Von Schädlingen befallene Pflanzen dünsten Signalstoffe aus, die ihre Artgenossen warnen und natürliche Feinde anlocken. Solche Moleküle könnten als Vorbild für neuartige Insektizide dienen.
Pflanzen haben keine Augen. Sie lassen sich daher leicht täuschen, zum Beispiel von Matthias Erb und seinen Mitarbeitern am Institut für Pflanzenwissenschaften der Universität Bern. Wenn die Forscher mit einem Rasiermesser kleine Löcher in die Blätter ihrer Mais-Versuchspflanzen ritzen und etwas Mottenspucke hinzugeben, ist der Bluff perfekt. Für die Pflanze fühlt es sich an, als knabbere das Insekt höchstselbst an ihr. Schnell setzt sie ihre chemische Abwehr in Gang. Die Blätter stossen Duftstoffe aus, die den vermeintlichen Schädling vertreiben und zudem seine natürlichen Feinde anlocken, Schlupfwespen etwa, die Eier in Mottenlarven legen und ihnen so den Garaus machen.
Erbs Forschung zeigt neue Möglichkeiten für die Landwirtschaft auf: Nach dem Vorbild der Natur könnten schonende Insektizide entwickelt werden. Zumal die natürliche Schädlingsbekämpfung äusserst raffiniert ist. Benachbarte Pflanzen erhalten auf dem Luftweg einen Hinweis auf die drohende Gefahr und fahren ihre eigene Abwehr hoch, noch bevor sie selbst angegriffen werden. Wüstensalbei erkennt sogar, ob die Warnsignale von angeknabberten Verwandten stammen oder von fremden Gewächsen. Wird ein Busch der eigenen Art angefressen, fällt die Abwehrreaktion stärker aus, wie der amerikanische Biologe Richard Karban herausfand.
Ob andere Pflanzen ähnlich spezifisch reagieren, lässt sich noch nicht sagen. Die Forscher auf diesem Gebiet konzentrieren sich meist auf ihre jeweiligen Lieblingspflanzen. Rückschlüsse auf die gesamte Flora sind bis jetzt schwierig.
Fest steht aber, dass Pflanzen nicht nur bei Gefahr, sondern permanent kleine, flüchtige Moleküle in die Luft abgeben. Der chemische Cocktail variiert je nach Pflanzenart und verändert sich bei Schädlingsbefall sowie bei Krankheiten, Nährstoffmangel, Trockenheit und sonstigen widrigen Umweltbedingungen. «Der physiologische Zustand einer Pflanze spiegelt sich in ihrem Duftstoffbouquet wider», erklärt Erb. Weit über 1500 verschiedene flüchtige organische Moleküle, die Informationen zur Identität und zum Befinden von Pflanzen enthalten, haben Forscher weltweit schon identifiziert.
Die sogenannten grünen Blattduftstoffe, die chemisch in die Gruppe der Alkohole, Aldehyde und Ester mit einem Grundgerüst aus sechs Kohlenstoffatomen gehören, dünsten nahezu alle Pflanzen bei mechanischer Schädigung aus – egal ob der Rasenmäher über die Wiese fährt oder Larven das Grün durchlöchern. Treffen Moleküle eines Schädlings auf die Wunde, senden die Blätter weitere Substanzen aus. Dass ein Insekt am Nachbarn frisst, erschliesst sich den Gewächsen in der Umgebung aus der Kombination verschiedener Duftstoffe.
Eine schnelle Antwort
Wittern Pflanzen Gefahr in Form von chemischen Signalen, reagieren sie innerhalb von Sekunden bis Minuten. Das haben japanische Wissenschafter am Beispiel der Ackerschmalwand, einer beliebten Modellpflanze der Forschung, sogar gefilmt. Sie nutzten dafür eine spezielle Technik der Kalzium-Bildgebung. Kalziumionen sind an vielen pflanzlichen Stressreaktionen beteiligt.
Als Duftstoffe, gewonnen aus angefressenen Blättern, über die Ackerschmalwand strömten, stieg die Menge an Kalziumionen in bestimmten Blattregionen schnell an. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, schrieben die Forscher um Masatsugu Toyota von der Universität Saitama 2023 im Fachmagazin «Nature Communications», dass Pflanzen die chemische Information vor allem über die Spaltöffnungen empfangen würden.
Was dann passiert, ist allerdings unklar, denn die Rezeptoren der Duftstoffwahrnehmung und die zugehörigen Gene sind grösstenteils noch unbekannt. Erb rechnet damit, dass sie in den nächsten Jahren entschlüsselt werden. Die Suche läuft auch in seinem Labor. Isoliert in Glaszylindern wachsen hier zarte Maispflanzen verschiedener genetischer Linien, die unterschiedlich stark auf Duftstoffe reagieren. Luft, versetzt mit einem chemischen Signalstoff, strömt über Schläuche in die Zylinder und wieder hinaus direkt ins Analysegerät. Mit solchen Experimenten fahndet Erbs Team nach den molekularbiologischen Grundlagen der Geruchswahrnehmung. Die Kenntnis der beteiligten Gene würde die Forschung erheblich beschleunigen.
Verglichen mit der Laborlandschaft aus Schläuchen, Ventilen und Glaszylindern mit zartem Grünzeug sehen die hochgeschossenen Mais-Versuchspflanzen auf den Aussenparzellen gleich neben dem Forschungsgewächshaus der Uni Bern banal aus. Doch hier steht dieses Jahr eine Premiere an. Ein Analysesystem, das Erbs Gruppe zusammen mit einem Industriepartner für über eine halbe Million Euro entwickelt hat, soll die Ausdünstungen der Maisblätter live erfassen.
Mit einem ausfahrbaren Schlauch saugt das Gerät Luft an der Blattoberfläche ein und untersucht sie nahezu in Echtzeit mit einem mobilen Massenspektrometer. Im Freiland habe noch niemand Duftstoffinteraktionen zwischen Pflanzen direkt gemessen, erklärt Erb. Bei Versuchen unter freiem Himmel fingen Wissenschafter die Luft bislang mühsam mit Plastikbeuteln ein. Die chemische Analyse erfolgte mit Zeitverzug im Labor.
Versuche unter realen Bedingungen sind für Erb wichtig, weil er seine Erkenntnisse langfristig für die Landwirtschaft nutzbar machen möchte. Eine Idee lautet, jene Warnsubstanzen, die eine Pflanze bei Insektenbefall ausstösst, industriell zu gewinnen und zu versprühen. Da es sich hier um Nachrichtenchemikalien statt um Gifte handelt, wäre dies eine umweltfreundliche Variante der Schädlingsbekämpfung. Zudem reichten eventuell schon kleine Mengen, meint Erb, da die Pflanzen auf die Substanzen reagieren und sie dann womöglich selbst produzieren würden.
Ein Myrtengewächs als Vorbild
Schon einmal hat sich die Industrie von pflanzlichen Ausdünstungen inspirieren lassen – allerdings nicht von solchen, die Schädlinge bekämpfen, sondern von Substanzen, die gegen artfremde Gewächse gerichtet sind. Einem amerikanischen Forscher fiel vor fast fünfzig Jahren auf, dass unter dem Myrtengewächs Callistemon citrinus kaum etwas anderes gedeiht. Als Ursache wurde der Duftstoff Leptospermon identifiziert. Er bildete den Ausgangspunkt für das Herbizid Mesotrione des Chemie- und Agrarkonzerns Syngenta.
Das Konzept des Callistemon citrinus liess sich allerdings nicht so einfach auf die Landwirtschaft übertragen. Leptospermon hätten Landwirte in viel zu grossen Mengen ausbringen müssen, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Die chemische Struktur des natürlichen Duftstoffs haben die Industriechemiker daher so stark verändert, dass Mesotrione dem ursprünglichen Molekül nur noch entfernt ähnelt. In Fachkreisen ist umstritten, ob das Syngenta-Herbizid überhaupt auf derselben Wirkweise beruht wie sein natürlicher Vorläufer.
Das Chemieunternehmen BASF hat sich eine Zeitlang ebenfalls mit Pestiziden nach dem Vorbild der Natur beschäftigt, allerdings ohne Erfolg. Gescheitert sei man unter anderem an der notwendigen Breitenwirkung. Auch verlässliche und reproduzierbare Effekte unter verschiedenen Umweltbedingungen seien schwer zu erreichen, teilt BASF mit.
Projekte zu Pestiziden auf Basis pflanzlicher Duftstoffe scheint die Industrie zurzeit nicht in der Pipeline zu haben. Umso wichtiger bleibt die akademische Forschung auf dem Gebiet, denn nicht nur aus Umweltschutzgründen, auch angesichts der zunehmenden Resistenzen gegen gängige Mittel braucht die Landwirtschaft neue Strategien.
Lange belächelt
Die Forschung wäre schon viel weiter, meint Erb, wenn sein Fachgebiet nicht so lange belächelt worden wäre. Das Image hat sich gebessert, aber die Wissenschafter müssen aufpassen, dass ihre Erkenntnisse nicht verdreht werden, etwa von Autoren wie dem deutschen Förster Peter Wohlleben. Wohlleben hat vor zehn Jahren den Bestseller «Das geheime Leben der Bäume» verfasst, in dem er Bäume als soziale Wesen verklärt, die miteinander kommunizieren.
Erb hingegen vermeidet Formulierungen wie «Kommunikation zwischen Pflanzen» strikt: «Bis jetzt gibt es keine ernstzunehmenden Hinweise, dass Pflanzen chemische Signale gezielt aussenden, um anderen Gewächsen etwas mitzuteilen.» Die Vorstellung von sprechenden Bäumen und Sträuchern, die sich bei Gefahr warnen und gegenseitig helfen, klinge zwar schön, sagt Erb, sei aber «esoterischer Mumpitz». Und der kann einem Wissenschafter wie ihm, der einer nachhaltigen Landwirtschaft den Weg bereiten möchte, schnell in die Quere kommen.