Donnerstag, November 13

Der russische Präsident Wladimir Putin reagiert nach knapp einer Woche auf den ukrainischen Angriff in Kursk. Was er sagt, irritiert zwar Propagandisten und Betroffene. Die Kritik am Krieg wird aber keineswegs grösser – im Gegenteil.

Der Monat August ist in Russland schon lange zu einem Synonym für Erschütterungen und Katastrophen geworden. An zwei Ereignisse wird dieser Tage besonders erinnert: an den Überfall tschetschenischer Terroristen auf die Nachbarrepublik Dagestan vor 25 Jahren und an den Untergang des Unterseeboots «Kursk» ein Jahr später.

Ob sich dereinst die Russen auch an das Eindringen der ukrainischen Armee vor einer Woche auf russisches Territorium in der Region Kursk erinnern wollen? Das Gewicht dieses Ereignisses ist ein noch grösseres. Doch zweieinhalb Jahre Krieg gegen die Ukraine haben offenkundig die Wahrnehmungen verschoben. In der Öffentlichkeit fernab dieser Schauplätze ist das Geschehen kein Thema.

Zurückhaltung des Kremls

Die Kämpfe, die Evakuierung Zehntausender von Bewohnern der Grenzgebiete und der Kontrollverlust über mehr als zwei Dutzend Ortschaften stehen in eklatantem Gegensatz zur Verteidigung der Souveränität. Mit dieser rechtfertigt das russische Regime die «militärische Spezialoperation» in der Ukraine. Während Propagandisten im Staatsfernsehen wie Wladimir Solowjow von einer «präzedenzlosen Eskalation» sprachen, hielt sich der Kreml bis jetzt zurück.

Fast verzweifelt fragten deshalb loyale Kommentatoren, weshalb Präsident Putin sich nicht an die Bevölkerung wende. Er könnte die Situation doch nutzen, um die Gesellschaft aufzurütteln und gegen den Feind zu mobilisieren. Es sind schliesslich verstörende Bilder und Berichte aus der Region Kursk, die die Bevölkerung erreichen.

Erst zum zweiten Mal, und erstmals etwas ausführlicher, äusserte sich nun Putin am Montagnachmittag in einer Sitzung mit Gouverneuren der Grenzgebiete sowie Verantwortlichen in Regierung und Sicherheitsbehörden zu den Ereignissen. Dabei wirkte er ernst, griesgrämig und unruhig, aber auch entschlossen. Das Wichtigste sei nun, die ukrainischen Truppen zurückzudrängen und die Grenze zu sichern, sagte er.

Der amtierende Gouverneur von Kursk, Alexei Smirnow, legte dar, die ukrainische Armee sei zwölf Kilometer tief in die Region vorgestossen, auf einer Breite von vierzig Kilometern, und kontrolliere 28 Ortschaften. 121 000 Personen seien bis jetzt evakuiert worden, weitere 60 000 unterlägen der Evakuierung. Diese Informationen sind für Aussenstehende kaum überprüfbar, zumal im Gebiet Kursk die Regeln einer «Anti-Terror-Operation» und damit erhöhte Sicherheits- und Kontrollmassnahmen gelten.

Die genaue Bewertung dessen, was da geschehen sei, werde später folgen, sagte Putin. Die Ukraine handle im Auftrag ihrer «westlichen Herren», die Krieg gegen Russland führten und sich von dem Vorstoss eine Verbesserung der Verhandlungsposition bei Friedensgesprächen erhofften. «Aber von welchen Friedensgesprächen kann überhaupt die Rede sein mit Leuten, die willkürlich Zivilisten, zivile Infrastruktur und sogar Atomenergieobjekte beschiessen?», fragte er.

Er bezog sich einerseits auf den nächtlichen Brand in einem der Kühltürme des von Russland kontrollierten Atomkraftwerks Saporischja, den die Ukrainer als russische Provokation bezeichneten. Anderseits behauptet die russische Propaganda auch, der ukrainische Vorstoss habe es auf das Atomkraftwerk in Kurtschatow bei Kursk abgesehen.

«Angemessene Antwort» gegen die Ukraine

In seinem kurzen Auftritt lenkte Putin vom Geschehen in Kursk ab, indem er behauptete, die russischen Truppen seien im Donbass jüngst schneller denn je vorgerückt und fügten den Ukrainern schwerste Verluste zu. Auch schlage der Versuch fehl, mithilfe des Angriffs auf die Region Kursk unter den Russen Panik zu säen und die Gesellschaft zu spalten. Der Zulauf der Büros zur Rekrutierung von Soldaten für den Fronteinsatz und zur Verteidigung des Vaterlands habe sich in den vergangenen Tagen verstärkt. Die Ukrainer erwarte eine «angemessene Antwort», und alle festgelegten Ziele der Militäroperation würden erfüllt.

Putins Zurückhaltung, die angesichts des Schreckens fast etwas ohnmächtig erscheint, ist nicht neu. Sie wiederholt sich bei fast allen unerwarteten Ereignissen – seien es Naturkatastrophen, Unglücksfälle, Terroranschläge oder gar, wie im Sommer vor einem Jahr, die Rebellion des Kommandanten einer Privatarmee. Das löst in der Gesellschaft zwar stets Irritationen aus. Aber Putins Ruf und Rückhalt in der Bevölkerung schadet es nicht. Diese hat sich in weiten Teilen in den vergangenen zweieinhalb Jahren an den Krieg gegen die Ukraine gewöhnt, unabhängig davon, wie der Einzelne darüber denkt.

Das Gefühl, der Lauf der Dinge hänge ohnehin nicht von einem selbst ab, ist der entscheidende Grund für die Gleichgültigkeit. Die ständig durch neue Gesetze und Regulierungen verschärfte Repression verleitet zur Anpassung, zumindest nach aussen. Paradoxerweise monieren jetzt loyale Kommentatoren den mangelnden Initiativgeist im Volk und auch innerhalb der Armeestrukturen. Dabei waren die vergangenen zwei Jahrzehnte von Putins Herrschaft dafür eine Lehre: Aktivismus unabhängig vom Kreml wird nicht gefördert, sondern bestraft.

Unmut richtet sich nicht gegen Putin

Die Erwartung mancher westlicher und ukrainischer Kommentatoren, der Vorstoss der Ukrainer blamiere Putin vor seinem Volk, führe ihm die Sackgasse, in die er Russland mit dem Krieg geführt habe, vor Augen und könnte Friedensverhandlungen beschleunigen, war von Anfang an wenig überzeugend. Gerade unter den Betroffenen im Grenzgebiet herrscht zwar – schon seit längerem – Verbitterung darüber, dass ihr Leid anderswo im Land wenig Beachtung findet. Der Staat überlässt dort Zehntausende ihrem Schicksal. Ihr Unmut richtet sich aber gewöhnlich nicht gegen Putin, sondern gegen die Beamten am Ort und gegen das Verteidigungsministerium, dessen Korruptionsskandale und Versäumnisse angeprangert werden.

Oft herrscht unter den Betroffenen zudem völliges Unverständnis darüber, wie es kommen konnte, dass man selbst zum Opfer dieses Krieges geworden ist. Und oft ziehen diese Leute – und auch diejenigen, die ihnen mit Spenden helfen – den Schluss daraus, jetzt müsse Russland es den Ukrainern und dem Westen erst recht zeigen. Ihre Kriegsunterstützung wankt also nicht, sondern wird sogar noch durch die Ereignisse bekräftigt. Die im Exil lebende russische Politologin Jekaterina Schulmann sieht denn für den Moment auch keine Bedrohung für das Regime. Das Wesen autoritärer Regime sei es, primär das eigene Überleben im Blick zu haben. Solange dieses gewährleistet sei, störe auch eine unterschwellige Unzufriedenheit nicht.

Vom Kreml ein Eingeständnis des Scheiterns zu erwarten, wäre absurd. Viel eher stärkten die Ereignisse in Kursk diejenigen Kräfte, die eine Eskalation befürworten, befürchtet der liberale Moskauer Kommentator Andrei Kolesnikow. Das möge zwar in der Gesellschaft, die sich nach Ruhe und Normalität sehnt, die Minderheit sein. Aber in den mächtigen Sicherheitsbehörden und unter den Propagandisten seien sie stark.

Dort herrscht auch die Überzeugung vor, der Westen habe den ukrainischen Vorstoss über die Grenze geplant und die Ukraine sei nur ausführendes Organ. Für den Angriff auf russisches Territorium sei in der Militärdoktrin eine klare Reaktion vorgesehen, raunten die Teilnehmer von Wladimir Solowjows sonntäglicher Fernsehshow und dachten gewiss an die nukleare Option. Der Kreml ringt um die Antwort, und die neue Wendung zeigt ein weiteres Mal, was für ein Desaster der im Februar 2022 vom Zaun gebrochene Krieg nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland selbst ist.

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