In Grossbritannien jagen sich im Wahljahr Vorwürfe und Entschuldigungen wegen Antisemitismus und Rassismus. Nun will die Regierung legale, aber extremistische Organisationen an den Pranger stellen – und erntet Kritik aus den eigenen Reihen.
Was darf man in Grossbritannien angesichts der virulenten identitätspolitischen Debatten noch öffentlich sagen? Wann ist eine Aussage antisemitisch, islamophob oder rassistisch? Und wer entscheidet, was akzeptabel ist und britischen Werten entspricht? Solche Fragen werden derzeit im Vereinigten Königreich so intensiv diskutiert wie lange nicht – was ebenso eine Folge der Spannungen rund um den Gaza-Krieg ist wie ein Vorbote der im Verlauf dieses Jahres anstehenden Unterhauswahlen.
Geldgeber bringt Sunak in Verlegenheit
Kaum eine Woche vergeht, ohne dass sich ein Politiker oder gewichtiger Sympathisant einer Partei für eine unhaltbare Aussage entschuldigen muss. Im Zentrum des jüngsten medialen Wirbels steht Frank Hester, ein Unternehmer und wichtiger Geldgeber der Konservativen Partei. Der «Guardian» hatte Anfang Woche genüsslich enthüllt, Hester habe sich 2019 in einem privaten Gespräch diffamierend über die dunkelhäutige Labour-Abgeordnete Diane Abbott geäussert.
Abbott sollte erschossen werden, soll Hester gesagt haben, sie verleite einen dazu, «alle schwarzen Frauen zu hassen». Der Geschäftsmann entschuldigte sich und bestritt zwar nicht die Aussagen, wohl aber, dass diese rassistisch gewesen seien. Auch die Regierung von Rishi Sunak lavierte zunächst, bis die schwarze Handelsministerin und Vertreterin des rechten Parteiflügels, Kemi Badenoch, Klartext sprach. Dann rang sich auch Sunak dazu durch, von einer rassistischen Äusserung zu sprechen – wobei er der Forderung nach einer Rückgabe der Spenden Hesters im Umfang von 10 Millionen Pfund (11,2 Millionen Franken) eine Absage erteilte.
So inakzeptabel die verbalen Übergriffe gegen Abbott auch sind: Die Londoner Unterhausabgeordnete und Anhängerin des früheren Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn machte auch selbst schon mit problematischen Aussagen von sich reden. So erinnert ein vor einem Jahr von ihr verfasster Gastbeitrag im «Observer» an die antisemitischen Tendenzen, mit denen sich die Labour-Opposition bis heute herumschlägt. Abbott schrieb damals, Iren und Juden könnten nicht Opfer von Rassismus werden, da sie weiss seien. Die Parlamentarierin entschuldigte sich. Dennoch sistierte der Labour-Chef Keir Starmer Abbotts Fraktionsmitgliedschaft wegen Antisemitismus, weshalb sie bis heute als Einzelmaske im Unterhaus sitzen muss.
Parteien messen mit zwei Ellen
Die Turbulenzen um Hester und Abbott sind keine Einzelfälle: Vor der Unterhausnachwahl im Wahlkreis Rochdale im Februar musste sich Labour vom offiziellen Kandidaten Azhar Ali trennen, weil dieser antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet hatte. Auf einer Tonaufnahme einer internen Sitzung sagte der Kandidat, Israel habe die Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober bewusst zugelassen, um danach mit harter Hand gegen die Palästinenser vorzugehen. Starmer, der sich rühmt, den Antisemitismus in der Labour-Partei ausgemerzt zu haben, zögerte tagelang, bis er den Genossen fallenliess.
Kurze Zeit später behauptete der damals noch konservative Abgeordnete Lee Anderson vor laufender Kamera, der muslimische Labour-Bürgermeister Londons, Sadiq Khan, werde von Islamisten kontrolliert. Sunak schreckte lange davor zurück, die völlig haltlose Aussage als islamophob zu benennen, schloss Anderson aber aus der Fraktion aus. Dieser ist inzwischen zum Schrecken Sunaks zur Rechtspartei Reform UK übergelaufen – und wirft den Konservativen vor, die Meinungsäusserungsfreiheit einzuschränken.
Der inquisitorische Ton, mit dem die Konservativen und Labour Vorwürfe an die Gegenseite erheben, steht in Kontrast zur Zögerlichkeit, mit der sie auf problematische Äusserungen aus den eigenen Reihen reagieren. Albie Amankona, Tory-Politiker und Moderator beim rechten Sender GB News, empfahl seinen Parteigenossen einen einfachen Test: Eine Aussage über eine muslimische oder dunkelhäutige Person sei dann als islamophob oder rassistisch zurückzuweisen, wenn man eine analoge Aussage über einen Juden als antisemitisch verurteilen würde.
Erosionsgefahr für Meinungsfreiheit?
Mitten in der aufgeheizten Stimmung präsentierte Michael Gove, der als Minister für das gemeinschaftliche Zusammenleben verantwortlich ist, am Donnerstag eine neue behördliche Definition von Extremismus. Mit diesem Extremismus-Label will die Regierung künftig rechtsradikale und islamistische Organisationen brandmarken, die zwar innerhalb der Schranken des Rechtsstaats operieren, aber deren Ideologie auf «Gewalt, Hass oder Intoleranz» beruht und die die «Grundrechte anderer negieren» oder die parlamentarische Demokratie untergraben wollen.
Ein «Kompetenzzentrum» der Verwaltung soll nun Gruppierungen wie das British National Socialist Movement oder die Muslim Association of Britain, die Gove als Ableger der Muslimbruderschaft bezeichnete, unter die Lupe nehmen. Die neue Extremismus-Definition ist kein Gesetz, sondern bloss eine behördliche Weisung. Daher ändert sich die Rechtsgrundlage für die umstrittenen propalästinensischen Demonstrationen nicht. Wer auf der schwarzen Liste der Beamten landet, wird nicht verboten, aber öffentlich an den Pranger gestellt und soll nicht mehr mit Regierungsstellen zusammenarbeiten dürfen.
Während die Labour-Vizepräsidentin Angela Rayner im Unterhaus erklärte, es gelte abzuwarten, wie die schwarze Liste in der Praxis gehandhabt werde, äusserten auffallend viele Konservative aus dem rechten Parteiflügel grundsätzliche Vorbehalte. Mariam Cates erklärte, die Definition von Extremismus sei so schwammig, dass sie dereinst auch genderkritische Feministinnen oder strenggläubige Christen erfassen könnte.
Der ehemalige Migrationsminister Robert Jenrick ergänzte, die Massnahme gehe zu wenig weit, um «echte Extremisten» zu bekämpfen. Gleichzeitig drohten Bürger und Organisationen ins Visier des Staates und seiner Beamten zu geraten, die bloss unbequeme und konträre Meinungen äusserten.

