Dienstag, Oktober 1

Nach einem Hörsturz hat der frühere Tenor in Zürich eine neue Bühne gefunden. Ein Drama in fünf Akten.

Pyong-Chin Han steht in der Ecke seines Restaurants «Akaraka», an der Kreuzung Bäcker- und St. Jakobstrasse im Zürcher Kreis 4. Seine Augen sind weit aufgerissen, die Arme hält er hinter dem Rücken verschränkt. Dann holt er tief Luft und beginnt zu singen. So laut und kraftvoll, als stünde Han immer noch auf der Bühne des Zürcher Opernhauses. Hier aber essen die Gäste Reiskuchen und gebratenes Hähnchen, während sie dem Konzert lauschen.

Bühne, Publikum, Musik: Das war Hans Welt. Heute umgeben ihn statt Kulissen koreanische Bilder, statt Orchestergraben dampfende Töpfe. Seine Bühne ist das Restaurant, sein Publikum sind die Gäste, und seine Kunst zeigt sich in der koreanischen Küche.

Wie kam es dazu?

Erster Akt: Die Liebe zur Musik

Pyong-Chin Han stammt aus Südkorea. 1967 in Seoul geboren, wuchs er dort mit seinen Eltern und zwei älteren Schwestern auf. Er interessierte sich vor allem für Sport, besonders für Eislaufen und Radfahren. Die Musik entdeckte er erst mit 16 Jahren. Han sagt: «Als ich zum ersten Mal einen Chor singen hörte, wurde mir klar: Das will ich auch machen.» Seine Freunde und seine Familie reagierten skeptisch. «Sie sagten mir: ‹Du bist verrückt!›», erzählt Han. Doch er liess sich nicht entmutigen.

Han begann zu üben, unermüdlich. Der Gesangsunterricht war teuer, Einzellektionen kosteten umgerechnet zwischen 50 und 200 Franken pro Stunde. Für einen Gymnasiasten kaum erschwinglich. Doch Han war Leiter des Schülerchors. Er überzeugte seinen Lehrer, ihn umsonst zu unterrichten.

Nach dem Gymnasium studierte Han an einer renommierten Kunstuniversität in Seoul. Dann bewarb er sich am koreanischen Nationaltheater um eine Stelle als Tenor – ohne grosse Erwartungen, wie er sagt. Doch es kam anders. Einige Tage später erfuhr Han, dass er sich gegen Hunderte anderer Bewerber durchgesetzt hatte: Er war einer der neuen Tenöre im koreanischen Nationaltheater. Sein Traum schien in Erfüllung zu gehen.

Zweiter Akt: Zürich, die neue Heimat

Han erzählt seine Geschichte routiniert. Seine Hände unterstreichen die wichtigen Stellen, fast so, als dirigierte er ein unsichtbares Orchester.

Nach zwei Jahren zog es Han nach Europa, so wie viele koreanische Spitzensänger vor ihm. Er wollte mehr, strebte nach den ganz grossen Bühnen. Han wusste: Für dieses Ziel musste er noch mehr üben. Er bewarb sich an der Musikhochschule in Mannheim und wurde angenommen, trotz schlechten Deutsch- und Englischkenntnissen.

Um Geld zu verdienen, jobbte er in Fabriken und Autogaragen, sortierte alte Felgen und kaputte Reifen von Formel-1-Autos. Das zehrte an ihm. Er wollte singen, zurück auf die Bühne. Und so bewarb er sich am Opernhaus Zürich um eine Stelle als Tenor – und bekam sie, noch bevor er das Studium abgeschlossen hatte. Das war 1996.

In Zürich war er umgeben von seinen Idolen: «Plácido Domingo, José Carreras, Alfredo Kraus – ich konnte es kaum glauben. Jeden Abend ging ich todmüde, aber stolz zu Bett», sagt er und fasst sich an die Brust.

Han spricht leise und in gebrochenem Hochdeutsch. Wenn er einem zuhört, beugt er sich leicht vor, dreht den Kopf zur Seite und hält die Hand muschelförmig ans Ohr, um besser hören zu können. Das macht er seit Januar 2008. Damals geschah, was Han als «meinen kleinen Unfall» bezeichnet.

Dritter Akt: Der Schicksalsschlag

Pyong-Chin Han erzählt es so: Es war eine der letzten Proben für das Stück «Le Cid». Jede Nuance musste stimmen, es dauerte mehrere Stunden. Han sass hinter der Bühne und wartete auf seinen Einsatz.

Plötzlich donnerte ein Knall durch den Raum. So laut, dass Requisiten auf den Boden fielen. Dann herrschte Stille. Han, der direkt neben den Lautsprechern sass, verstand nicht, was passiert war. Er wusste nur: Da ist ein Druck im linken Ohr. Und es pfeift. Es hat bis heute nicht aufgehört.

Später stellte sich heraus: Ein Tontechniker hatte den Kanonendonner, der die nächste Szene markieren sollte, ohne Vorwarnung ausgelöst. Han erlitt einen Hörsturz. Seither fühlt sich sein linkes Ohr an, als sei es in Watte gepackt. Für ihn klingt seine Stimme verzerrt. «Wie ein schlechter Lautsprecher», sagt Han.

Anfangs dachte er, die Beschwerden gingen vorbei. Doch das taten sie nicht. Monate später riet ihm ein Arzt: «Machen Sie etwas anderes als Opernsingen.» Zwei Jahre lang war Han arbeitsunfähig. Die Schmerzen im Ohr quälten ihn, seine Zukunft schien aussichtslos. Mit Mitte 40 sei er zu alt für eine Ausbildung zum Gesangslehrer gewesen, sagt Han. Die IV empfahl eine Umschulung zum Webdesigner oder Buchhalter.

Doch Han entschied: «Ich mache lieber mein eigenes Ding.»

Vierter Akt: Ein neues Kapitel

Eine Idee hatte er schon seit einiger Zeit. Mit einem Freund habe er oft darüber gescherzt, ein eigenes Restaurant zu eröffnen, sagt er und reibt sich den Bauch: «Schliesslich sind wir Sänger Feinschmecker. Wir bekommen Energie vom Essen.» Und in Zürich gab es damals kaum koreanische Restaurants – eine Marktlücke, wie Han findet.

Aus Spass wurde Ernst. Han flog für drei Monate nach Korea, besuchte Kochkurse und setzte sich intensiv mit der koreanischen Küche auseinander. Zurück in der Schweiz, machte er mehrere Kurse beim Verband Gastrosuisse. Unterstützt wurde Han von der IV.

2011 eröffnete Han sein Restaurant in Zürich, damals noch in Altstetten. Schnell merkte er, dass ein Gastrobetrieb mehr verlangt als nur Kochen. Organisation, Buchhaltung, Personal – das habe ihn vor grosse Herausforderungen gestellt. «Meine Frau unterstützte mich zwar in der Küche. Doch all das war viel Arbeit. Es heisst, die ersten zwei Jahre seien die härtesten», erzählt Han. «Also sagte ich mir: Du musst durchhalten, dann hast du es geschafft.»

Han zuckt mit den Schultern. «Das war nun mein Schicksal. Also machte ich weiter.»

Später verklagte er das Opernhaus Zürich. Doch das Verfahren war langwierig. «Es war ein Kampf gegen Windmühlen.» Am Ende erhielt er die gesetzlich festgelegte Mindestentschädigung.

Fünfter Akt: Schmerz und Glück

In der Zwischenzeit hatte das «Akaraka» die ersten schwierigen Jahre überstanden. Aber etwas fehlte. Han meldete sich bei Daniel Bumann, dem Fernseh-Restauranttester. Eine Antwort gab es lange nicht. Dann stand plötzlich ein Kamerateam vor der Tür. «Bumann wollte, dass ich ihm etwas vorsinge», erzählt Han. «Ich sang ihm ‹La donna è mobile› von Rigoletto vor. Er mochte es sehr und sagte zu mir: ‹Gib den Gästen eine Kostprobe deiner Stimme, sie werden begeistert sein!›» Gesagt, getan. Seither singt er jeden Abend.

Doch das gefiel nicht allen. Das «Akaraka» musste umziehen – wegen Lärmklagen der Nachbarschaft. An der Bäckerstrasse fand Han einen neuen Standort, mit schalldichten Wänden und kulanteren Nachbarn.

Heute treffen sich im Restaurant Jung, Alt, Einheimische und Touristen. Einige besuchen das Lokal speziell wegen Hans Gesang, andere kommen zufällig vorbei und sind überrascht, wenn er plötzlich Oper singt. «Den meisten gefällt es», sagt Han stolz. Regelmässig besuchen ihn ehemalige Kollegen vom Opernhaus.

Seine beiden Leben seien ähnlich, sagt er. «Künstler und Restaurantbesitzer sind serviceorientiert. Wenn wir etwas gut machen, sind die Gäste glücklich», erklärt er. «Und wie beim Singen muss ich auch das Kochen trainieren.»

Daher auch der Name des Restaurants. «Akaraka» heisst übersetzt aus dem Koreanischen «Unter Musik und Freude werden wir eins sein». Die Philosophie ziert eine Wand und prägt das ganze Lokal.

Ob er sein altes Leben im Scheinwerferlicht vermisst? Han sagt: «Gerade gestern habe ich davon geträumt, auf der Bühne zu stehen und ‹La Traviata› zu singen.» Solche Momente fehlen ihm. «Es ist ein Verlust. Wie Fussball ohne Ball oder Schwimmen ohne Wasser.» Wenn er könnte, würde er auf die Opernbühne zurückkehren, sagt er.

Trotz dieser Sehnsucht hat Han in seinem Restaurant einen neuen Lebensinhalt gefunden. Hier verbindet er seine Liebe zur Musik mit der Leidenschaft für die koreanische Küche. «Ab und zu vergesse ich den Schmerz», sagt er und fügt an: «Zurzeit bin ich sehr, sehr glücklich.»

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