Vor dem Spiel gegen die Schweiz nimmt der englische Nationaltrainer Änderungen im Spielsystem vor. Doch die Abhängigkeit von Einzelspielern bleibt gross.

Er habe sich ein bisschen gefühlt wie Cristiano Ronaldo, sagte Jude Bellingham nach seinem Goal mittels Fallrückzieher. Tatsächlich wirkte sein Treffer im EM-Achtelfinal gegen die Slowakei, dank dem die Engländer im Turnier blieben, wie eine jener Aktionen, mit denen der portugiesische Weltstar schon dutzendfach Partien entschieden hat. Und wer hat in der womöglich letzten Aktion eines Spiels bei Rückstand schon das Selbstbewusstsein, sich im Strafraum in die Luft zu katapultieren und einen Scherenschlag zu vollführen?

Obwohl eine solche Zirkusnummer grundsätzlich nur wenigen Fussballern gelingt, ist sie im englischen Nationalteam derzeit gleich mehreren Spielern zuzutrauen: dem FC-Bayern-Mittelstürmer Harry Kane, dem Offensivvirtuosen Phil Foden von Manchester City, der soeben als bester Spieler der Premier-League-Saison ausgezeichnet worden ist. Oder eben Bellingham, dem Champions-League-Sieger mit Real Madrid.

Southgate lässt nun mit Dreierkette spielen

Das Fachportal «Transfermarkt» beziffert den Kaderwert der Engländer auf anderthalb Milliarden Euro, er liegt fünfmal höher als der des Viertelfinalkontrahenten Schweiz. Aus diesem Grund werden die Three Lions an dieser EM als Mitfavorit auf den Titel gehandelt, auch jetzt noch nach vier höchst unansehnlichen Turnierauftritten.

Vor dem Duell mit der Schweiz am Samstag geht es für Gareth Southgate in dessen 100. Länderspiel als England-Trainer darum, das Potenzial seiner Mannschaft zu wecken. Dafür soll nach übereinstimmenden Medienberichten ein radikaler Taktikwechsel sorgen: Der Trainer liess in den vergangenen Tagen erstmals an der EM eine Dreierkette im Training einstudieren. Bisher setzte der Trainer nahezu durchweg auf eine Viererkette in der Abwehr.

Die mutmassliche Stiländerung erinnert an die EM 2021, als Southgate bereits mit dem gleichen Schachzug in der K.-o.-Phase überrascht hatte und sein Team in den Final führte. Das Nationalteam beherrscht unter ihm beide Varianten auf ähnlich ansprechendem Niveau.

Gareth Southgate set to radically change England plans for quarter-final

Die taktische Anpassung würde für England einem Neuanfang gleichen. Das Zusammenwirken mehrerer Faktoren führte zur Neuausrichtung: die kompakt funktionierende Dreierkette der Schweizer, die Gelbsperre des am konstantesten spielenden Innenverteidigers Marc Guehi sowie die dysfunktionale Offensive. Die Systemanpassung würde die Raumaufteilung bei gegnerischem Ballbesitz und die Zuteilung zu den Gegenspielern erleichtern. Ebenso würde die Abwesenheit Guehis wol weniger ins Gewicht fallen, weil der Abwehrchef John Stones dann doppelte Unterstützung bekäme, von Ezri Konza links und Kyle Walker rechts.

Auf Basis dieses defensiven Fundaments könnte Southgate die Seiten mit offensiver ausgerichteten Flügelspielern besetzen – und damit Foden von der ihm ungeliebten Linksaussen-Position auslösen. Der 24-Jährige sieht sich selbst als Spielmacher und forderte diese Position immer wieder öffentlich ein. Er würde in der veränderten Aufstellung nach innen rücken und auf gleicher Höhe mit Bellingham hinter der Sturmspitze Kane agieren. Zusammen waren Kane, Bellingham und Foden in der Vorsaison an 131 Toren für ihre Klubs beteiligt. Und auch auf das Spiel der Engländer haben sie riesigen Einfluss: Die vier EM-Tore erzielten Kane und Bellingham – beide trafen zwei Mal.

Das Spielverständnis der drei offensiven Granden ist in Kombinationen immer wieder zu beobachten. Sie deuten das Potenzial der Mannschaft an. Bisher blitzte es allerdings nur sporadisch auf. Weshalb?

Die Abstimmung zwischen ihnen scheint trotz der herausragenden Fähigkeiten noch nicht richtig zu funktionieren. In der bisherigen Formation haben sie für England kaum je zusammengespielt. Wenn Foden und Bellingham gemeinsam auf dem Platz standen, kam Foden meist über die rechte Seite – und Bellingham weiter hinten im Mittelfeld zum Einsatz. Sie haben zudem eine ähnliche Spielweise, wollen wie Kane den Ball am Fuss haben statt ihn erlaufen.

Bisweilen mangelt es dem Team so an Anspielstationen für Steilpässe. Das bremst die Spielzüge aus, zumal im Angriff ohnehin das Tempo fehlt. Im Vereinsfussball ist das anders: Foden hat Erling Haaland als pfeilschnellen Partner, Bellingham bei Real den Tempodribbler Vinícius Júnior und Kane im FC Bayern den flinken Jamal Musiala.

Wie fit sind Bellingham und Kane?

Diese Konstellation erinnert an frühere Turniere der Engländer. In der Vergangenheit hatten die Three Lions häufig wunderbare Einzelspieler, funktionierten aber selten als Mannschaft. Immerhin: Derzeit deutet nichts darauf hin, dass es an schlechten zwischenmenschlichen Verhältnissen der Spieler untereinander liegen könnte. Vielmehr betonen die Spieler durchweg die angenehme Arbeitsatmosphäre im Camp und den Stellenwert des Trainers Southgate.

Dieser Zusammenhalt hebt sich von früheren englischen Turniermannschaften ab. Auch der Eigensinn von Bellingham und Foden hielt sich in den bisherigen Spielen in Grenzen. Sie stellen sich in den Dienst des Teams. Die für die EM nicht nominierten Wortführer Jordan Henderson und Harry Maguire können sie aber noch nicht ersetzen. Deren Kommandos und Erfahrung auf dem Platz haben eine Ordnung ins Team gebracht; ihre Abwesenheit hat sich bisher in der zuweilen ungenügenden Organisation bemerkbar gemacht.

Um gegen die Schweiz besser auszusehen, sind Fortschritte in der Spielanlage nun zwingend. Allerdings bleiben Bedenken in Bezug auf die Fitness der stark beanspruchten Leader Kane und Bellingham. Southgate sagte kürzlich, er müsse «Pflaster über verschiedene Dinge» kleben.

So wird es für die Engländer wohl erneut nur darum gehen, aus einer stabilen Abwehr heraus auf die individuellen Fähigkeiten der eigenen Offensive zu hoffen – besonders auf die von Jude Bellingham.

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