Samstag, November 23

Mehr Bahn, weniger Auto: In vielen deutschen Regionen wird über eine Wiederinbetriebnahme von lange stillgelegten Schienenstrecken nachgedacht – für Klimaschutz und gegen Verkehrsstaus. Jedoch: Ohne Geld und Geduld geht wenig.

Der Aufstieg auf die Schwäbische Alb von Honau im Echaztal nach Lichtenstein hat es in sich. Knapp 50 Kilometer südlich von Stuttgart mühten sich seit 1893 für Jahrzehnte Dampflokomotiven mit Zahnradantrieb hinauf und hinunter. Die Honauer Steige: auf gut 2 Kilometern Gleis 179 Höhenmeter mit bis zu 10 Prozent Steigung. Der Betrieb war aufwendig und reparaturanfällig. So wurde die Zahnradbahn 1969 stillgelegt, der Personenverkehr auf der Strecke im Tal folgte 1980, scheinbar für alle Zeiten.

Nun steht die Echaztalbahn vor einer Art Wiedergeburt. Eine «Potenzialanalyse zur Reaktivierung von Schienenstrecken» in Baden-Württemberg ergab, dass die 15 Kilometer zwischen Reutlingen und Engstingen auf der Alb von über 40 untersuchten Bahnlinien im «Ländle» mit das höchste prognostizierte Verkehrsaufkommen haben – mit 11 000 zu erwartenden Fahrgästen am Tag.

Bis sie einsteigen können, werden noch einige Jahre verstreichen. Die Rückkehr zum Eisenbahnbetrieb hat einen langen Vorlauf. Wo einst die Züge rumpelten, lockt auf der Honauer Steige – wie auch anderswo auf ehemaligen Schienenwegen – heute glatter Asphalt Radfahrer an. Politische Entscheidungen, bürokratische Prozesse, Planung und Bau dauern nicht selten mehr als ein Jahrzehnt. Immerhin, die Vorplanungen für die neue Echaztalbahn sollen im nächsten Jahr mit der Empfehlung einer «Vorzugstrasse» abgeschlossen sein.

Neue Bahnnetze sollen CO2 einsparen

Anders als eher singuläre Bahnreaktivierungen ist die Linie Teil eines ambitionierten Konzeptes. In einem Grossraum mit mehr als 700 000 Einwohnern wollen die drei Landkreise zwischen der Schwäbischen Alb und dem oberen Neckartal klimafreundliche Mobilität entwickeln. Auf dem Papier des «Zweckverbandes Regional-Stadtbahn Neckar-Alb» steht bereits ein Bahnnetz zwischen den Oberzentren Tübingen und Reutlingen im Norden und Albstadt-Ebingen im Süden: 200 Kilometer insgesamt, davon fast 40 Kilometer Neubau oder Reaktivierung. 8 Linien mit 55 neuen Haltepunkten sind geplant. Das Investitionsvolumen, Stand 2022, liegt bei über 2 Milliarden Euro.

Die Fertigstellung des Gesamtvorhabens ist erst gegen Ende des dritten Jahrzehnts zu erwarten. Gleichwohl sieht sich der Zweckverbands-Geschäftsführer Tobias Bernecker auf dem richtigen Weg: «Komfortable und zuverlässige Verbindungen im Halbstundentakt zwischen den Innenstädten und dem Umland vom Neckar bis hinauf auf die Schwäbische Alb werden deutlich mehr Menschen auf die Schiene bringen als bisher. Wir rechnen mit mindestens 85 000 Fahrgästen täglich.»

Unterstützt wird das Projekt von der Landesregierung aus Stuttgart. Verkehrsminister Winfried Hermann: «Das Projekt Regional-Stadtbahn ist beispielhaft für eine notwendige Verkehrswende im ganzen Land.»

Im Norden der Region hat die Zukunft schon begonnen. Von Herrenberg über Tübingen und Reutlingen und weiter nach Bad Urach auf der in den 1960er Jahren bereits stillgelegten, aber 1999 wieder eröffneten Ammertalbahn und der Ermstalbahn fährt bereits eine Regionalbahn. Zwar verkehrt sie noch nicht durchgehend im Halbstundentakt, aber seit letztem Jahr elektrisch und modernisiert, betrieben von der Deutschen Bahn (DB). Es fehlen zudem noch geplante Haltepunkte, und die Stellwerktechnik muss ausgebaut werden. Doch Bernecker ist überzeugt, «dass die Erfolgsgeschichte der Reaktivierung und Elektrifizierung dieser Strecken sich fortsetzen wird».

Die Zahnradbahn hat ausgedient

Die Echaztalbahn als künftig steilste deutsche Eisenbahnstrecke in Normalspur wird ohne Zahnstangen auskommen. Denn auch sie wird elektrifiziert und von der neuen Regional-Stadtbahn bedient. Bereits geordert sind sogenannte «Tram-Trains»: Zweisystemfahrzeuge, die als Strassenbahn durch die Städte fahren und ebenso als Vollbahnzüge ausserorts die Schieneninfrastruktur nutzen. So bieten sie umsteigefreie Direktverbindungen zwischen Stadt und Umland.

Allerdings scheiterten Trampläne in Tübingen an einem Bürgerentscheid. Reutlingen hingegen diskutiert Varianten einer innerstädtischen Strassenbahn mit Verbindung zur künftigen Neckar-Alb-Bahn. Tram-Trains sind die Weiterentwicklung des seit mehr als 30 Jahren erfolgreichen Karlsruher Modells, das ähnlich auch in den deutschen Städten Chemnitz, Kassel und Saarbrücken funktioniert.

Unter der Ägide des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) sind sechs Verkehrsunternehmen aus Deutschland und Österreich – unter ihnen die Regional-Stadtbahn Neckar-Alb – eine 4 Milliarden Euro schwere öV-Kooperation eingegangen. Gemeinsam bestellten sie beim Schweizer Schienenfahrzeughersteller Stadler bis zu 504 Wagen und die dazugehörige Fahrzeugwartung für über drei Jahrzehnte. Ein erstes Vorserienfahrzeug für Saarbrücken soll auf der Fachmesse Innotrans im September in Berlin präsentiert werden.

Die hohen Investitionen in die Fahrzeuge sind Sache der Bundesländer. In Baden-Württemberg beispielsweise ist die Landesanstalt Schienenfahrzeuge der Käufer. Dabei sind längst nicht alle sechzehn Bundesländer spendabel, trotz einer «sehr guten Förderkulisse», wie Andreas Geissler, Leiter Verkehrspolitik beim Lobbyverein «Allianz pro Schiene», feststellt. Der Bund übernimmt bis zu 90 Prozent der Investitionen für Streckenreaktivierungen.

Der Haken: Förderanträge können nur über die Länder gestellt werden. Und das sei, so Geissler, «ein Flaschenhals». Längst nicht jede Landesregierung sei gegenüber dem Ausbau des Schienenverkehrs so aufgeschlossen wie etwa Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder auch Nordrhein-Westfalen. Dabei gelte die Reaktivierung als «wirkungsvolle Massnahme, die Mobilität zu verbessern und einen wesentlichen Beitrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen zu leisten», stellte das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in einer Studie fest. Seit 1994, dem Gründungsjahr der Deutschen Bahn AG, seien über 5000 Kilometer Bahnstrecken stillgelegt und nur etwas mehr als 1000 wiederbelebt worden.

Allianz pro Schiene und VDV lobbyieren für mehr Tempo bei der neuerlichen Inbetriebnahme von Bahnsystemen. Bis zum Jahr 2030 könnten das über 1300 Kilometer sein. Geissler: «In Deutschland wurden in den vergangenen Jahren mehr als hundert Machbarkeitsstudien abgeschlossen. Über 75 Prozent dieser Studien fallen positiv aus.» Die interaktive Deutschlandkarte der Verbände zeigt deutlich: Es gibt eine Vielzahl potenzieller Projekte zur Reaktivierung von Bahnstrecken in Deutschland.

Auch die Deutsche Bahn will fortan keine Strecken mehr schliessen. Eine Task-Force der Infrastrukturtochter DB Infrago hat damit begonnen, Reaktivierungsprojekte zu suchen. Fast 90 Strecken mit 1300 Kilometern wurden ins Visier genommen, 20 davon mit insgesamt 245 Kilometern sollen nun der standardisierten Kosten-Nutzen-Bewertung zugeführt werden. Diese Berechnung ist das gesetzliche Mass für einen Neubeginn auf Schienen. Bei den meisten Reaktivierungsprojekten ist die DB allerdings aussen vor. Bundesländer oder kommunale Organisationen übernehmen Eigentum und Ausbau der Infrastruktur.

Die «Hermann-Hesse-Bahn» ist fast fertig. Vom nächsten Jahr an soll sie Calw im Tal der Nagold mit der S-Bahn Stuttgart verbinden. Seit dem 19. Jahrhundert bis in die 1980er Jahre führte die Württembergische Schwarzwaldbahn in die Geburtsstadt des Dichters, wurde dann jedoch stillgelegt. Nun wird sie in Weil der Stadt und in Renningen mit dem S-Bahn-Netz verknüpft.

Die alte Trasse wurde dafür sogar durch einen 500 Meter langen Tunnelneubau verkürzt: Zeitgewinn für den S-Bahn-Anschluss. Ursprünglich war Dieselbetrieb geplant, doch nun gibt es eine ökologisch saubere Lösung. Für die 18 Kilometer lange eingleisige Strecke, die in der Mitte auf 1,8 Kilometern ein zweites Gleis für den Gegenverkehr bekommen hat, stellt Baden-Württemberg drei batterieelektrische Fahrzeuge zur Verfügung. Auf dem Streckenabschnitt unter S-Bahn-Fahrdraht können sie Energie auftanken.

Reaktivierung kann auch Landesgrenzen überschreiten

An der niedersächsischen Grenze zu den Niederlanden steht eine Reaktivierung hinüber ins Nachbarland an. Die Grafschaft Bentheim hatte vor 50 Jahren ihren Personenverkehr auf der Schiene verloren, aber die Gleise behalten. Denn die Bentheimer Eisenbahn, das regionale Nahverkehrsunternehmen, betreibt regen Güterverkehr über die Grenze hinweg.

Unter dem Eindruck der politischen Klimaziele wählte das Bundesland Niedersachsen die südlichen 28 Kilometer von Bentheim an der Intercity-Linie Berlin–Amsterdam über die Kreisstadt Nordhorn bis zum vorläufigen Endpunkt Neuenhaus für den Neustart aus. Schieneninfrastruktur, Bahnhöfe und Signaltechnik wurden auf aktuellen Stand gebracht. Seit fünf Jahren pendeln fünf Dieseltriebzüge unter der Marke «Regiopa» und locken im Schnitt 2500 Fahrgäste täglich an – weit mehr als ursprünglich prognostiziert.

Nun folgt der weitere Ausbau auf 30 Kilometern hinüber nach Coevorden in den Niederlanden. Und es wird bereits eine weitere Verlängerung in die niederländische Universitätsstadt Emmen diskutiert.

Nicht immer ist es der ländliche Raum, der von wieder aufgenommenem Schienenverkehr profitieren soll. Mitten in Berlin bietet die 1980 stillgelegte, zuletzt von der DDR-Reichsbahn betriebene «Siemensbahn» derzeit die schaurig-schöne Kulisse einer rostenden Hochbahntrasse und verfallender Stationen. Bald soll es hier wieder ganz normalen S-Bahn-Betrieb geben – mit Direktanschluss über den innerstädtischen Stadtbahnring zum Hauptbahnhof und zum Flughafen.

Auch in der Schweiz wird immer wieder über die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken nachgedacht. Eines der Projekte, das die verschiedenen Aspekte einer Wiederinbetriebnahme verdeutlicht, betrifft die gut 19 Kilometer lange Verbindung der beiden Städte Büren an der Aare und Solothurn mit vier weiteren Zwischenstationen. Stillgelegt wurde der Abschnitt aufgrund niedriger Frequenzen nach der Realisierung der Bahn 2000. Es gibt zudem eine gute Busverbindung in alle Ortschaften der Verbindung.

Mit der Bahnverbindung liesse sich das Stadtzentrum von Solothurn deutlich schneller erreichen. Die derzeit einspurige Strecke müsste allerdings auf Doppelspur ausgebaut werden. Kritiker stellen die Wirtschaftlichkeit der Reaktivierung infrage.

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