Ein deutsches Autorenduo hat den Skandal um den Rammstein-Sänger Till Lindemann in einem Buch neu aufgerollt. In «Row Zero» geht es aber auch darum, die zunehmende Kritik am Sexismus in der Musikszene zu dokumentieren.

Skandale haben bisweilen etwas Gutes. Was in den Höhlen des Privaten oder in den Kellern des Undergrounds gärt, dringt plötzlich ans Licht der Öffentlichkeit. Und so kann die Gesellschaft im medialen Austausch von Empörung und Rechtfertigung skandalträchtiger Ideen und Handlungen zu neuen Verhaltensnormen finden. Der Fall Till Lindemann zum Beispiel könnte dazu beitragen, mit ein paar modrigen Vorstellungen aus dem Mythos von «Sex, Drugs and Rock’n’Roll» aufzuräumen.

Bekanntlich ist der 60-jährige Sänger der deutschen Metal-Band Rammstein vor einem Jahr ins Kreuzfeuer der Medien geraten, als bekanntwurde, dass er sich an Konzerten systematisch junge Frauen zuführen liess. Von ihnen erhoffte er sich die Bereitschaft zu sexuellen Handlungen. Eine Agentin war dafür zuständig, die weiblichen Fans mittels Social Media zu rekrutieren, indem sie ihnen Meet-and-Greet-Partys in der Row Zero versprach – dem Bereich zwischen Bühne und Publikum.

#MeToo in der Musikszene

Mit «Row Zero» ist jetzt auch ein Buch von Lena Kampf und Daniel Drepper betitelt, das den Lindemann-Skandal nochmals aufrollt und in einen grösseren Zusammenhang stellt: «Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie» lautet der Untertitel. Tatsächlich betrachtet das deutsche Journalistenduo den Fall als exemplarisch für einen Umbruch in der Musikszene: endlich sei #MeToo auch hier angekommen.

Die Aufregung um den Rammstein-Sänger begann damit, dass die Irin Shelby auf Social Media berichtete, sie sei während eines Rammstein-Konzerts mit Lindemann zusammengebracht worden. Sie habe sich dabei seinen sexuellen Avancen widersetzt. Anderntags indes, so schrieb sie, sei sie mit einem brummenden Kopf und Hämatomen erwacht. Der irritierende Post wurde von deutschen Medien aufgegriffen, die bald scharenweise Frauen zitierten, die anscheinend ähnliche Erfahrungen gemacht hatten.

Vielen eingefleischten Rammstein-Fans allerdings schienen die Medien voreingenommen. Man machte den Journalisten den Vorwurf der Verunglimpfung und Vorverurteilung des ohnehin provokativen und schillernden Künstlers. Und in allen möglichen Kommentarspalten konnte man lesen, die weiblichen Fans hätten doch gewusst, worauf sie sich einliessen. Schon immer hätten sich Groupies den Rockstars aus freien Stücken zur Verfügung gestellt.

Drepper und Kampf, die der Geschichte der Groupies nachgehen, zeigen allerdings, dass die Beziehungen und insbesondere die scheinbare Einvernehmlichkeit zwischen Stars und Fans schon immer problematisch waren. Es gab zwar die selbstbewussten Frauen wie Uschi Obermaier oder Pamela Des Barres, die ihre sexuelle Freiheit auslebten als Groupies. Sie suchten sich die Rocker aus – und pflegten mit ihnen persönliche Beziehungen.

Schon in den sechziger Jahren aber sprach man auch von sogenannten Baby-Groupies: Teenagern aus schwierigen Milieus, die von einer eigenen Musikkarriere träumten und sich von Künstlern ebenso missbrauchen liessen wie von Musikproduzenten oder -managern.

Das Umfeld bleibt verschwiegen

Der Rock’n’Roll scheint die Musikszene insgesamt zu ziemlich maskulinen Vorstellungen von sexueller Befreiung inspiriert zu haben. Lange haben die Fans den selbstgerechten Sexkult ihrer Pop-Götter gefeiert oder zumindest akzeptiert. In den letzten Jahren aber haben sich die Sensibilitäten verändert. Seit man Michael Jackson den Missbrauch von Minderjährigen postum nachgewiesen hat, ist ein Star nach dem anderen ins Fadenkreuz eines kritischen, zumeist feministischen Blicks geraten.

Die beiden Autoren zählen diverse Stars auf, die in den letzten Jahren für Missbrauchsskandale gesorgt haben. Von Marilyn Manson, der insbesondere seine achtzehn Jahre jüngere Partnerin Evan Rachel Wood missbraucht oder gar vergewaltigt haben soll, bis zum Singer-Songwriter Ryan Adams, der bei der Förderung junger Talente wiederholt übergriffig wurde. Auch einige Rapper sollen sich Übergriffe zuschulden kommen lassen haben – etwa Sean Combs alias P. Diddy oder der Deutsch-Rap-Star Samara, dem das Fotomodell Nika Irani Vergewaltigung vorwirft. Neben all den Männern wird eine einzige Frau aufgelistet: Der R’n’B-Sängerin Lizzo wird übergriffiges Verhalten ihren Tänzern gegenüber zur Last gelegt.

Von besonderem Interesse scheint dem Autorengespann der Fall von R. Kelly. Im Unterschied zu den meisten anderen mutmasslichen Tätern ist der amerikanische R’n’B-Sänger und Produzent 2021 rechtskräftig verurteilt worden. Zuvor war er von seinem Umfeld allerdings jahrzehntelang geschützt und gedeckt worden.

Das Beispiel R. Kelly zeigt, wie sehr es sich beim Musikbusiness um eine Klüngelwirtschaft handelt, die auf persönlichen Abhängigkeiten basiert. Tatsächlich haben sich nicht nur Künstler, sondern auch Musikmanager und Produzenten des Machtmissbrauchs schuldig gemacht.

Tabubruch dank Wokeness

Unterdessen aber sorgten immer mehr feministisch engagierte Frauen im Musikbusiness dafür, dass Übergriffe zumindest thematisiert wurden. Unter Hashtags wie #DeutschrapMeToo, #MusicMeTooGermany oder #TechnoMeToo wurden in den letzten Jahren Erfahrungen zusammengetragen und ausgetauscht. Das mochte der Sensibilisierung potenzieller Opfer dienlich und potenziellen Tätern eine Warnung sein. Allerdings birgt der Internetpranger auch Gefahren, die Kampf und Drepper ebenfalls thematisieren. Die Online-Kampagnen können bisweilen in Hexenjagd und Rufmord ausarten.

Noch ein bemerkenswertes Phänomen heben die deutschen Autoren in ihrem aufschlussreichen und gut recherchierten Buch hervor. Während grosse Labels wie Universal unterdessen Lyric-Task-Forces einsetzen, um sexistische oder antisemitische Verfehlungen ihrer Artists zu verhindern, scheint die Toleranz seitens der Fans oft grenzenlos. Im Zeichen von Wokeismus und verschärfter Political Correctness hat der Tabubruch offenbar wieder an Attraktivität gewonnen. Je strenger die Regeln, desto effektvoller ihre Verletzung. Provokationen werden vom Publikum deshalb wieder vermehrt als Beglaubigung von Rebellentum und Bad-Boy-Image ausgelegt.

Das scheint zu erklären, weshalb im Zuge des Row-Zero-Skandals die Verkaufs- und Streaming-Zahlen von Lindemann- und Rammstein-Alben wieder stiegen. Zu hoffen ist immerhin, dass die Öffentlichkeit dank dem Skandal den Umgang der Stars mit ihrem Anhang kritischer betrachten wird. Sexhungrige Altstars sollten ihre Triebe nicht mehr auf Kosten überforderter Fans befriedigen können.

Daniel Drepper, Lena Kampf: Row Zero. Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie. Eichborn-Verlag, Köln 2024. 271 Seiten, Fr. 34.90.

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