Donnerstag, Oktober 10

Der Kremlherr hat in Sotschi jahrelang Staatsgäste empfangen und wohl seine Geliebte besucht. Doch seit einigen Monaten meidet er die Stadt am Schwarzen Meer. Fürchtet er ukrainische Drohnenangriffe? Satellitenbilder deuten auf eine andere mögliche Erklärung.

Das warme Klima am Schwarzen Meer, die Palmen und das mediterrane Ambiente haben Russlands Herrscher seit der Zarenzeit genossen. Wladimir Putin reiste in seiner 25-jährigen Regierungszeit jedoch besonders oft nach Sotschi, dem traditionsreichen Kurort ganz im Süden des Landes. Bis zu fünf Wochen im Jahr verbrachte er dort, meist im milden Mai und im Frühherbst. Er residierte jeweils im luxuriösen Präsidentensitz «Botscharow Rutschei», gelegen auf einer Anhöhe über dem Meer.

Wo sich einst schon die Sowjetführer Chruschtschow und Breschnew entspannt hatten, empfing er häufig Staatsgäste und hielt Regierungssitzungen ab. In die Annalen der Diplomatiegeschichte eingegangen sind die Fotos von Begegnungen mit westlichen Staatsführern wie George W. Bush, Gerhard Schröder oder Silvio Berlusconi am idyllischen Pier der Residenz. Vor wenigen Jahren liess Putin in seinem Palast sogar eine exakte Kopie seines Moskauer Amtszimmers einbauen – so konnte er die Öffentlichkeit im Ungewissen lassen, wo er sich jeweils gerade aufhielt.

Umso rätselhafter ist, weshalb Putin in diesem Jahr plötzlich einen Bogen um Sotschi macht. Der letzte offiziell bestätigte Besuch fand im März statt, als Putin den Direktor der Internationalen Atomenergieagentur traf. Das Gespräch fand allerdings nicht in der zentralen Palastanlage statt, sondern in einem nahen Konferenzgebäude.

Das Online-Magazin «Projekt», eine Publikation von exilrussischen Investigativjournalisten, hat nun erstmals auf diese Merkwürdigkeiten hingewiesen und eine vom russischen Staat bisher geheim gehaltene Tatsache entdeckt: Der Präsidentenpalast von «Botscharow Rutschei» existiert nicht mehr. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Auf der Plattform Google Maps lässt sich dies leicht nachprüfen. Wo noch vor einem Jahr das Gebäude mit seinen roten Dächern und eine gepflegte Parkanlage zu sehen waren, klafft nun eine hektargrosse Lücke.

Die von Google Maps verwendete Satellitenaufnahme stammt vom Mai 2024. Der Abriss muss folglich vorher erfolgt sein. Aufnahmen des europäischen Sentinel-Satelliten mit geringerer Auflösung deuten darauf hin, dass der Abbruch im Zeitraum von Februar und März stattfand. Dass diese Tatsache erst jetzt ans Licht kommt, ist erstaunlich und zugleich ein Zeichen dafür, wie gut das Putin-Regime Informationen unter dem Deckel halten kann und wie eingeschüchtert die Medien im Land, aber auch gewöhnliche Bürger sind. Denn die Abbrucharbeiten blieben aufmerksamen lokalen Beobachtern kaum völlig verborgen, auch wenn die ganze Anlage von hohen Zäunen umgeben ist.

Um seine Paläste hat das Putin-Regime seit je Geheimniskrämerei betrieben. Von zweifelhafter Berühmtheit ist die 150 Kilometer von Sotschi entfernte, ebenfalls am Schwarzen Meer errichtete Prunkanlage von Gelendschik. Bekannt wurde sie 2021 durch einen Film des mittlerweile umgekommenen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny. In den vergangenen Jahren kam zudem nach und nach ans Licht, dass Putin einen erheblichen Teil seiner Zeit auf dem üppig ausgebauten Präsidentensitz Waldai nördlich von Moskau verbringt.

Sotschi ist jedoch nicht irgendein heimlicher Rückzugsort, sondern eine offizielle Residenz, in der sich Putin oft und gerne bei der Ausübung seiner Amtspflichten gezeigt hat. Entsprechend wirkt es skurril, dass das Regime keine Notwendigkeit sieht, die Zerstörung einer solchen Anlage zu begründen.

Das Magazin «Projekt» vermutet hinter der Geheimhaltung eine für Putin peinliche Tatsache: Sotschi ist seit vergangenem Jahr kein sicherer Ort mehr. Im September 2023 gelangten ukrainische Langstreckendrohnen erstmals bis zu dieser Stadt, auf einer Flugdistanz von mindestens 600 Kilometern. Ein Treibstofflager ging in Flammen auf, wenige Tage später folgte ein Angriff auf den Helikopterlandeplatz des Flughafens Sotschi. Seit jenem Herbst ist mit einer einzigen Ausnahme kein weiterer Besuch Putins in seiner geliebten Stadt mehr verbürgt.

Für die Rechercheure von «Projekt» steht deshalb fest, dass Putin Angst vor ukrainischen Luftangriffen hat und sich in seiner Residenz nicht mehr sicher fühlt. Die These ist nicht abwegig, zumal Putins Obsession mit Fragen seiner persönlichen Sicherheit bekannt ist. Beweisen lässt sie sich aber vorerst nicht.

Dagegen spricht der Umstand, dass der russische Präsident seine Aufenthalte in Sotschi schon vor dem Herbst 2023 reduziert hat. «Projekt» weist selber darauf hin, dass Putin schon im Mai jenes Jahres auf seine traditionellen langen Ferien am Schwarzen Meer verzichtet hat. Früher soll er dort jeweils den Geburtstag seiner heimlichen Geliebten Alina Kabajewa gefeiert haben, mit der er laut Recherchen regimekritischer russischer Medien mehrere Kinder hat. Die selteneren Aufenthalte im Laufe von 2023 können mit Sicherheitsbedenken zu tun haben, aber das hiesse, dass der Kreml die Gefahr ukrainischer Drohnenangriffe schon Monate im Voraus erkannt hätte.

Unabhängig davon bleibt die Frage, weshalb Putin Sotschi nicht nur meidet, sondern seine Schwarzmeer-Residenz dem Erdboden gleichmachte. Die Angst vor Drohnen reicht als Erklärung nicht aus. Gab es ein Problem mit dem Gebäude? Erst vor zehn Jahren hat Putin den Staatspalast aufwendig renovieren und ausbauen lassen. In der Folge kam auch eine neue Hafenanlage hinzu, und 2017 tauchte auf Satellitenbildern am Rande des Geländes ein Sonder-Bahnhof auf. Er ermöglicht Putin, in seinem gepanzerten Zug direkt von Moskau in seine südliche Residenz zu gelangen und dabei den riskanteren, nahe dem Kriegsgebiet verlaufenden Luftweg zu vermeiden. Bis vor kurzem deutete deshalb nichts darauf hin, dass der Kremlherr dieses Ortes überdrüssig werden könnte.

Gut denkbar ist deshalb, dass Putin Sotschi keineswegs aufgegeben hat. Er hat seine Residenz möglicherweise nicht aus Angst vor Drohnen dem Abriss überlassen, sondern weil er eine neue, noch opulentere Anlage in Auftrag gegeben hat. Noch gibt es dafür keine schlüssigen Hinweise. Aber eine jüngere, vom September stammende Satellitenaufnahme zeigt auf dem kahlen Areal klare Anzeichen einer neuen Bautätigkeit: Mehrere Baumaschinen sind im Einsatz, und umfangreiche Erdarbeiten scheinen im Gang zu sein.

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