Mittwoch, Oktober 9

Diesen Sommer will man am führenden Musikfestival der Schweiz Neugier wecken. Am ersten Konzertwochenende gelingt das bereits, wenn auch zum Teil ungeplant.

Dem Schriftsteller Stendhal wird der resolute Satz zugeschrieben «Liebe, Musik, Leidenschaft, Neugier, Heldentum – was sonst macht das Leben lebenswert?». Beim «Heldentum» sind wir inzwischen vielleicht anderer Ansicht, aber die ersten vier Wörter passen immer noch gut zusammen. Reizvoll erscheint überdies das Spannungsverhältnis zwischen den Begriffen: Mit der «Leidenschaft» verbinden sich sowohl die «Liebe» wie die «Musik» zu klassischen Pärchen; auch «Neugier» kann sich fraglos aus leidenschaftlicher Liebe zur Erkenntnis speisen, und manchmal verlangt sie sogar Heldenmut. Wie aber passt die Musik da hinein?

Das Lucerne Festival will diese Frage in den kommenden vier Wochen beantworten. Und Michael Haefliger wird in seinem vorletzten Jahr als Festivalintendant nicht müde, zu betonen, dass es sich beim Luzerner Sommermotto «Neugier» nicht bloss um eines jener schönen Passepartouts handelt, die irgendwie alles und jedes in einem Musikprogramm abdecken. Er versteht «Neugier» im Wortsinn als die Gier nach Neuem. Sie sei «ein oft zunächst noch kaum reflektiertes Gefühl, eine Leidenschaft», sagte er im Gespräch mit der NZZ, und sie werfe sogleich grundsätzliche Fragen auf: «Was ist überhaupt neu? Wie kreiert man Neues? Wie verändert man Dinge?»

Bei der Festival-Eröffnung im KKL wagten sich Haefliger und der Stiftungsratspräsident Markus Hongler am Freitag noch weiter vor: Neugier könne uns «aus der Komfortzone pushen» und sogar zu «Wechselbädern der Gefühle» führen. Inwieweit die kommenden 130 Veranstaltungen dies einlösen und die «Komfortzone» der Festivalbesucher tatsächlich ein wenig gefährden, muss sich nun bis Mitte September zeigen – allzu viel Unbequemes findet sich in den Programmen nicht, auch wenn man Arnold Schönberg, dem Grössten aller Unbequemen, einen Schwerpunkt zum 150. Geburtstag widmet. Doch ein «Wechselbad der Gefühle» – das gab es wirklich bereits am Eröffnungsabend.

Lustig und traurig

Von Beethoven stammt ein kleines Klavierstück mit dem Doppeltitel «Lustig – Traurig». Er spiegelt treffend die konträren Stimmungslagen bei dem Anlass wider. Lustig ging es los mit der Uraufführung von «Reigen», einem Stück, das die Schwedin Lisa Streich, in diesem Sommer Composer-in-Residence neben Beat Furrer, anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Lucerne Festival Academy geschrieben hat. Darin kamen allerlei bunte Schläuche zum Einsatz, einige im Raum verteilte Mitglieder des Lucerne Festival Contemporary Orchestra liessen sie mal sirrend, mal jaulend über ihren Köpfen kreisen; währenddessen zitierten sich ihre Kollegen unter Leitung der Dirigentin Johanna Malangré munter durch die Musikgeschichte. Die Botschaft der Petitesse: Gegenwartsmusik kann auch Spass machen.

Recht amüsant blieb es dann auch beim Grusswort des Bundesrats Beat Jans, der das Publikum mit dem rhetorischen Kniff des Cliffhangers auf das Prinzip der Neugier stiess: Erst kündigte Jans vollmundig ein paar Indiskretionen aus Diskussionen innerhalb der Landesregierung an, dann versprach er Delikates zum Ranking der Schweiz in einem kuriosen Index der neugierigsten Staaten Europas. Die geweckten Erwartungen blieben in beiden Fällen erwartungsgemäss uneingelöst, immerhin erfuhr man – Stichwort: unnützes Wissen für den Pausen-Smalltalk –, dass die neugierigsten Menschen der EU angeblich auf Malta wohnen.

In dieser gelockerten Atmosphäre hätte die geplante Aufführung der 7. Sinfonie von Gustav Mahler stimmig anschliessen können – Mahler selbst hat die Siebte einmal sein «heiterstes Werk» genannt. Doch das Festival hatte sich zu einer Programmerweiterung entschlossen, um an den Komponisten Wolfgang Rihm zu erinnern. Der langjährige Leiter und Spiritus Rector der Festival Academy ist am 27. Juli einer Krebserkrankung erlegen. Das Lucerne Festival Orchestra (LFO) und sein Chefdirigent Riccardo Chailly setzten deshalb einen harten Kontrapunkt: In berührenden Worten erinnerte Chailly zunächst an seine vier Jahrzehnte umspannende Künstlerfreundschaft mit Rihm, anschliessend spielten sie gemeinsam einen Auszug aus dessen «Ernstem Gesang» von 1996.

Die Aufführung war für die Beteiligten spürbar mehr als ein pflichtschuldiges Gedenken. Aber auch das Publikum, nun schon zum zweiten Mal mit Zeitgenössischem konfrontiert, liess sich rasch von dem Werk und der Intensität der Wiedergabe gefangen nehmen. Rihms Reflexion über den Tod, angeregt durch die «Vier ernsten Gesänge» von Brahms, ist ein Musterbeispiel für eine tief vergeistigte, aber unmittelbar packende Musik, die nicht zuletzt «neugierig» macht – auf mehr. Man hätte sie schon ohne den traurigen Anlass aufs Programm setzen sollen.

Chiaroscuro

Zumal Rihms dunkel glühende Musik den Ton vorgab für die nachfolgende Wiedergabe der Mahler-Sinfonie. Deren vorgebliche Heiterkeit steht in Wahrheit immer auf der Kippe: Es ist ein abgründiger Humor des Spuks, der Täuschung und des doppelten Bodens – so prägend gibt es das selbst bei Mahler nur in der Siebten. So haben etwa deren vermeintlich lauschige «Nachtmusiken» viel mehr mit der Phantastik E. T. A. Hoffmanns und der Schauerromantik Edgar Allan Poes zu tun als mit blauen Blumen und Eichendorff. Fast nichts ist hier, wonach es klingt, die Überfülle an musikalischen Gestalten kann ebenso jäh ins Fratzenhafte umschlagen wie in scheinbar ungefährdete Lebensbejahung, in Heurigen-Musik oder Schubert-Idyllen.

Für die Interpreten sind diese Wechselbäder ein achtzigminütiger Kraftakt. Chailly und das LFO aber halten Mahlers Spiel mit Allusionen, falschen Fährten und teilweise szenisch wirkenden Instrumentationseffekten gekonnt in der Balance, ohne je die Grenze zur Karikatur zu überschreiten. Die Wechsel der Farben, dieses Chiaroscuro zwischen Nachtgespinsten und gleissenden Lichtblitzen, sind atemberaubend. Einzig die Plattenglocken im Jubelfinale scheppern schmerzhaft zu laut. Doch selbst darin spürt man die Intensität, mit der sich alle Beteiligten auf Chaillys bezwingendes Konzept einlassen – die Interaktion zwischen dem Dirigenten und jedem einzelnen dieser Spitzenmusiker wirkt beispielhaft.

Ein solch partnerschaftliches Geben und Nehmen erreicht man erst in mehrjähriger Zusammenarbeit, nicht ad hoc. Das spürt man anderntags beim ersten Auftritt von Klaus Mäkelä mit dem LFO. Der 28-jährige Shootingstar beschränkt sich in Mendelssohns «Hebriden»-Ouvertüre auf ein paar interpretatorische Akzente, in ein Miteinander findet man noch nicht, dem Tutti-Klang fehlt es an Staffelung. Auch Griegs Klavierkonzert lebt mehr von den Interventionen des Solisten Leif Ove Andsnes, der in seinem Part die Elfen tanzen und manchen Troll kichern lässt, als von einem entsprechend nuancierten Zusammenspiel. Dann aber kommt in Schumanns C-Dur-Sinfonie etwas in Bewegung, man atmet gemeinsam, vor allem in der Bach-Hommage des langsamen Satzes hellt sich der Klang LFO-typisch auf. Da entwickelt sich etwas, es ist noch kein Einvernehmen wie mit Chailly, aber ein Anfang. Und der macht tatsächlich neugierig.

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