Wenige Parameter genügen, um die Entwicklung des gesamten Universums seit dem Urknall zu beschreiben. Doch eigenartige Phänomene wecken Zweifel am bestehendem Weltbild.

James-Webb-Teleskop, Euclid-Teleskop, Vera Rubin Observatory, Square Kilometre Array, Extremely Large Telescope: Wenn man sich die Liste der Teleskope anschaut, die kürzlich in Betrieb gegangen sind oder bald den Betrieb aufnehmen, kann man verstehen, warum Wissenschafter von einem goldenen Zeitalter der Kosmologie schwärmen.

Noch nie zuvor gab es derart viele leistungsfähige Teleskope, mit denen man die Entwicklungsgeschichte des Universums seit dem Urknall präzise verfolgen kann. Damit verbunden ist eine grosse Hoffnung. Kosmologen wollen herausfinden, ob es eine Alternative zu dem erfolgreichen, aber lückenhaften Weltbild gibt, das sich in den letzten 25 Jahren etabliert hat.

Das Universum besteht zu 95 Prozent aus Unbekanntem

Dieses Weltbild, das sogenannte Standardmodell der Kosmologie, beschreibt, wie aus einem punktförmigen Urkeim all die Sterne, Galaxien und grossräumigen Strukturen entstanden sind, die man heute am Nachthimmel bewundern kann. Das Modell ist relativ simpel. So geht man davon aus, dass Strahlung und Materie gleichmässig über das Universum verteilt sind. Ausserdem beruht das Standardmodell zu 95 Prozent auf Materie- und Energieformen, die man nicht sehen kann. Die leuchtende Materie der Sterne und Galaxien, also all das, was wir für das Universum halten, ist lediglich das Salz in einer unsichtbaren Suppe.

Entwicklung des Universums seit dem Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren

Zu dieser Suppe gehört zum einen die Dunkle Materie. Sie soll laut Standardmodell durch ihre Anziehungskraft bei der Entstehung der ersten Sterne und Galaxien geholfen haben. Man nimmt an, dass die Dunkle Materie aus bisher unbekannten Elementarteilchen besteht, die sich relativ langsam bewegen.

Die andere Zutat ist die Dunkle Energie. Sie wirkt der Anziehungskraft entgegen und ist der Grund dafür, dass sich das Universum seit einigen Milliarden Jahren immer schneller ausdehnt. Gestützt auf bisherige Erkenntnisse, gehen Kosmologen davon aus, dass sich die Dunkle Energie nicht abschwächt. Eines fernen Tages wird das Universum deshalb so schnell expandieren, dass das Licht und die Wärme von anderen Galaxien uns nicht mehr erreichen.

Expansion of the Universe Visualizations

«Dafür, dass das Standardmodell so einfach ist, ist es sehr erfolgreich», sagt die Kosmologin Ruth Durrer von der Universität Genf. Es stehe mit sehr vielen Beobachtungen der letzten Jahre im Einklang. Es sei aber unbefriedigend, dass das Modell zu 95 Prozent auf Materie- und Energieformen beruhe, für die man keine gute Erklärung habe. Durrer ist deshalb davon überzeugt, dass das Standardmodell lediglich eine Annäherung an eine umfassendere Theorie ist.

Löst sich die Hubble-Spannung in Luft auf?

Um eine Ahnung zu erhalten, wie eine solche Theorie aussehen könnte, suchen Kosmologen und Kosmologinnen wie Durrer nach Anomalien, also nach Beobachtungen, die dem Standardmodell zu widersprechen scheinen. Solche Anomalien gibt es. Die bekannteste ist die sogenannte Hubble-Spannung. Dabei geht es um widersprüchliche Messungen, wie gross die sogenannte Hubble-Konstante ist. Diese ist ein Mass dafür, wie schnell sich das heutige Universum ausdehnt.

Die Hubble-Konstante lässt sich mit verschiedenen Methoden messen. Eine davon setzt bei der kosmischen Hintergrundstrahlung an, der ältesten Strahlung im Universum. Diese wurde mit dem europäischen Planck-Satelliten sehr genau vermessen. Geht man davon aus, dass das Standardmodell die kosmische Entwicklung seit der Freisetzung der kosmischen Hintergrundstrahlung richtig beschreibt, lässt sich aus dieser berechnen, wie schnell das Universum heute expandiert.

Das Ergebnis lautet 67,4 km/s pro Megaparsec. Das bedeutet: Mit jedem Megaparsec (das ist ein von Astronomen oft verwendetes Längenmass, das 3,26 Millionen Lichtjahren entspricht) nimmt die Geschwindigkeit, mit der sich Galaxien von uns entfernen, um 67,4 km/s zu.

Dieses Ergebnis stimmt jedoch nicht mit dem Resultat des Nobelpreisträgers Adam Riess überein. Dessen Arbeitsgruppe misst die Expansionsrate des heutigen Universums direkt anhand der Geschwindigkeit, mit der sich Galaxien in unserer kosmischen Nachbarschaft von der Milchstrasse entfernen. In diesem Fall ergibt sich für die Hubble-Konstante ein Wert von 73,0 km/s pro Megaparsec.

Die Hubble-Spannung, also der Unterschied zwischen den beiden Messungen, ist viel grösser, als es die Messfehler erwarten lassen. Das bereitet Kosmologen Bauchschmerzen. In den letzten Jahren haben sie daher verschiedene Vorschläge gemacht, wie das Standardmodell der Kosmologie abgeändert werden könnte, um die Hubble-Spannung aus der Welt zu schaffen. Eine überzeugende Lösung hat man bisher nicht gefunden. Denn jede Modifikation – etwa eine Dunkle Energie, die sich mit der Zeit verändert – verschlechtert tendenziell die Übereinstimmung mit anderen Beobachtungen.

Möglicherweise ist die Hubble-Spannung aber nur eine Scheinanomalie. Darauf deuten zumindest neue Messungen mit dem James-Webb-Weltraumteleskop hin, die die amerikanische Kosmologin Wendy Freedman kürzlich an einer Tagung der Royal Society vorgestellt hat. Zu dieser Veranstaltung waren namhafte Kosmologen eingeladen, um über den Stand ihres Fachs zu diskutieren.

Freedman misst die Hubble-Konstante ähnlich wie Riess. Allerdings zieht sie mehrere Typen von Sternen heran, um die Entfernung von Galaxien zu messen, die sich von uns wegbewegen. Das führt zu einem Wert für die Hubble-Konstante (69,1 km/s pro Megaparsec), der deutlich kleiner ist als der von Riess und im Rahmen der Messgenauigkeit mit der Planck-Messung übereinstimmt.

Durrer sieht darin einen Hinweis, dass die Messungen von Riess einen systematischen Fehler aufweisen könnten. Für ein definitives Urteil sei es aber noch zu früh. Auch Freedman behauptet nicht, dass die Hubble-Spannung aus der Welt ist. Sie glaube aber, dass das James-Webb-Teleskop den Weg zur Lösung weisen könne, schreibt sie auf Nachfrage.

Megastrukturen, die es nicht geben sollte

Die Hubble-Spannung ist nicht die einzige Anomalie, die Kosmologen Kopfzerbrechen bereitet. Hinterfragt wird auch eine der Grundannahmen, auf denen das Standardmodell beruht. Dieses kosmologische Prinzip besagt, dass der Kosmos bei hinreichend grossen Entfernungen sogenannt homogen und isotrop ist. Wenn man also über die Unregelmässigkeiten im Kleinen hinwegsieht, sollte es keinen Unterschied machen, von wo aus man den Kosmos betrachtet (homogen) und in welche Richtung der Blick geht (isotrop).

In den letzten Jahren haben Astronomen grossräumige Strukturen im Universum entdeckt, die am kosmologischen Prinzip zweifeln lassen. So beobachtete Alexia Lopez von der University of Central Lancashire 2021 einen gigantischen Bogen aus Galaxien und Galaxienhaufen, der sich über eine Länge von 3,3 Milliarden Lichtjahren erstreckt. Das entspricht einem Fünfzehntel des beobachtbaren Universums. In der gleichen Himmelsregion entdeckte Lopez kürzlich eine weitere Megastruktur, diesmal ringförmig.

Megastrukturen aus Galaxien stellen die grossräumige Homogenität des Universums infrage

Visualisierung des Big Ring und des Big Arc am Nachthimmel

Der Big Arc, der Big Ring und andere Megastrukturen stellen die grossräumige Homogenität des Universums infrage. Und je mehr solcher Strukturen man findet, desto unwahrscheinlicher wird es, dass es sich dabei um statistische Ausreisser handelt.

Ist die beschleunigte Expansion nur eine Illusion?

Auch die Annahme, dass das Universum in allen Richtungen gleich aussieht, steht auf wackligen Beinen. So haben Astronomen in den letzten Jahren Hinweise gefunden, dass die grossräumige Verteilung der Materie eine Schlagseite aufweist. Die eine Hälfte des Himmels scheint 0,5 Prozent mehr Quasare (das sind Galaxien mit einem aktiven Schwarzen Loch) zu enthalten als die andere. Eine ähnliche Asymmetrie beobachtet man bei anderen Typen von Galaxien.

Ein Teil dieser sogenannten Dipol-Anomalie lässt sich darauf zurückführen, dass sich unser Sonnensystem relativ zur kosmischen Hintergrundstrahlung bewegt. Wenn man diesen trivialen Effekt aus den Daten herausrechnet, bleibt aber immer noch ein Unterschied zwischen den beiden Hälften des Himmels bestehen. In der kosmischen Entwicklung muss es also irgendetwas gegeben haben, was die anfängliche Gleichmässigkeit der kosmischen Hintergrundstrahlung gestört hat.

Für den Kosmologen Subir Sarkar, der die Tagung der Royal Society mitorganisiert hat, ist die Dipol-Anomalie weitaus gravierender als die Hubble-Spannung. Sie rüttle an den Grundlagen des Standardmodells, erklärt der emeritierte Professor von der Oxford University am Telefon.

«Dieses Modell ist nur deshalb so einfach, weil man die Annahme macht, dass das Universum homogen und isotrop ist.» Lasse man diese Annahme fallen, lasse sich die kosmische Entwicklung nicht länger durch einige wenige Parameter beschreiben, wie es das Standardmodell tue. So werde zum Beispiel der Schlussfolgerung, dass sich das Universum unter dem Einfluss der Dunklen Energie immer schneller ausdehne, die Grundlage entzogen. Möglicherweise sei die beschleunigte Expansion nur eine Illusion, die auf der angenommenen Gleichmässigkeit des Universums beruhe, so Sarkar.

Sarkar vermisst bei vielen seiner Kollegen die Bereitschaft, die Grundlagen des Standardmodells zu hinterfragen. Stattdessen begnügten sie sich damit, die wenigen Kenngrössen dieses Modells mit modernen Teleskopen immer präziser zu vermessen. Sarkar hält das für einen Irrweg: «Wir brauchen keine Präzisionskosmologie, wir brauchen die korrekte Kosmologie.»

Wie diese aussehen könnte, weiss Sarkar auch nicht. Er hofft auf die Daten, die das Euclid-Teleskop, das Vera Rubin Observatory und andere Instrumente in den nächsten Jahren liefern werden. Mit diesen Teleskopen lassen sich grosse Ausschnitte des Himmels mit Milliarden von Galaxien kartieren. Damit sollte es möglich sein, die Ungleichmässigkeit des Universums bei grossen Abständen zu bestätigen. Zudem lässt sich mit diesen Teleskopen verfolgen, wie sich die grossräumige Verteilung der Materie in den letzten zehn Milliarden Jahren verändert hat. Sarkar hofft, so den Zeitpunkt eingrenzen zu können, zu dem die Materieverteilung eine Schlagseite entwickelt hat.

Die Messungen der Dipol-Anomalie sind noch nicht konsistent

Die Zweifel von Sarkar am Standardmodell werden nicht von allen Kosmologen geteilt. Bis jetzt gebe es noch kein konsistentes Bild der Dipol-Anomalie, sagt Martin Kunz von der Universität Genf, der die Schweiz im Euclid-Konsortium vertritt. Je nach Untersuchung sei der Unterschied zwischen den beiden Himmelshälften einmal stärker und dann wieder schwächer ausgeprägt. Und auch die Achse des Dipols weise nicht immer in die gleiche Richtung.

Für Kunz ist das ein Hinweis dafür, dass sich in den Messungen möglicherweise noch systematische Fehler verbergen. Kunz findet die Diskrepanz zwar interessant genug, um selbst in dieser Richtung zu forschen. Das Standardmodell der Kosmologie würde er gegenwärtig aber noch nicht verwerfen. «Was man derzeit braucht, sind mehr und vor allem bessere Daten.»

Ähnlich äusserte sich an der Tagung der Royal Society der Nobelpreisträger Jim Peebles. Der Vater des Standardmodells findet zwar, dass man den Spannungen und Anomalien mehr Aufmerksamkeit schenken sollte. Gleichzeitig ist er aber davon überzeugt, dass sich eine umfassendere Theorie nicht grundsätzlich vom Standardmodell unterscheiden wird. Dafür sei dieses zu erfolgreich. Er könne sich nicht vorstellen, so Peebles, dass ein ganz anders geartetes Modell ebenso gut zu den Beobachtungen passe.

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