verfassungsschutzes lückenlos gewährleistet sein. Das heisst: Solange ein neuer Landtag noch kein Kontrollgremium gewählt hat, bleibt das alte im Amt.

In Erfurt ist die Ausnahme indes zur Regel geworden. Bis zum Spätsommer dieses Jahres hatte sich im Landtag kein neues Kontrollgremium konstituiert. Nicht zuletzt die AfD hatte dieses Vorgehen immer wieder kritisiert. Ein Rechtsgutachten des wissenschaftlichen Dienstes im Landtag aus dem April 2024 bestätigte diese Kritik weitgehend. Darin heisst es, dass lediglich eine «kurzfristige Übergangslösung» verfassungsrechtlich zulässig sei. Eine Interimszeit von mehr als vier Jahren aber erscheine «unter dem Gesichtspunkt schwindender demokratischer Legitimation verfassungsrechtlich problematisch».

So sieht es auch der Verfassungsrechtler Christoph Gusy von der Universität Bielefeld. Je länger ein Kontrollgremium interimsweise amtiere, desto mehr verliere es seine demokratische Legitimität, sagt er. Es entstehe zwar juristisch kein Zeitdruck, aber politisch. Die Parteien der politischen Mitte, wie sich Linke, SPD, Grüne, FDP und CDU im Thüringer Landtag heute nennen, mussten also handeln.

Ein Kontrollgremium ohne Parlamentarier

Wenige Tage vor der Wahl am 1. September konstituierte sich ein Kontrollgremium, das nicht die vorgeschriebenen fünf, sondern nur vier Mitglieder hatte. In dem Gremium sitzen nun zwei Vertreter der CDU und jeweils einer der SPD und der FDP. Das Problem: Keiner von ihnen hat seit dem Wahlsonntag noch ein Mandat. Sowohl die beiden CDU- als auch der SPD-Vertreter haben nicht mehr für den Landtag kandidiert. Weil das lange bekannt war, hat das Parlament offenbar in Kauf genommen, Personen mit der Kontrolle des Verfassungsschutzes zu beauftragen, von denen es wusste, dass sie schon bald keine Abgeordneten mehr sein würden.

Das war offenkundig weniger relevant als die Frage der politischen Verlässlichkeit. Die Zweifel an der demokratischen Legitimation einer solchen Konstellation, wie sie der Verfassungsrechtler Gusy äussert, schienen keine Rolle zu spielen.

Der Landtag könnte das korrigieren, indem er bald ein neues Kontrollgremium wählt. Doch das dürfte schwierig werden. Mit ihrer Sperrminorität kann die AfD jeden Kandidaten der anderen Parteien verhindern. Da diese Parteien aber auch nicht mit der AfD zusammenarbeiten wollen, ist der Landtag bei der Besetzung des Kontrollgremiums mutmasslich abermals blockiert.

Der Wahlsieger bleibt aussen vor

Das ist ein klassisches Dilemma. Die AfD hat die Landtagswahl in Thüringen mit Abstand gewonnen. CDU, SPD und Wagenknecht-Partei erwägen derzeit eine Koalition unter Duldung der Linkspartei. Sie stehen nun vor der Frage, ob sie die AfD in das Parlamentarische Kontrollgremium holen oder ob sie damit eine Gruppe von Politikern beauftragen, deren demokratische Legitimation zweifelhaft ist.

Für Thüringens Verfassungsschutzpräsidenten Kramer dürfte die Antwort folgenreich sein. Seine Behörde sammelt etwa seit Jahren Informationen über Björn Höcke, der als Spitzenkandidat der AfD die Landtagswahlen gewonnen hat. Doch auch für andere Landesverfassungsschutzämter und den Bundesverfassungsschutz ist die Frage bedeutsam, wie es mit dem Parlamentarischen Kontrollgremium in Thüringen weitergeht.

Die Verfassungsschutzämter sind gesetzlich zur Zusammenarbeit verpflichtet. Im sogenannten Verfassungsschutzverbund tauschen sie etwa Informationen über Personen und Organisationen aus, die ihrer Ansicht nach gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung agieren. Wie würden sie reagieren, wenn die Thüringer Behörde künftig auch von der AfD kontrolliert würde, einer Partei, die nicht nur in Teilen rechtsradikal ist, sondern auch eine unkritische Nähe zum Kreml-Regime aufweist? Würden sie Thüringen aus dem Verbund ausschliessen? Das fragte die NZZ mehrere Landesämter und das Bundesamt in Berlin. Sie wollten sich dazu jedoch nicht äussern.

Vielleicht auch deshalb, weil es noch eine Möglichkeit gibt, wie Thüringen das Dilemma lösen könnte. Der neue Landtag müsste das Verfassungsschutzgesetz wieder ändern – von der Zweidrittelmehrheit zurück zur einfachen Mehrheit. Ein Problem bliebe dann allerdings bestehen: Es liesse sich damit vielleicht ein AfD-Vertreter in dem Gremium verhindern. Mutmasslich nicht aber ein Vertreter der linkspopulistischen und Moskau-freundlichen Partei von Sahra Wagenknecht.

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