Keine ausgestorbene Spezies scheint so lebendig wie die Dinosaurier. Aber wissen wir schon alles über sie? Ein Paläontologe erklärt, warum er Tyrannosaurus Rex nicht küssen würde, wie Saurier ihre Eier ausbrüteten und warum sie in der Schweiz so viele Spuren hinterliessen.

Die meisten Leute kennen den Tyrannosaurus Rex, den Triceratops und den Brachiosaurus. Aber wie viele Dinosaurierarten unterscheiden Experten wie Sie?

Sebastian Stumpf: Mehr als tausend Arten dieser prähistorischen Tiere sind inzwischen durch Knochenfunde gut belegt. Und jedes Jahr werden etwa 30 bis 50 neu beschrieben.

Beeindruckend. Überhaupt macht die Paläontologie in jüngster Zeit Schlagzeilen: Der Tyrannosaurus Rex galt immer als Monster mit Killergebiss. Kürzlich aber bezeichnete die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» diese Tiere als «Dinosaurier zum Küssen».

Ich würde einen solchen Riesenfleischfresser lieber nicht küssen. Aber in der Tat hat sich in jüngster Zeit das Bild von manchen Dinosauriern verändert: Was Tyrannosaurus betrifft, hat der Hollywoodfilm «Jurassic Park» aus den 1990er Jahren die Vorstellungen vieler Menschen von diesem Raubtier stark geprägt. Und da trägt Tyrannosaurus seine Zähne offen im Gesicht: Man sieht das furchterregende Gebiss also auch, wenn das Tier sein Maul geschlossen hält, ähnlich wie bei Krokodilen. Mittlerweile aber gibt es Hinweise, dass Raubdinosaurier wie Tyrannosaurus in Wirklichkeit Lippen hatten.

Der Tyrannosaurus hatte tatsächlich einen Kussmund?

Nein. Ziemlich sicher waren die Lippen dieser Dinosaurier eher schuppig, wie bei heutigen Komodowaranen. Aber eben wohl breit genug, um ihre Zähne zu verdecken.

Wie hat man das herausgefunden? Fleisch versteinert doch nicht.

Entlang der fossilen Kieferknochen von Tyrannosaurus verläuft eine Reihe kleiner Löcher. Ähnliche Strukturen kennt man von den entsprechenden Knochen heutiger Schuppenkriechtiere – die Lippen haben. Man geht davon aus, dass diese Löcher auch beim Tyrannosaurus und bei anderen Raubdinosauriern mit Blutgefässen assoziiert waren. Viele dieser Dinosaurier waren rund um ihr Maul also wohl gut durchblutet, was lippenartige Strukturen vermuten lässt.

Zur Person

Sebastian Stumpf

Der Paläontologe (37) studierte und promovierte an der Universität Greifswald. Seit 2017 lehrt und forscht Stumpf an der Universität Wien. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf den Wirbeltieren des Erdmittelalters, insbesondere auf Dinosauriern und Knorpelfischen. Till Hein

In «Jurassic Park» hält ein Tyrannosaurus mit einem rasenden Geländewagen Schritt. Waren diese Tiere wirklich so begnadete Sprinter?

Bei einem ausgewachsenen Tyrannosaurus ist ein solches Tempo unrealistisch. Halbwüchsige Tiere dieser Art dagegen hatten auffällig lange, grazile Beine. Und bei der Analyse von Fossilfunden hat man im Magen solcher Jungtiere Überreste von Knochen sehr agiler anderer Dinosaurier entdeckt. Auch das spricht für die Schnelligkeit halbwüchsiger Tyrannosaurier. Die Adulttiere dagegen waren bullig und bis zu sieben Tonnen schwer. Sie waren gleichsam riesige Schädel auf Beinen. Und alles deutet darauf hin, dass sie zwar ausdauernde, aber eher langsame Läufer waren.

Brüllten alle Dinos so furchterregend wie die Fleischfresser in «Jurassic Park»?

Nein. Paläontologen aus Japan und den USA konnten unlängst durch die Analyse der Kehlkopfstruktur eines Ankylosauriers rekonstruieren, dass die Laute, die diese Dinosaurier von sich gaben, wohl eher denjenigen heutiger Vögel ähnelten.

Aus wissenschaftlicher Sicht war «Jurassic Park» also ziemlicher Mist.

Nichts gegen diesen Film! Ohne Steven Spielbergs Meisterwerk wäre ich wahrscheinlich gar nicht Paläontologe geworden. Anfang der 1990er Jahre hat «Jurassic Park» eine regelrechte Dinosaurier-Manie ausgelöst. Viele Dinosaurierforscher aus meiner Generation wurden so für das Thema begeistert.

In den Sachbüchern aus meiner Jugend sind die Dinos grün, braun oder grau. Entspricht das noch dem Stand der Forschung?

In Wirklichkeit war das Farbspektrum ziemlich sicher viel diverser. Bei einigen Dinosauriern liessen sich sogenannte Melanosomen nachweisen: winzige Zellorganellen, in denen Melaninpigmente angereichert sind. Nach Jahrmillionen weisen die Fossilien zwar keine Färbung mehr auf. Die spezifische Struktur der Melanosomen ist aber noch erkennbar: Manche sehen wie kleine Stäbchen aus, andere sind kugelrund, wieder andere erinnern an Minibratwürste.

Was lehrt uns das?

Aufgrund der Anordnung der Melanosomen und durch den Vergleich mit heutigen Tieren liessen sich einige Farben rekonstruieren. Sinosauropteryx zum Beispiel, ein kleiner gefiederter Raubsaurier, hatte wahrscheinlich einen gestreiften Schwanz: braun-weiss, vielleicht auch rot-weiss. Viele Dinosaurier mit Federkleid waren vermutlich sogar richtig bunt.

Ich dachte, Flugsaurier hatten keine Federn sondern Flughäute, ähnlich wie heutige Fledermäuse.

Die Pterosaurier – die Flugsaurier – hatten in der Tat Flughäute. Zudem besassen sie aber auch eine Art Gefieder, das aus haarähnlichen Filamenten bestand. Die Pterosaurier gehören, genaugenommen, übrigens auch gar nicht zu den Dinosauriern. Sie bilden eine eigenständige Gruppe, die eng mit den Dinosauriern verwandt ist und sich parallel zu diesen entwickelte.

Hatten auch manche Dinosaurier Federn?

Wahrscheinlich sehr viele. Sie kennen vielleicht den Velociraptor, einen leicht gebauten Raubdinosaurier aus der Kreidezeit, der vermutlich besonders schnell war und dessen zweiter Zeh eine vergrösserte, sichelförmige Klaue trug. Er gehört zur Gruppe der sogenannten Dromaeosauriden. Und bei allen Funden aus dieser Gruppe, bei denen die Umweltbedingungen eine fossile Überlieferung von Federn ermöglichten, wurden welche gefunden.

Flugfedern gab es aber keine bei den Dinosauriern.

Doch. Einige Arten hatten asymmetrische Federn, die einen aerodynamischen Aufschwung ermöglichen. Solche Federn sind eng mit der Entstehung des Vogelflugs verbunden. Ein bekanntes Beispiel ist der rund 150 Millionen Jahre alte Archaeopteryx, der wahrscheinlich schon fliegen konnte und gemeinhin auch als Urvogel bekannt ist.

Sagten Sie nicht, die Flugsaurier waren keine richtigen Dinosaurier?

Das ist in der Tat etwas verwirrend. Die Flugsaurier sind, wie erwähnt, eine eigene Gruppe, die erstmals vor mehr als 230 Millionen Jahren auftrat. Und sie begannen mithilfe von Flughäuten zu fliegen. Etwa 80 Millionen Jahre später aber begannen auch einige Dinosaurier mit dem aktiven Flug. Und zwar mithilfe von Federn.

Die Urahnen der Vögel.

Richtig. Denn auch die heutigen Vögel sind Dinosaurier. Oft wird behauptet, die Dinosaurier seien ausgestorben. Viele Dinosaurier starben tatsächlich am Ende der Kreidezeit, vor ungefähr 66 Millionen Jahren, aus: zum Beispiel Tyrannosaurus oder Triceratops. Eine Fraktion der Dinosaurier aber hat überlebt: die Vögel, deren Ursprung auf eine Gruppe kleiner, fleischfressender Raubdinosaurier zurückgeht. Und ihre Evolution ging weiter: Auch Krähen, Tauben und Spatzen sind Dinosaurier.

Durch das Internet geisterte kürzlich das Gerücht, dass die Dinosaurier gar nicht die uneingeschränkten Herrscher des Erdmittelalters gewesen seien.

Es gibt zu dieser Frage einen interessanten Fossilfund aus der Unterkreide Chinas: Er dokumentiert, wie ein Säugetier einen deutlich grösseren Dinosaurier anfällt. Die beiden Tiere wurden vermutlich von einer vulkanischen Schlammlawine erfasst und im Moment ihres Todeskampfes konserviert. Beim Säuger handelt es sich um einen Repenomanus. Diese Tiere wurden etwa einen halben Meter lang. Der Dinosaurier, den er anfiel, ein Verwandter von Triceratops, war mindestens doppelt so gross. Und es gibt noch einen weiteren Fund, der nahelegt, dass Repenomanus vereinzelt Jagd auf Dinosaurier machte. Dennoch können wir mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die meisten Säuger während der Kreidezeit im Schatten der Dinosaurier standen.

Bei Untersuchungen eines Skeletts des pflanzenfressenden Dinosauriers Struthiosaurus zogen Sie Rückschlüsse auf das Verhalten dieser Tiere.

Die Knochen waren vor über hundert Jahren unweit von Wien gefunden worden. Wir aber haben sie nun auf neuartige Weise untersucht: Bei einem der Fossilien ist der Gehirnschädel eines solchen Tiers dreidimensional erhalten geblieben, eine grosse Seltenheit. Und mithilfe der Computertomografie konnten wir den Bereich digital rekonstruieren, in dem das Gehirn sowie die Innenohren ihren Sitz hatten. Die Rekonstruktion der Innenohren ermöglichte Einschätzungen zum Hörvermögen sowie zum Gleichgewichtssinn – und bis zu einem gewissen Grad auch zur Agilität. Struthiosaurus war demnach ein gemächlicher Zeitgenosse, der sich wohl eher auf die abschreckende Wirkung seiner Körperpanzerung verliess als darauf, Angreifern mit Hakenschlägen auszuweichen.

Stimmt es, dass die Dinosaurier erst im 19. Jahrhundert entdeckt wurden?

Das Konzept Dinosaurier gab es bis dahin in der Tat nicht. Richard Owen gebührt dieses Verdienst. Der britische Mediziner und Zoologe führte die Gruppe der Dinosaurier 1842 ein. Als erster Wissenschafter hatte er erkannt, dass es sich um eine eigenständige Gruppe der Wirbeltiere handelt. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit hatten Menschen aber bereits deutlich früher fossile Dinosaurierknochen gefunden. Wir können davon ausgehen, dass viele Legenden über Drachen und andere mythische Figuren wie etwa den Greif – ein Mischwesen aus Löwe und Adler – durch frühe Funde von Dinosaurierknochen inspiriert sind.

Bei Porrentruy (JU) sei «die wohl weltweit grösste Ansammlung» von Fussspuren von Dinosauriern zu besichtigen, heisst es auf der Website der Universität Basel.

Das kann stimmen. Diese Fundstelle ist international sehr bekannt und etwas ganz Besonderes. Überhaupt hat die Schweiz, was Dinosaurier betrifft, viel zu bieten: Denken Sie etwa auch an die Fundstelle bei Frick (AG) mit zahlreichen Skeletten von Plateosaurus aus der späten Trias vor ungefähr 210 Millionen Jahren.

In Graubünden wurden auf mehr als 2700 Meter über dem Meer Knochen eines Meeressauriers gefunden. Bizarr, oder?

Finden Sie? Die Alpen sind, erdgeschichtlich gesehen, noch ziemlich jung – und als sie aufgefaltet wurden, war die Zeit der Dinosaurier bereits seit Jahrmillionen vorbei. Nicht nur in der Schweiz wurden bei der Gebirgsbildung geologische Schichten mit Versteinerungen aus der Dinosaurierzeit an die Oberfläche gehoben, die einst tief im Untergrund lagen. So haben Paläontologen auch in Tibet, unweit des Mount Everest, fossile Skelettreste von Meeressauriern gefunden.

Letztes Jahr im April wurde auf einer Auktion in Zürich das Skelett eines Tyrannosaurus an eine Privatperson versteigert. Für 5 Millionen Franken. Freut es Sie, dass Dino-Knochen manchen Leuten so hohe Summen wert sind?

Ich sehe solche Versteigerungen kritisch. Schliesslich handelt es sich um ein unwiederbringliches erdgeschichtliches Erbe, das auf diese Weise oft nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der breiten Öffentlichkeit verlorengeht.

Konnten Dinosaurier einen Bandscheibenvorfall bekommen?

Ja. Auch manche Krankheiten liessen sich an Fossilfunden feststellen: beim Tyrannosaurus zum Beispiel der Befall mit bestimmten Parasiten, die heute auch Hühner plagen. Aber eben auch Abnutzungen der Bandscheiben sowie Gicht. An einem Bein eines Centrosaurus – eines gehörnten Verwandten von Triceratops – wurde per Computertomografie sogar Knochenkrebs festgestellt.

Was weiss die Forschung über das Sozial- und Familienleben von Dinos?

Von der Gattung Maiasaura – ein Entenschnabeldinosaurier, dessen wissenschaftlicher Name auf Deutsch «gute Mutterechse» bedeutet – sind grosse Nistplätze fossil überliefert. In manchen der Nester befinden sich dort sowohl Eier als auch Jungtiere, die zu gross sind, um gerade erst geschlüpft zu sein. Das deutet darauf hin, dass der Nachwuchs eine gewisse Zeit von den Eltern versorgt wurde. Wir kennen sogar grosse Fundstellen, die fast ausschliesslich aus den Überresten der langhalsigen Sauropoden bestehen. Einige Forschende vermuten auch daher, dass manche Dinosaurier in Herden umherzogen. Es ist aber auch denkbar, dass sie sich lediglich zum Brüten zusammenfanden.

Wie konnten Kolosse wie der Tyrannosaurus ihre Eier ausbrüten?

Krokodile legen sie zum Beispiel in einem Nest aus Pflanzenresten ab. Da die Pflanzen beim Verrotten Wärme produzieren, ergibt sich eine Art Brutkasten-Effekt. Gut möglich, dass auch manche Dinosaurier auf diese Methode setzten. Andere Arten aber brüteten sehr wohl. Es gibt einen berühmten Fund aus den frühen 1990er Jahren: einen Raubdinosaurier mit dem Namen Citipati, der in Brutposition über dem eigenen Gelege gefunden wurde.

In Patagonien haben Forschende 2021 Knochen eines gigantischen Dinos ausgegraben. Sie sollen vom «grössten Dinosaurier» stammen. Hat sich diese Vermutung erhärtet?

Alle paar Monate wird behauptet, irgendwo sei «der Grösste» entdeckt worden, insbesondere in Lateinamerika. Und in der Tat lebten dort sehr grosse Arten: die Titanosaurier aus der Gruppe der langhalsigen Sauropoden. Das waren echte Kolosse, manche wahrscheinlich bis zu 80 Tonnen schwer. Aber wir haben von diesen Tieren meist nur einzelne Knochen, kein einziges vollständiges Skelett. Meines Wissens gilt derzeit noch immer Patagotitan, der vermutlich 35 Meter lang wurde, als einer der Grössten.

Die Oberkreide, vor rund 100 bis 66 Millionen Jahren, war die Spätphase der Dino-Zeit. Ist es ein Zufall, dass aus jener Zeit besonders viele Riesen bekannt sind?

Es scheint so zu sein, dass viele Dinosaurier gegen Ende der Kreidezeit immer grösser wurden. Die genauen Gründe dafür liegen jedoch im Dunkeln. Man kann aber davon ausgehen, dass die damaligen Ökosysteme sich im Gleichgewicht befanden. Trotzdem sind besonders Tiere gegenüber schnellen Umweltveränderungen sehr anfällig. Auch das begünstigte wohl gegen Ende der Kreidezeit den Niedergang so vieler Dinosaurier.

Heisst das, der berühmte Meteoriteneinschlag vor 66 Millionen Jahren, der die Dinosaurier vernichtet haben soll, ist nur ein Mythos?

Nein. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Einschlag dieses gewaltigen Himmelskörpers der Herrschaft der Dinosaurier ein Ende setzte. Wir haben aber Anzeichen dafür, dass die Dinosaurier sich schon davor im Niedergang befanden. Klimahistoriker fanden Hinweise auf erhöhten Vulkanismus, wodurch in der späten Kreidezeit sehr viel CO2 in die Atmosphäre eingebracht wurde – was wohl bereits zu einer erheblichen Klimaveränderung führte. Der Meteoriteneinschlag besiegelte jedoch das Ende der meisten Dinosaurier.

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