Von einem Verkehrsknoten, der zum Begegnungsort werden soll – und einem, bei dem das gelungen ist.
Das Tram quietscht, auf der Strasse brausen die Autos, und zwei Bauarbeiter trinken eng aneinandergedrängt ihr Bier, gestützt auf eine überquellende Abfalltonne. Es ist eng, laut und dezidiert ungemütlich.
Und doch sagt Mischa Schiwow, während er von den Pendlern fast umgeworfen wird: «Das hier könnte ein wirklich schöner Quartierplatz sein. Daran glaube ich.»
Schiwow ist Co-Präsident des Quartiervereins Hirslanden, ein ruhiger Mann mit einer grossen Vision. Er will schaffen, was die Stadt Zürich seit über zehn Jahren nicht zustande gebracht hat: den Klusplatz, einen Ort mit dem Charme eines Autobahnknotens, in ein lauschiges Örtchen verwandeln.
Es ist eine schier unmögliche Aufgabe – zumindest wenn man der Stadtverwaltung glaubt. Zwei Vorstösse im Stadtparlament und drei selbst in Auftrag gegebene Studien hat sie schon ausgesessen, ohne dass sich am Platz gross etwas geändert hätte. Seit 2011 fordern Exponenten aus dem Quartier eine Umgestaltung. Ohne Erfolg.
«Jetzt muss endlich etwas passieren», sagt Schiwow. Die Frage ist nur, was.
Vorbild: das Rondell am Bellevue
Schiwow zeigt auf den Platz. Die Tramschleife mit ihren zwei, die Strasse mit ihren vier Spuren. Dazwischen die Bushaltestelle, eine von dreien, die sich über den Platz und die angrenzenden Strassen verteilen.
Alles, so scheint es, hat hier viel Platz: das Auto, der öffentliche Verkehr und sogar das Velo. An der steilsten Stelle der einmündenden Hegibachstrasse hat die Stadt unlängst ein paar praktische Veloparkplätze eingerichtet.
Zum Verweilen aber taugt dieser Platz nicht.
«Wir sind hier im Herzen von Hirslanden», sagt Schiwow. «Vor hundert Jahren waren hier ‹auf der Klus› Ausflugsbeizen, die Kinder spielten auf der Strasse.» Nun soll der Ort wieder zu einem Zentrum werden.
Der Quartierverein hat deshalb ein umfangreiches Projekt ausgearbeitet. Unterschriften gesammelt. Offene Sitzungen mit Hunderten von Quartierbewohnern abgehalten. Er will das verkümmerte Herz des Platzes – die Tram-Wendeschleife – auf Kosten einer angrenzenden Strasse vergrössern. Das soll Raum schaffen für Bäume, Bänklein und ein kreisrundes Haus mit Gastro-Lokal im Erdgeschoss.
Eine ziemlich kühne Idee mit einem prominenten Vorbild: dem Rondell am Bellevue.
Dazu kommt oberhalb des Platzes eine Begegnungszone mit neuer Parkplatzanordnung – sie soll den Zugang zu Beck, Metzger und Apotheke erleichtern, die derzeit von den Pendlerströmen abgeschnitten sind. Ein Kreisel in der Platzmitte soll schliesslich ein breiteres Trottoir an den Rändern und mehr Raum für Fussgänger bringen.
Verkehr, Parkplätze, Bürokratie: Die Hürden sind gross
Bis ein solches Projekt Realität werden kann, ist der Weg allerdings weit. Das Problem, sagt Schiwow, beginne in den Köpfen der Leute: «Es kommt den meisten gar nicht in den Sinn, dass hier etwas Gescheites sein könnte. Man hat sich daran gewöhnt, dass der Platz kein schöner Ort ist – und versucht gar nicht mehr, es zu ändern.»
Dann ist da der Widerstand von oben. «Wir haben das lange so erlebt: Die Stadt hat eine Idee, wie es hier sein muss. Und so wird es dann auch umgesetzt. Quartier und Gewerbe werden höchstens noch pro forma befragt.» Erst jetzt, wo man mit Petition und Projekt Druck mache, werde man vom Tiefbaudepartement auch ernst genommen.
Letzteres bestätigt der NZZ, dass man die Idee aus dem Quartier geprüft und «einzelne Punkte» in die städtische Planung integriert habe. Die Ansätze seien allesamt «theoretisch machbar». Mit einer Ausnahme: Für einen Kreisel auf dem Klusplatz fehle die nötige Fläche.
Grundsätzlich, so die Stadt, sei eine städtebauliche Aufwertung aus ihrer Sicht also durchaus möglich.
Es bleiben aber grosse Hürden: Für die Verlegung der Parkplätze müssten alle betroffenen Grundeigentümer zusagen, für eine Vergrösserung der Wendeschleife eine Sackgasse geschaffen, für das neue Quartierhaus und den Mini-Park davor eine Reihe an Bewilligungen eingeholt werden.
Dazu kommt der Verkehr: Dort ist der Spielraum beschränkt. Das Tiefbauamt schreibt, der Klusplatz müsse aufgrund kantonaler und kommunaler Vorgaben eine Drehscheibe für den Auto- und Busverkehr bleiben, die aus der Stadt hinausführt.
«Stadträume für und mit Menschen» will die Stadt bei ihrer Planung, wo immer möglich, schaffen. Dem stünde jedoch, schreibt das Tiefbaudepartement, «eine Vielzahl von gesetzlichen und räumlichen Rahmenbedingungen gegenüber, die oft kaum Handlungsoptionen übrig lassen».
Vorbild in Italien
Das Beispiel Klusplatz zeigt, wie schwierig es ist, einen gelungenen Quartierplatz durchzusetzen, wo die Stadtplanung keinen vorsieht – und wo man sich längst an dessen Abwesenheit gewöhnt hat.
Unmöglich ist ein solches Unterfangen aber nicht.
Das weiss Beni Weder. Auch er ist Präsident eines Quartiervereins, auch er ist ein Platz-Enthusiast. Weder hat vor Jahren schon geschafft, was Schiwow erst vorhat. Er hat einen öden Knotenpunkt zum Platz gemacht – gegen alle Widerstände, auch jene der Stadt.
Weder kommt aus Wipkingen, und was für seinen Kollegen Schiwow der Klusplatz ist, war für ihn der Röschibachplatz bei der Nordbrücke.
Vor zwanzig Jahren war dort kaum mehr als eine Kreuzung. Autos, Busse und Züge dominierten den Platz. Der Quartierbeiz, dem Café Nordbrücke, drohte der Abriss.
Dann ging Beni Weder 2008 nach Italien in die Ferien. Genauer: nach Bagolino in der Lombardei, «ein kleines Kaff in den Hügeln». Weder erinnert sich noch genau daran, was er damals dachte: «Die haben genau das, was wir uns in Wipkingen wünschen: eine Piazzetta, auf der sich alle treffen, auf der richtig gelebt wird.»
Eine Piazzetta, wie er sie zurück in der Schweiz auch auf dem Röschibachplatz schaffen wollte. Was danach kam, nennt Weder ein «Generationenprojekt».
Eines, das heute Realität ist: Der Röschibachplatz ist zu einem der hipsten Orte in Zürich geworden. Wo früher die Autos brausten, spielen jetzt die Kinder. Einbahnverkehr, Temporeduktion und eine sorgsame Gestaltung des Platzes machen es möglich.
«Das schnallt die Stadt einfach nicht»
Wo Anwohner früher vorbeihasteten, sitzen sie heute stundenlang. Das Café Nordbrücke ist von einer Spelunke zu einem Szene-Café geworden. Wo früher ein Matratzengeschäft günstige Ware verkaufte, sorgen heute Vicafé und Gelateria di Berna für lange Schlangen.
Wie hat Weder das geschafft? Und was können andere Quartiere davon lernen?
Der Quartierpräsident lacht. Es brauche vor allem zwei Dinge, sagt er dann: ein geeintes Quartier – und mächtige Freunde.
Weder berichtet davon, wie er und seine Mitstreiter die Idee für die Piazzetta im Quartier streuten: mit Stühlen, die immer wieder gestohlen wurden, einer temporären Pétanque-Bahn, gemeinsamem Fussballschauen auf dem Platz.
«Wir mussten die Idee in den Köpfen der Leute wachküssen, dass hier eine schlummernde Oase liegt, ein Quartier-Wohnzimmer», sagt er. «Wenn die Vision einmal da ist, entwickeln die Leute von selbst die konkreten Ideen.»
Statt im kleinen Kreis ein fertiges Projekt zu basteln, müsse man mit möglichst vielen Anwohnern, Gewerblern und Interessengruppen eine ganze Palette entwerfen und öffentlich diskutieren – bis man sich irgendwann einig sei.
«Einen lebendigen Platz kann man nicht vom Büro aus planen», sagt Weder. «Das schnallt die Stadt einfach nicht.» Statt in der Raumplanung politische Konflikte über Parkplätze und Velostreifen auszutragen, solle man lieber die «hyperlokalen Experten» eine Lösung suchen lassen.
Konspirative Sitzungen und einflussreiche Freunde
Man merkt es: Auch Weder hatte mit der Obrigkeit zu kämpfen. Erst habe es geheissen, es sei hier kein Quartierplatz vorgesehen, dann habe das Geld gefehlt, dann sei man auf die nächste Planungsperiode vertröstet worden. «Da fand ich schon: Wir sind doch nicht in der Sowjetunion, wo man nach Fünfjahresplan lebt», sagt Weder. «Wir leben jetzt!»
Zum Durchbruch verholfen habe dem Projekt schliesslich die Unterstützung von einflussreichen Freunden. «Ohne die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung geht es nicht», sagt er. Eine geneigte Stadträtin etwa oder ein paar engagierte Beamte, mit denen er sich jeweils zu «konspirativen Sitzungen» ausserhalb der Stadt getroffen habe, um das taktisch klügste Vorgehen abzusprechen.
Einigkeit, eine grosse Vision, mächtige Freunde und ein bisschen geschicktes Taktieren: Ist das also das Rezept für einen guten Zürcher Quartierplatz?
Mischa Schiwow versucht jedenfalls zurzeit, genau so den Klusplatz zu verwandeln – er habe sich, sagt er, auf einen langen Kampf eingestellt. Und auch Beni Weder scheint weiterhin von seinem Rezept überzeugt zu sein. Er und seine Mitstreiter planen – ein paar hundert Meter weiter, wieder an einem Verkehrsknotenpunkt – schon ihren zweiten Quartierplatz.