Ist die Meinungsfreiheit in Europa wirklich bedroht, wie es der US-Vizepräsident J. D. Vance behauptet? Der dänische Autor und Jurist Jacob Mchangama gibt ihm recht. Aber er sagt auch, dass die USA vor einem grossen Problem stünden.
Wer alle alles sagen lässt, darf irgendwann selber nichts mehr sagen. So lautet das Toleranz-Paradox, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa durchgesetzt hat.
Die Ansicht hat sich bis heute gehalten. In Europa duldet die Gesellschaft nicht jede Meinung, jedenfalls nicht ohne strafrechtliche Konsequenzen. In Deutschland ist zum Beispiel die Leugnung des Holocaust verboten. In der Schweiz ist dieses Verbot in der Rassismusstrafnorm festgehalten. Das Gesetz verbietet nicht nur Antisemitismus, sondern auch jegliche Form von Diskriminierung aufgrund von Ethnie, Religion oder sexueller Orientierung.
Der Däne Jacob Mchangama würde diese Gesetze am liebsten alle abschaffen. Er sagt über sich selbst, dass er in Europa deshalb wie ein Häretiker behandelt werde. Der 47-Jährige studierte Rechtswissenschaften und hatte eine Assistenzprofessur für internationale Menschenrechte an der Universität Kopenhagen. Heute lebt und arbeitet er in den USA, wo er an der Vanderbilt University in Nashville den Think-Tank The Future of Free Speech leitet.
Jacob Mchangama, Sie erforschen und kommentieren seit fast zwei Jahrzehnten Entwicklungen in der Meinungsfreiheit. Sie kritisieren Europa für sein Verbot der Hassrede . . .
. . . und für seine Blasphemiegesetze. Das war es, was mich ursprünglich dazu gebracht hat, tiefer und länger über Meinungsfreiheit nachzudenken. Dieses Jahr ist übrigens der 20. Jahrestag der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen.
2005 hat die dänische Zeitung «Jyllands-Posten» zwölf Karikaturen des Propheten Mohammed publiziert. Die Folge waren zahlreiche islamistisch motivierte Gewalttaten und Drohungen gegen Künstler und Journalisten in ganz Europa. Wie beeinflusste das Ihr Interesse für das Thema?
Die Ereignisse machten Dänemark zum Epizentrum eines globalen Wertekampfes zwischen Religion und freier Meinungsäusserung. Was mich daran überraschte, war die Bereitschaft von Menschen, die sich den Werten der Aufklärung und freier, offener Gesellschaften verpflichtet fühlten, dieselben Werte innerhalb weniger Tage fallenzulassen. Sie müssen sich vorstellen: Damals erhielten Redaktionen Drohschreiben, Journalistinnen wurden mit dem Tod bedroht. Und trotzdem war die Mehrheit bereit, zu sagen: Hier geht es nicht wirklich um Meinungsfreiheit. Internationale Organisationen wie die Uno, die EU, ja sogar die Bush-Regierung in den USA bezeichneten diese Karikaturen damals als Aufwiegelung – als Aufforderung zum Hass gegen Muslime. Obwohl schon damals klar war: Es war eine Gruppe autoritärer Staaten und religiöser Fundamentalisten, die die Protestwelle in der islamischen Welt anheizte.
Wie fühlten Sie sich, als Sie diesen schnellen Wertewechsel erlebten?
Um ehrlich zu sein: Ich war fassungslos. Ich lebte in einem Land, in dem man Meinungsfreiheit bis dahin für selbstverständlich gehalten hatte. In Dänemark waren Karikaturen, die sich über Religion lustig machten, an der Tagesordnung. Man hat sich über das Christentum lustig gemacht, niemand musste deshalb Ärger befürchten. Ich hielt die Mohammed-Karikaturen ehrlich gesagt für nicht sehr gelungen. Aber erst als ich den Leitartikel las, den die Zeichnungen begleiteten, begriff ich, worum es ging.
Was war der Inhalt?
Darin wurde argumentiert, dass in einer freien und offenen Gesellschaft Freiheit und Gleichheit für alle gelten müssen. Wenn man also eine freie und offene Gesellschaft will, kann man nicht einen Sonderschutz oder Privilegien für bestimmte Gruppen haben. Selbst wenn Muslime in Dänemark eine Minderheit sind, bedeutet das nicht, dass sie aufgrund ihrer Religion besonderen Schutz geniessen müssen. Das ist keine Diskriminierung der muslimischen Bevölkerung. Es ist eine Möglichkeit, zu sagen: Ja, man ist vollwertiger Teil der dänischen Gesellschaft, aber Teil davon zu sein, bedeutet auch, dass man das Recht hat, alles zu kritisieren, was man will.
Die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen führte zu einer Strafanzeige, die sich auf das alte Blasphemiegesetz Dänemarks stützte. Es wurde schliesslich 2017 aufgehoben. Im Jahr 2023 wurde aber ein Straftatbestand geschaffen, der die öffentliche Schändung von religiösen Schriften wie dem Koran wieder unter Strafe gestellt hat. Warum?
Auslöser waren Koranverbrennungen in Dänemark und in Schweden. Die Reaktion darauf ist ein gutes Beispiel dafür, wie verwundbar sich Europa heute im Vergleich zu den 1990er Jahren fühlt. Wir haben nicht mehr denselben geopolitischen Einfluss, nicht mehr dasselbe Vertrauen in unsere Institutionen, in unsere Demokratien. Wir vertrauen nicht mehr darauf, dass unsere Werte überlegen und stärker sind als die von Gegnern der Demokratie. Es herrscht plötzlich die Ansicht vor, dass man sich nur wehren kann, indem man die Meinungsfreiheit einschränkt und gegen Menschen mit extremistischen Ansichten vorgeht – egal ob sie aus dem propalästinensischen Lager oder vom rechten Rand stammen. Gleiches gilt für den Umgang mit Desinformation aus Russland.
Aber Bücherverbrennungen sind historisch betrachtet verdächtig.
Ich finde den Vergleich mit den Bücherverbrennungen durch die Nazis nicht passend, denn da war es eine Regierung, die diesen Akt ausführte. Korane zu verbrennen, ist sicher nicht die subtilste oder intelligenteste Art der Religionskritik. Aber im Dänemark der 1990er Jahre gab es sogar TV-Sendungen, in denen vor laufender Kamera Bibeln verbrannt wurden. Damals haben die Gerichte entschieden, dass diese Handlung von der Meinungsfreiheit geschützt sei. In dieselbe Kategorie fällt das Verbrennen von Flaggen und anderen Symbolen.
Womit wir wieder in den USA wären, wo das Verbrennen der nationalen Flagge verboten ist. Wie setzt sich die Idee der Redefreiheit in den USA von europäischen Idealen ab?
Die Begriffe Redefreiheit und Meinungsfreiheit, oder genauer: Meinungsäusserungsfreiheit, werden oft synonym verwendet. Je nach kulturellem Kontext bedeuten sie allerdings unterschiedliche Dinge. Die Redefreiheit in den USA geht sehr viel weiter, aber sie hat ihre blinden Flecken. Sie haben das Verbrennen von Flaggen schon angesprochen. Und dann gibt es noch die Obszönitäten, die auch nicht gedeckt sind vom ersten Verfassungszusatz – ein Residuum der puritanischen Tradition.
Was sind denn Obszönitäten genau?
Es geht unter anderem um die Darstellung sexueller Inhalte, die nach geltender Gesellschaftsnorm anstössig sind. In der Rechtspraxis gelten aber Ausnahmen, nämlich dann, wenn eine Darstellung einen offensichtlichen literarischen, künstlerischen, politischen oder wissenschaftlichen Wert besitzt.
Welche Ausnahmen gibt es sonst noch in der amerikanischen Auffassung von Redefreiheit?
Ausgenommen sind auch Aufrufe zur Gewalt. Die Entstehung der amerikanischen Redefreiheit ist für mich so interessant, weil sie zeigt, dass Minderheiten am Schluss profitiert haben von ihrer Möglichkeit, gegen Diskriminierung zu protestieren. Denken Sie an die Bürgerrechtsbewegung oder die Verfolgung von Kommunisten, die nur beendet werden konnte, weil sich die Ansicht durchsetzte, dass politische Ideologien geschützt werden müssen von der Redefreiheit – egal wie sehr sie sich vom gesellschaftlichen Konsens entfernt haben. In der Geschichte des First Amendment sieht man: Minderheiten profitieren von Meinungsfreiheit.
Das First Amendment, der erste Zusatz der US-Verfassung, schützt die Redefreiheit eigentlich. Trotzdem klagt Trump aber nun gegen Meinungsforscher und Medien, deren Publikationen ihm nicht gefallen. Was bringt ihm das?
Es ist eher unwahrscheinlich, dass er vor Gericht mit Klagen wie jener gegen die Agentur AP durchkommt, die sich weigerte, in ihren Publikationen den Golf von Mexiko in Golf von Amerika umzubenennen. Das weiss er wohl auch. Indirekt zielt er mit den Klagen vermutlich auf etwas anderes: auf die Durchsetzung der Selbstzensur.
Frauen, Klimakrise, Diversität, Indigene: Laut einer langen internen Liste der Trump-Administration sollen Wörter wie diese von den Behörden künftig nicht mehr verwendet werden. Sie haben sich für ein Buch mit der Geschichte der Meinungsfreiheit befasst. Hat die Idee, Wörter aus dem politischen Diskurs zu verbannen, jemals funktioniert?
Man kann Wörter aus staatlichen Institutionen und öffentlichen Universitäten verbannen, aber es ist viel schwieriger, Wörter als solche zu entfernen, ohne auf sehr harte Mittel zurückzugreifen. Die katholische Kirche versuchte das mit verschiedenen Versionen der Inquisition, die Sowjetunion hatte ihr «Glawlit», das offizielle Zensurbüro. Und in den USA gab es lange eine moralische Panik wegen anstössiger, obszöner Sprache. In totalitären Staaten wie China ist es viel einfacher, Wörter verschwinden zu lassen. In den USA würde dies jedoch eine Aushöhlung des ersten Verfassungszusatzes erfordern.
Wie wird sich diese Liste der Trump-Regierung auswirken?
Vorerst signalisiert sie einen radikalen ideologischen Wandel. Ich finde die Liste aber nicht deshalb wichtig. Das grössere Problem ist, dass die Behörden diese neue Sprache als Voraussetzung dafür verlangen, dass Universitäten und andere Auftragnehmer überhaupt noch Aufträge erhalten können.
Ist dieser Regierungswechsel auch für Ihre Forschung ein Problem?
In meinem Fall: gar nicht. Die Universität Vanderbilt nimmt es mit der akademischen Freiheit sehr genau, und unsere Unabhängigkeit ist garantiert. Generell glaube ich aber, dass viele Visa- und Greencard-Inhaber wie ich besorgt sind, ob sie wegen Kritik an der Trump-Regierung abgeschoben werden können. Es herrscht grosse Unsicherheit darüber, was noch öffentlich gesagt oder geschrieben werden darf, was wiederum auf der Meinungsfreiheit lastet.
Trump sagt von sich, dass er die Redefreiheit in den USA wiederherstellen werde. Wie sehen Sie das?
Meinungsfreiheit und Abschaffung der Zensur war ein zentrales Element von Trumps Wahlkampf und der Executive Order, die er in den ersten Tagen erlassen hat. Gleichzeitig verfolgt er jetzt seine Gegner seit Amtsantritt auf eine Weise, die direkt mit dem von ihm so hochgehaltenen First Amendment kollidiert.
Aber würden Sie sagen, dass Trump mit seiner ursprünglichen Kritik recht hatte?
Als die Biden-Regierung an der Macht war, behaupteten er und seine Unterstützer, die Demokraten würden die freie Meinungsfreiheit unterdrücken. Sie sprachen von Cancel-Culture. Und einige dieser Kritikpunkte waren durchaus berechtigt. Aber jetzt ist Trump wieder Präsident und nimmt es seinerseits nicht mehr genau mit der Meinungsfreiheit.
Was war eigentlich aus Ihrer Sicht der Ursprung des Streits über Cancel-Culture?
Es geschah als Reaktion auf die Proteste gegen den Tod von George Floyd. Als die «Black Lives Matter»-Bewegung an Popularität gewann, verloren Menschen ihre Jobs, weil sie Kommentare äusserten, die überhaupt nicht rassistisch waren. Es gab diesen Moment, wo selbst harmlose Kommentare oder nur schon einzelne Wörter aus dem Kontext gerissen wurden und Konsequenzen nach sich zogen. Das Ziel der Rassengerechtigkeit wurde allem übergeordnet, und es kam zu einer Art von Säuberung von Leuten, die sich angeblich nicht ausreichend für Rassengerechtigkeit und Rassengleichheit einsetzten. Und jetzt beobachten wir gerade die Gegenbewegung.
Ist die Cancel-Culture «gecancelt»?
Die Cancel-Culture hat überlebt. Nur anders, als man es gewohnt war. Jetzt kommt sie einfach von rechts.
Dass es zur Normalisierung kommt, begrüssen auch viele Demokraten, denen die Entwicklung der letzten Jahre zu weit ging.
Ja, aber nicht alle sind prinzipiell dafür, dass sich die Dinge normalisieren. Sie sagen nicht: Das Pendel ist zu weit in Richtung der Cancel-Culture von links ausgeschlagen, bringen wir es zurück in die Mitte. Nein, nein. Es geht jetzt in die andere Richtung. Und die rechte Cancel-Culture wird von einer staatlichen Macht offiziell unterstützt und gefördert. Ich halte das für sehr gefährlich.
Jeff Bezos, der Besitzer der «Washington Post», befahl der Redaktion kürzlich, in ihren Kommentaren ausschliesslich «freie Märkte» und «persönliche Freiheiten» zu verteidigen. Davon abweichende Einstellungen würden nicht mehr publiziert. Wie wichtig ist eigentlich Meinungsvielfalt in Medienhäusern für die Demokratie?
Redaktioneller Pluralismus steht in einem sehr offensichtlichen Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit in einer Demokratie. Bezüglich der «Washington Post» dürfte der interessanteste Aspekt sein, ob die redaktionelle Haltung Kritik an der Trump-Regierung zulässt. Denn wie Sie wissen, steht Trumps Politik nicht immer im Einklang mit freien Märkten und persönlichen Freiheiten.
Aber haben Medienhäuser nicht das Recht, auf Pluralismus zu verzichten? Könnte man nicht auch argumentieren, dass diese unternehmerische Entscheidung Teil der Meinungsäusserungsfreiheit ist?
Sicher. Die NZZ hat eine konservativere redaktionelle Linie als die Deutsche «TAZ», und das ist im Sinne des Pluralismus gut. Heikel wird es allerdings, wenn ein Milliardär eine Zeitung zum Sprachrohr der Regierung macht, um seine eigenen Geschäftsinteressen durchzusetzen. Ich sage nicht, dass das bei Bezos und der «Washington Post» der Fall ist. Aber in vielen Ländern war das ein Weg, die Medien konformer zu machen, ohne staatliche Zensur einzusetzen.
Dass der Wind gedreht hat, spürt man auch in Europa. Die Schweizer Grossbank UBS hat gerade ihre Diversitätsziele gestrichen. Auch andere Unternehmen folgen der neuen Anti-Wokeness. Wird die Einschränkung der Meinungsfreiheit in den USA im Rest der Welt Auswirkungen haben?
Unsere Daten zeigen, dass die Meinungsfreiheit in liberalen Demokratien weltweit im letzten Jahrzehnt stark unter Druck geraten ist. Das hat allerdings weniger mit den Ereignissen in den USA zu tun. Die Reaktion auf die Terrorangriffe der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 hat sich stark negativ ausgewirkt. Studenten und Akademikerinnen von amerikanischen Eliteuniversitäten feierten die Massenhinrichtung von israelischen Zivilisten. In Europa kam es bei propalästinensischen Protesten zu zahllosen judenfeindlichen Manifestationen. Die Reaktion der Europäer darauf war aber das noch grössere Gift für die offene Gesellschaft.
Wie meinen Sie das?
In Deutschland und Frankreich werden Personen angezeigt oder gerichtlich zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt für ihre Kritik an Israel. Propalästinensische Proteste wurden gleich ganz verboten. Ähnliches konnte man in Grossbritannien beobachten, da ging es um die Kunstfreiheit. «The Guardian» entliess den Zeichner Steve Bell wegen einer Karikatur von Benjamin Netanyahu, angeblich weil ihr symbolischer Gehalt antisemitisch sei. Die Meinungsfreiheit wird mit Füssen getreten unter dem Vorwand, die Gesellschaft schützen zu müssen.
In Deutschland und Frankreich wurden Leute nicht für ihre Israel-Kritik verurteilt, sondern wegen illegaler Hassrede gegen das Judentum oder weil sie den Terrorismus glorifizierten. In Deutschland kommt es seit Ausbruch des Krieges in Gaza jeden Tag zu Bombendrohungen gegen Synagogen. Dass die Behörden darauf reagierten, ist doch richtig?
Ja, aber besser, indem sie jüdische Einrichtungen verstärkt schützen und mehr in die Gewaltprävention investieren. Was garantiert nicht helfen wird: Hassrede zu verbieten und Redefreiheit einzuschränken. Das haben die Daten aus Ländern rund um die Welt immer wieder gezeigt: Die Einschränkung der Meinungsfreiheit verhindert Gewalt nicht. Eher im Gegenteil.
Warum im Gegenteil? Ist es nicht gerade so, dass mehr Hassrede zu mehr Hass führt?
Vergleicht man die Daten verschiedener westeuropäischer Staaten, zeigt sich ein gegenteiliges Muster: In Ländern, in denen etwa rechtsextreme Äusserungen in der Öffentlichkeit besonders stark unterdrückt werden, kommt es zu mehr rechtsextremer Gewalt.
Von welchem Land reden wir jetzt konkret?
Schauen Sie Ihr Nachbarland an. Deutschland hat als Reaktion auf die Anti-Migrations-Rhetorik der Rechten 2017 ein Gesetz eingeführt, um den Hass im Internet einzudämmen. Social-Media-Plattformen müssen seither illegalen Inhalt innerhalb von 24 Stunden nach Meldung durch Nutzer löschen. Andernfalls drohen hohe Strafen. Dann wurden 2020 neun Menschen mit Migrationshintergrund durch Neonazis getötet. Die Deutschen haben das Gesetz ausgeweitet und Hass-motivierte Beleidigungen unter Strafe gestellt. So wollte man Muslime, Juden und andere Gruppen schützen. Laut der «New York Times» mussten sich in vier Jahren über tausend Deutsche einer Anklage wegen Hassrede stellen. Gleichzeitig stellte die EU-Kommission 2022 fest, dass es in Deutschland im Vergleich zu den Jahren vor der Einführung des Gesetzes zu einem drastischen Anstieg von Hassrede im Internet gekommen ist.
Sie gehen von der Ventil-Hypothese aus, die besagt, dass die Gesellschaft ein Überdruckventil braucht für schlechte Gefühle und Hass, um nicht zur Tat zu schreiten.
Die Idee der Hypothese ist, dass selbst Menschen mit extremen Ansichten weniger wahrscheinlich zur Tat schreiten, wenn sie maximale Rede- und Meinungsäusserungsfreiheit nutzen können. Denn so können sie ihren Frust verbalisieren. Wenn man ihre Meinungen allerdings unterdrückt, dann kann das Gewalt provozieren, weil sich diese Menschen sagen: Die wollen meine Meinung ausschalten, sie unterdrücken mich. Ich muss mir anders Gehör verschaffen – und da ist in ihren Augen Gewalt gerechtfertigt.
Die Gegner dieser Hypothese argumentieren mit dem Dampfkochtopf: Je heisser, desto höher steigt der Druck im Topf. Je mehr Hass, desto eher kommt es zur Gewalteruption. Aber nehmen wir einmal an, Ihre Hypothese trifft zu: Sollte man alles sagen und schreiben dürfen, oder gibt es noch rote Linien?
Natürlich gibt es die! Drohungen oder Aufrufe zu Gewalt müssen immer unter Strafe gestellt werden. Das ist klar abzugrenzen von der Hassrede wie rassistischen Beleidigungen, die zu keiner Tat gegen die Betroffenen aufrufen. Um es klar zu sagen: Ich finde nicht, dass es erlaubt sein sollte, sich in Zürich vor die Synagoge zu stellen und zum Mord an den Juden aufzufordern. Oder zur Gewalt gegen Muslime aufzurufen.
Wer im Internet beschimpft und mit Hass überschüttet wird, erleidet vielleicht keinen körperlichen Schaden, aber sehr wohl einen emotionalen. Betroffene können psychische Probleme bis hin zur Suizidalität entwickeln. Ist das nicht Grund genug, Hassrede zu verbieten?
Ich sage nicht, dass Hassrede kein Problem ist, sondern dass ein Verbot nicht dazu führt, dass es weniger davon gibt. Europäische Demokratien aber versuchen Hassrede zu unterdrücken, weil sie davon ausgehen, dass Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung zwei sich widersprechende Werte sind. Sie irren sich in dem Punkt aber.
Je weiter die Meinungsfreiheit geht – desto weniger Gewalt, behaupten Sie. Aber gerade die USA kennen sehr viel Gewalt: Schiessereien in Schulen oder von Extremisten wie zuletzt in Las Vegas. Sehen Sie keinen Widerspruch?
Ja, die USA haben ein Problem mit Gewalt, das ist offensichtlich. Aber politische Gewalt ist doch relativ selten. Dass es in den USA so viele Massenschiessereien gibt, hat vermutlich mehr mit dem Second als mit dem First Amendment zu tun. Das zweite Amendment schützt das Recht auf Bewaffnung jedes einzelnen Bürgers.
Aber stimmt das wirklich? Schauen wir uns die Erstürmung des Capitol Hill an. Zur Teilnahme aufgerufen wurde im Internet, dieser Gewaltausbruch wurde online vorbereitet, geschützt durch die Redefreiheit.
Ah, jetzt sind wir bei einem wirklich guten Beispiel, wie freie Rede zu Gewalt führen kann. Man konnte tatsächlich sehen, dass die Behörden zögerten, etwas zu unternehmen, weil vieles, was im Vorfeld passierte, von der Redefreiheit geschützt war. Ich denke, die richtige Reaktion der USA in diesem Fall wäre gewesen, die Sicherheitsvorkehrungen rund um das Capitol zu verstärken, denn das ist ein weiterer potenzieller Vorteil der Meinungsfreiheit: Viele Menschen haben im Internet ganz offen ihre Gewaltbereitschaft gezeigt. Aber die Behörden haben es versäumt, angemessene Massnahmen zu ergreifen, um den friedlichen Machtwechsel in einer Demokratie zu schützen.
Muss man einfach in Kauf nehmen, dass solche Dinge passieren, wenn die Meinungsfreiheit geschützt ist?
Meinungsfreiheit birgt Risiken. Sie bringt Schäden mit sich. Sie wird nichts an der derzeitigen Polarisierung ändern. Ich ziehe meine Schlüsse auch nicht aus der Gegenwart, sondern aus der Geschichte. Und da sehe ich, dass diese Schäden und Risiken durch die enormen Vorteile der Meinungsfreiheit aufgewogen werden. Stellen Sie sich nur vor, Trump hätte jetzt dieselben Instrumente, die Redefreiheit einzuschränken, wie die Europäer! Das wäre verheerend. In Deutschland werden Tausende von Leuten angezeigt, weil sie von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch machen. Amerikaner würden nie tolerieren, dass das FBI vor ihrem Haus aufkreuzt wegen eines Tweets, in dem sie einen Politiker beleidigt haben. In Deutschland kann die Polizei deine Wohnung stürmen, nur weil du einen Politiker einen Pimmel genannt hast!
Sie sprechen vom «Pimmelgate». Vor vier Jahren wurde in Hamburg ein Twitter-Nutzer angezeigt und seine Geräte konfisziert, weil er ein Regierungsmitglied einen Pimmel genannt hatte. Das ist eine relativ harmlose Beleidigung. Hingegen sind Sie ja unter anderem der Meinung, dass rassistische Äusserungen und selbst Holocaustleugnung legal sein sollten. Ist das Ihr Ernst?
Ja, ich finde, man sollte das Recht haben, den Holocaust zu leugnen. In Dänemark ist das beispielsweise kein Verbrechen. In Schweden auch nicht. Um es klarzustellen: Ich stimme Holocaustleugnern nicht zu. Aber ich finde auch, man sollte das Recht haben, Stalinist zu sein. Und Stalin war für einige der schlimmsten Verbrechen der Welt verantwortlich. Sollte man als Neonazi auf der Strasse Leute einschüchtern dürfen? Nein. Und man sollte kein Stalinist sein dürfen, der gewaltsam die Macht übernehmen will. So kann man meiner Meinung nach die Grenzen ziehen. Es gibt ja auch noch alle möglichen anderen Äusserungen: Betrug und Unterschlagung. Niemand würde argumentieren, dass der nigerianische Betrüger sich auf freie Meinungsäusserung berufen kann, wenn er eine Frau aus Europa dazu aufgefordert hat, ihm ihre Ersparnisse zu schicken für eine schöne Timesharing-Wohnung auf Mallorca. Niemand würde sagen: Das ist jetzt durch die Meinungsfreiheit geschützt.
Ist Meinungsfreiheit das höhere Gut als Minderheitenschutz? Ist es zum Beispiel wichtiger, dass jeder Lügen über das Judentum verbreiten darf, als dass wir jüdische Menschen vor Beleidigungen schützen?
Das sage ich nicht. Aber ich bin überzeugt, dass Dialog und Aufklärung mehr zum Minderheitenschutz beitragen als die Beschneidung der Meinungsfreiheit.
Können Sie das begründen?
In der Geschichte haben benachteiligte Gruppen stark von der Meinungsfreiheit profitiert, weil sie das Recht hatten, öffentlich gegen Diskriminierung zu protestieren und die Politik der Regierung zu kritisieren. Denken Sie an Ihr Recht, als Frau in der Schweiz abzustimmen und zu wählen. Es wurde von Frauen erkämpft, die von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch machten. Oder ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel aus der Geschichte. 1836 wurde von Südstaaten-Vertretern im US-Kongress eine sogenannte «gag rule» durchgesetzt, die «fanatische und aufwieglerische» Reden von Sklavereigegnern unter Strafe stellte. Die Sklavenbesitzer fühlten sich nämlich von Abolitionisten verleumdet und befürchteten, dass deren Reden die Sklaven zum Aufstand antreiben würden. Mit anderen Worten fand man also, dass allein die «schlechte Rede» über ein Thema Grund genug war, die Meinungsfreiheit zu beschneiden. Das Verbot wurde nach ein paar Jahren wieder aufgehoben, und zwar allein dank den Nordstaaten, die sich unbeugsam für die Meinungsfreiheit einsetzten und so den abolitionistischen Ideen Gehör verschafften.
Wie kam es eigentlich dazu, dass wir uns heute über Meinungsfreiheit streiten? Denn mit dem Auftauchen des Internets schienen wir ihr ja sehr nahe: Staatliche Zensur, dachten wir, würde obsolet und die Meinungsfreiheit vollkommen.
Es ist paradox: Der Rückgang der Meinungsfreiheit fand ausgerechnet zu einer Zeit statt, als das Internet für immer mehr Menschen zugänglich wurde. Dabei herrschte um die Jahrtausendwende viel Optimismus im prodemokratischen Lager. Man dachte: Jetzt hat Autoritarismus keine Chance mehr, weil niemand mehr Informationsflüsse kontrollieren kann. Das hat sich heute komplett gedreht. Autoritäre Staaten haben gelernt, das ursprüngliche Versprechen des Internets zu missbrauchen, um es für Massenüberwachung und Zensur zu nutzen. China ist das prominenteste Beispiel, aber wir sehen auch, dass europäische Staaten sich Sorgen über die Verbreitung von Hassrede und Desinformation machen und zunehmend versuchen, das Internet auf eine Weise zu kontrollieren, die wir uns vor zehn Jahren wohl nicht hätten träumen lassen.
Sie sind Europäer, hier gelten Sie als Häretiker und werden stark kritisiert für Ihre Haltung zur Meinungsfreiheit. Wurden Sie persönlich eigentlich nie zum Ziel von Hass und Diskriminierung?
Doch, aber nie auf eine Weise, die mir Sorgen gemacht hätte. Interessant ist aber das Beispiel meines Vaters. Er lebt heute wieder auf den Komoren, wo er geboren ist. Das ist ein kleiner Inselstaat in Ostafrika, der autoritär regiert wird. Vor etwa zehn Jahren organisierte mein Vater einen Generalstreik, weil die Grundversorgung mit Strom und Wasser nicht mehr gewährleistet war. Er wurde dafür verhaftet. Die Anklage lautete auf Anstiftung zum Hass. Wow! Als Akademiker fand ich, das sei ein perfektes Beispiel dafür, wie Gesetze, die angeblich zum Schutz der Gesellschaft da sind, missbraucht werden.