Mittwoch, Januar 15

Sie sind wieder da, die Abstimmungsunterlagen, verpackt in einem ausgeklügelten Briefumschlag. Auch beim kommenden Urnengang werden viele wieder daran scheitern. Weshalb bloss? Die Geschichte einer demokratischen Hassliebe.

Vor jeder Abstimmung gibt es diesen einen Moment, in dem sich viele Stimmbürger in Wutbürger verwandeln. Er hat weder mit den Vorlagen noch den Parteien zu tun, und auch nicht mit dem diffusen Gefühl, «die da oben» machten sowieso, was sie wollten. Nein, die drei Sekunden Wut entzünden sich jeweils ein paar Tage vor dem Urnengang. Dann, wenn wir das Stimmcouvert vorsichtig, ganz vorsichtig zu öffnen versuchen, und ratsch: wieder! Schon wieder! WIESO SCHON WIEDER! reisst diese verfluchte Lasche ein.

John Zoellin, 57, kennt das Problem wie kein Zweiter. Seit einem Vierteljahrhundert arbeitet er daran, uns diese drei Sekunden Wut zu ersparen. Seine Karriere hat er in den 1990er Jahren in der Marketingabteilung der Firma Elco gestartet; seit 2020 ist er der CEO des Aargauer Schreibwarenherstellers.

Elco versorgt rund die Hälfte der 5,5 Millionen Schweizer Stimmberechtigten mit Stimmcouverts. Und auch wenn unsere Erfahrung dagegen spricht: Zoellin hält das Problem damit für so gut wie gelöst. Man habe das Couvert über die Jahre unermüdlich verbessert, es gebe auch kaum mehr Reklamationen. Das hindert den Chef aber nicht daran, seine Mitarbeiter weiter daran tüfteln zu lassen. «Wir lieben Herausforderungen», sagt Zoellin, ganz ehemaliger Marketingmann. «Und wir haben den Ehrgeiz, uns stets zu fragen: Wie könnten wir es noch besser machen?»

Eigentlich ist die Geschichte des Schweizer Stimmcouverts Teil einer Erfolgsgeschichte. Sie begann Ende der 1970er Jahre, als die Bürgerinnen und Bürger einiger Kantone wie Baselland oder St. Gallen ihre Stimme erstmals per Post abgeben durften. Im Laufe der 1990er Jahre führte eine Mehrzahl der Kantone die Briefwahl ein, und 2015 verschwand mit dem Tessin das letzte Stimmlokal-Monopol. Heute geht kaum noch jemand an die Urne; neun von zehn Leuten stimmen brieflich ab.

Berge von Altpapier

Natürlich warf die neue Form des Abstimmens immer wieder neue Fragen auf, allen voran diese: Wie sollten die Bürger ihre Stimmzettel überhaupt zurückschicken? Anfangs war die Antwort pragmatisch. Man legte den Unterlagen einfach ein Rückantwortcouvert mit der Adresse der Wohngemeinde bei. Doch weil damals viele Leute ihre Stimmzettel immer noch persönlich in die Urne steckten, landete ein Grossteil der Umschläge unbenutzt im Altpapier.

Die Verwaltungen und die Umweltschützer störten sich an diesen Abfallbergen. Deshalb verbreitete sich ab Mitte der 1990er Jahre das Zweiwegcouvert: ein Briefumschlag, der sowohl für den Hin- als auch für den Rückweg verwendet werden konnte.

Die Einführung dieses Couverts war die Geburtsstunde unseres Problems und Zoellins «Herausforderung». Die Bürgerinnen und Bürger mussten umerzogen werden. Sie durften den neuartigen Umschlag weder fein säuberlich mit dem Brieföffner aufschneiden noch schwungvoll aufreissen – sonst taugte er nicht mehr für den Rückversand. Aber wie gewöhnt man Menschen Handgriffe ab, die sie über Jahrzehnte eingeübt haben? Bei Elco druckte man anfangs eine schlichte Bedienungsanleitung auf. «Bitte nicht aufschneiden» stand an der Oberkante der frühen Zweiwegcouverts, «hier sorgfältig aufreissen» unterhalb der Lasche. Doch das reichte bei weitem nicht aus.

Allerdings lauerte zunächst eine weitere Herausforderung. Kaum hatte sich das praktische Zweiwegcouvert durchgesetzt, wurde es vom technischen Fortschritt bei der Post bedroht. Dort hatte man damit begonnen, die Empfängeradressen zu digitalisieren, damit die Sendungen maschinell sortiert werden konnten. Das bedeutete: Kam das Stimmcouvert während des Erstversands im Briefzentrum der Post an, erfasste eine Videokamera die Adresse des Bürgers und wandelte sie in einen Strichcode um, der unterhalb des Fensters aufgedruckt wurde. Schickte der Bürger das Couvert dann als Zweitversand zurück, gab es dort keinen Platz für den Adresscode der Gemeinde.

Die Tüftler bei Elco erdachten deshalb ein Verfahren, bei dem es zwei Zonen für den Strichcode gab: eine unterhalb und eine oberhalb des Fensters. Man gestaltete den Stimmrechtsausweis so, dass ihn die Bürger drehen mussten, damit die Adresse der Gemeindeverwaltung im Sichtfenster zu sehen war. Das Couvert trat den Rückweg also auf dem Kopf an.

Elco reichte die Erfindung 1997 beim Patentamt ein. Trotzdem bot die Konkurrenz – man teilt sich den Markt mit dem Zürcher Couverthersteller Goessler – bald das Gleiche an. Damals habe man kurz überlegt, vor Gericht zu ziehen, sagt Zoellin. Doch das Patent schützte eben nicht das Couvert, sondern das «Zusammenwirken von Couvert und vorschriftsgemäss beschriftetem Einlegeblatt», also das ganze Verfahren. Man hätte deshalb nicht die Konkurrenz einklagen können, sondern nur die eigenen Kunden, also die Gemeinden, die die Couverts einkauften. «Und das schien uns nicht zielführend zu sein.»

Früher stanken die Stimmcouverts

Überhaupt: Die Gemeinden, die Stimmbürger, die Post – die Couverthersteller müssen versuchen, es allen recht zu machen, obwohl die Ansprüche oft gegensätzlich sind. Zum Beispiel bei der Reissfestigkeit der Lasche, an der wir stets von neuem verzweifeln. Die Bürger wünschen ein Couvert, das sich so mühelos und präzise wie möglich öffnen lässt, eine «leichtrissige Perforation», wie das im Fachjargon heisst.

Die Post hingegen möchte eine möglichst robuste Perforation, damit die Couverts nicht schon in der Sortieranlage aufreissen. Das Geheimnis hinter der Reissfestigkeit ist übrigens das Schnitt-Steg-Verhältnis der Perforation: Je länger die Schnitte im Vergleich zu den Papierstegen dazwischen sind, desto leichter reisst sie auf. An diesem Verhältnis habe man immer und immer wieder herumgepröbelt, sagt Zoellin. Im Moment sei man bei 5 Millimeter Schnitt zu 1 Millimeter Steg, «aber für jedes neue Papier müssen wir es neu ausprobieren».

Auch das Papier selbst ist über die Jahre bürgerfreundlicher geworden. Früher verwendete man für die Stimmcouverts «Recycling altgrau», «das stank, und weil die Qualität so stark schwankte, riss die Lasche schneller ein». Inzwischen sind die Umschläge aus «Kraft weiss», das weniger Rezyklierzyklen hinter sich hat und deshalb berechenbarer reagiert. Am sichtbarsten aber veränderte sich die aufgedruckte Bedienungsanleitung, die über die Jahre immer umfangreicher wurde – und bildlicher. «Wir merkten irgendwann, dass viele Leute gar nicht lesen», sagt Zoellin.

Schauen wir uns das Standardcouvert also für einmal genau an: Oberhalb der Lasche prangt ein Daumenabdruck, gleich daneben steht «Beim Aufreissen hier festhalten». Auf der Lasche selbst ist ein schwarzer Balken aufgedruckt, der von rechts nach links schmaler wird; er soll laut Zoellin «intuitiv die Reissrichtung vorgeben». Auf diesem Balken sind zusätzlich weisse Pfeile zu sehen, die seitwärts und abwärts zeigen. Und dann mahnt dort noch ein Satz: «Perforation leicht und sorgfältig nach unten aufreissen.»

Im vergangenen Jahr hatte man bei Elco dann noch einmal einen Geistesblitz: Seither wird auf dem Couvert ein QR-Code aufgedruckt, der auf die Website von Elco führt. Dort machen abgefilmte Frauenhände das Öffnen vor, einmal korrekt, einmal so kreuzfalsch, dass es die ganze Lasche zerreisst.

Wer nun all diese Hilfestellungen auf seinem eigenen Umschlag nicht findet: Nicht jedes Schweizer Stimmcouvert ist gleich. Das Standardmodell von Elco, das um die zehn Rappen kostet, wird gerne von kleineren Verwaltungen bestellt. Grössere Gemeinden und Städte hingegen lassen ihre Stimmunterlagen oft individuell gestalten. Manche wollen statt eines Daumens einen Zeigefinger über der Lasche. Andere verzichten auf Bilder und Ausführungen und vertrauen ganz auf die Kraft der Worte «Hier öffnen». Wieder andere nutzen die Flächen, um ihre Bürger daran zu erinnern, dass mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden kann, wer unbefugt an einer Wahl teilnimmt.

Die nächste Herausforderung

Zeit für einen Praxistest. John Zoellin macht vor, wie das Couvert zu öffnen wäre. Er legt den rechten Daumen auf den Daumenabdruck, fasst die Lasche mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand, zieht so leicht und sorgfältig nach unten, wie es Balken und Pfeile und Worte verlangen, und – ratsch! – die Lasche reisst ein. Der Chef des Papieruniversums ist irritiert. Der Vorführeffekt? Er schaut sich den Briefumschlag genauer an. «Das ist ja ein falscher», sagt er dann erleichtert, eine selten bestellte Variante, nur fürs maschinelle Abpacken gedacht. Er holt einen anderen Umschlag aus dem Gestell. Und tatsächlich. Daumen setzen, Lasche fassen, ziehen – jetzt klappt es tadellos.

Wir Stimmberechtigten haben aber leider stets nur einen Versuch. So auch in diesen Tagen, wenn wir uns aufraffen, unsere Meinung zu den AHV-Vorlagen kundzutun. Vielleicht hilft es, die Bedienungsanleitung diesmal tatsächlich zu studieren. Oder sich leise das Motto vorzusagen, das bei Elco als Sticker in den Toiletten klebt: «Eine positive Einstellung zu Herausforderungen ist bereits der halbe Erfolg.»

Ratsch! Wieder? SCHON WIEDER? Ruhig Blut. Pappen wir das Ding halt erneut mit dem zerrissenen Haftstreifen zu oder greifen gleich zum Klebeband. Die wirkliche Wut folgt sowieso erst in zwei oder drei Tagen. Dann, wenn das eingeworfene Couvert wieder im eigenen Briefkasten landet wie ein papierner Bumerang. Weil wir vergessen haben, den Stimmrechtsausweis zu drehen, leider auch nicht zum ersten Mal. Und natürlich ist es nun zu spät, um es nochmals loszuschicken.

Doch vielleicht ist das gut so, vielleicht stärkt das Stimmcouvert ja unsere Demokratie? Wer daran scheitert, eine geschriebene, gezeichnete und abgefilmte Bedienungsanleitung für einen Briefumschlag zu kapieren, sollte nicht über die Zukunft eines Landes bestimmen.

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