Montag, Oktober 21

Die Polizei verhaftet den Österreicher Martin Sellner an der Grenze. Und deutsche Ermittler interessieren sich für ein Neonazi-Konzert im Zürcher Oberland.

Am Samstagvormittag nimmt das Theater ein schnelles Ende. Der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner wird in Kreuzlingen verhaftet – kurz nachdem er die Grenze überschritten hat. Ein Polizist und eine Polizistin führen ihn ab. Fotografen sind zur Stelle, Zaungäste rufen etwas zu. Es ist eine Darbietung ganz nach Sellners Gusto, der das Schauspiel live filmen lässt.

Später wird er in einem Video damit prahlen, so angenehm sei er noch nie abgeschoben worden.

Der Österreicher ist einer der bekanntesten Exponenten der rechtsextremen Szene im deutschsprachigen Raum, ein Aushängeschild der Identitären Bewegung. Wo er hinkommt, bringt er die Behörden auf Touren. In Deutschland löste er vor einem Jahr Massenproteste aus, als öffentlich wurde, dass er in Potsdam vor Unternehmern und Mitgliedern der AfD und der CDU über die massenhafte Abschiebung von Ausländern gesprochen hatte.

Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) verhängte ein Einreiseverbot gegen ihn. Doch Sellner reiste trotzdem an.

In die Schweiz eingeladen hat ihn die rechtsextremistische Gruppierung Junge Tat. Es ist nicht der erste Besuch. Schon im März verhinderte die Aargauer Polizei eine Rede Sellners, indem sie ihn kurzfristig auf den Posten mitnahm, weil sie in seinem Wirken eine «Gefahr für die öffentliche Sicherheit» erkannte.

Sellner und die Junge Tat: Sie gehören zu dem Flügel der rechtsextremen Szene, welcher sich öffentlichkeitswirksam inszeniert. Mit Propagandaaktionen, Kundgebungen und Social-Media-Auftritten. Doch es gibt auch einen anderen Flügel, der aus dem harten Kern der militanten Neonazis besteht – die Glatzen-und-Springerstiefel-Fraktion. Beide Flügel sind international gut vernetzt – und es gibt Verbindungen zwischen ihnen.

Wie die rechtsextreme Szene in der Schweiz tickt, zeigen mehrere Vorfälle in den letzten Monaten und Jahren.

Ein Aufmarsch im Pfadiheim sorgt für Aufsehen

Im Juni 2022 überrumpeln Neonazis die beschauliche Gemeinde Rüti im Zürcher Oberland. Eine als Wandergruppe «Züger» getarnte Gruppe von Rechtsextremen mietet sich in dem örtlichen Pfadiheim ein. Der klandestin organisierte Anlass entpuppt sich als einer der grössten Neonazi-Aufmärsche der letzten Jahre in der Schweiz.

Es ist eines der wenigen Male, wo die militante Szene an die Öffentlichkeit tritt.

«Sieg Heil!»-Gegröle und «Ausländer raus!»-Rufe hallen an jenem Sommerabend durch das Wohnquartier von Rüti, das nahe beim Pfadiheim liegt. Auf Tonaufnahmen ist zu hören, wie der Sänger einer Band namens FieL (Fremde im eigenen Land) auf einer Akustikgitarre ein Lied mit dem Titel «Der Tag, an dem das deutsche Herz Flammen schlägt» zum Besten gibt.

Als die Polizei, aufgeschreckt von besorgten Anwohnerinnen und Anwohnern, bei der Hütte eintrifft, stösst sie auf über fünfzig Neonazis aus der Schweiz und Deutschland. Die Einsatzkräfte nehmen die Personalien der Anwesenden auf, zwei Dutzend Teilnehmer weisen sie weg. Die übrigen Neonazis übernachten vor Ort, weil sie zu betrunken sind, um noch nach Hause zu fahren.

Ziemlich rasch wird klar, wer hinter dem Treffen steckt: das militante Blood-and-Honour-Netzwerk.

Es sind zentrale Figuren der deutschen Szene, die laut Informationen des antifaschistischen Recherchekollektivs Antifa Bern an dem Anlass teilnehmen. Das zeigt sich auch bei den Bands: Neben FieL aus Mecklenburg-Vorpommern ist in Rüti eine Band zu Gast, die innerhalb des deutschsprachigen rechtsextremen Milieus zu den bekanntesten Musikgruppen gehört. Ihr Name: Oidoxie. Der Sänger der Band, Marko G., gilt als zentrale Figur im braunen Milieu.

Für ihn werden sich auch die Behörden am meisten interessieren.

Belege für die Anwesenheit der beiden Bands finden sich in den Tonaufnahmen, aber auch in Bildern. Ein Foto zeigt den Gitarristen von Oidoxie vor dem Pfadiheim, hinter ihm ist auch das Banner der Gruppe sichtbar. Die Dortmunder Band ist seit 1995 aktiv und glorifiziert rechten Terror.

Oidoxie weisen zudem Verbindungen zu Combat 18 auf, auch «Kampftruppe Adolf Hitler» genannt. Die Gruppierung wurde in Deutschland verboten, da sie sich gegen die verfassungsmässige Ordnung richtet. Das Netzwerk ist allerdings weit gespannt. Und international. Auch in der Schweiz ist Combat 18 gut vernetzt.

Auch Oidoxie verfügen über einschlägige Kontakte in die Schweiz. Einer dieser Kontakte ist der mehrfach verurteilte Neonazi Kevin G., der selbst aus dem Zürcher Oberland stammt.

Und es gibt noch eine andere Spur: zu einer Frau, die sich selbst einmal als «Bandmutti» von Oidoxie bezeichnete. Die Rechtsextreme, die im Zürcher Unterland wohnhaft ist, bekam in diesem Frühjahr Besuch von Ermittlern. Sie befragten die 39-jährige Frau im Beisein von Vertretern des deutschen Bundeskriminalamts zu ihrer Beziehung zu Uwe Mundlos, einem Mitglied der rechtsextremen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund.

10 Morde, 43 Mordversuche, 3 Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle gehen auf das Konto der Gruppierung. Laut einem Bericht des «Spiegels» bestritt die Frau allerdings, Mundlos Unterschlupf gewährt zu haben.

Ob die Frau auch in Rüti war, ist unklar. Sicher ist: Für den Anlass interessiert sich inzwischen auch die Staatsanwaltschaft in Dortmund. Sie hat ein Verfahren gegen Marko G. von den Zürcher Ermittlern übernommen. Gegen den Beschuldigten werde wegen des Verdachts der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung ermittelt, schreibt ein Sprecher der Dortmunder Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen.

Strafrechtliche Konsequenzen hat der Aufmarsch in Rüti möglicherweise auch für zwei Schweizer Neonazis. Die Zürcher Staatsanwaltschaft hat gegen einen 30- und einen 31-jährigen Schweizer Anklage wegen Gehilfenschaft zu Diskriminierung und Aufruf zu Hass erhoben. Der Prozess gegen die Männer soll Anfang des nächsten Jahres stattfinden.

Es ist einer der wenigen Prozesse der letzten Jahre gegen Exponenten der Schweizer Neonazi-Szene.

Influencer mit rechtsextremem Gedankengut

Nicht alle Neonazi-Netzwerke agieren lieber heimlich wie Blood and Honour oder Combat 18. Eine Gruppe junger Männer drängt sich seit einigen Jahren regelrecht in den Vordergrund. In einem Bericht der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus werden sie deshalb als dominante Kraft der Szene bezeichnet.

Es sind die Mitglieder der Jungen Tat, die ihre Aktionen in professionell geschnittenen Videos inszenieren. Statt mit Springerstiefeln und als Skinheads inszenieren sie sich als rechte Influencer und sportliche Burschen mit Hipster-Schnauz, in Northface-Jacken und Sneakers. Trotz überschaubarer Grösse erreichen sie so immer wieder grosse Aufmerksamkeit.

Hinter ihrer Ästhetik steckt eine neue Strategie, die Teile der rechtsextremen Szene in ganz Europa in jüngster Zeit verfolgen: Sie versuchen, sich als scheinbar harmlose, zeitgeistige Kraft im rechten Lager zu etablieren (hier geht es zur Recherche dazu).

Doch die «Schwiegersohn-Neonazis», wie sie die linke Wochenzeitung «WoZ» einmal nannte, vertreten klar rechtsextreme Positionen. Statt von «Rassenkrieg» redet man einfach von «Remigration» oder vom «Bevölkerungsaustausch», jene krude Theorie, wonach die Eliten in Europa durch Massenmigration alles Europäische zum Verschwinden bringen wollen.

Zum Plan, die radikalen Positionen in der Mitte der Gesellschaft salonfähig zu machen, gehört die gezielte Annäherung an rechte Parteien und Politiker. So versuchte die Junge Tat wiederholt, bei der SVP anzudocken. Die Rechtsextremen besuchten Parteianlässe der SVP, übernahmen Social-Media-Arbeit für einen Nationalratskandidaten oder entwarfen Wahlplakate für ein Mitglied der Jungen SVP.

Verbindungen in die militante Szene bestehen ebenfalls. Mitglieder der Jungen Tat waren teilweise ins Blood-and-Honour-Netzwerk eingebunden. Diese Vernetzung zeigte sich schon bei früheren Aufmärschen wie der Nazifrei-Demo in Zürich oder bei einer Gedenkfeier für die Schlacht von Sempach im Sommer 2021.

Laut einem Bericht der Tamedia-Zeitungen marschierten dort praktisch alle mit, die in der rechtsextremen Szene Rang und Namen haben – militante Neonazis Seite an Seite mit den Exponenten der Jungen Tat. Die Gruppierung befindet sich deshalb seit längerem auf dem Radar des Nachrichtendiensts des Bundes.

Mitglieder der Jungen Tat wurden bereits wegen Rassendiskriminierung, Sachbeschädigung und Vergehen gegen das Waffengesetz verurteilt. Inzwischen bezeichnen ihre Führungsfiguren diese Vorgänge als Jugendsünden. Man will nun keine Rechtsextremen mehr sein, sondern bloss «rechte Aktivisten». So versicherte das Führungsduo öffentlich, ihre Aktionen würden sich im «im demokratischen und rechtsstaatlichen Rahmen» bewegen.

Schlecht in dieses Bild passt allerdings, dass Anfang Oktober sechs Mitglieder der Gruppierung wegen rassistischer und homophober Aktionen zu Strafbefehlen verurteilt wurden. Sie hatten unter anderem versucht, im Juni 2022 den Gottesdienst des Pride-Festivals zu stören. Im Oktober 2022 kam es auch bei einer Vorlesestunde von Drag-Personen für Kinder im Zürcher Tanzhaus zu einer Störaktion.

Die Zürcher Staatsanwaltschaft wirft den Männern Rassendiskriminierung, Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit, Landfriedensbruch und Vergehen gegen das Sprengstoffgesetz vor.

Die Rechtsextremen wollen die Strafbefehle nicht akzeptieren. Man wolle die Repression und Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht auf sich sitzenlassen, beklagte ein Mitglied der Gruppierung auf der Plattform X. Somit dürfte es zum Prozess gegen die Gruppierung kommen. Das Ziel scheint klar: Die Gerichtsverhandlung soll dazu dienen, sich weiter als Justizopfer zu inszenieren, die sich gegen einen repressiven Staat wehren.

Auch Martin Sellner versucht sich als Unterdrückten darzustellen. Als er nach ein paar Stunden in Polizeigewahrsam zurück an die Grenze eskortiert wird, postet er empörte Videos auf dem Nachrichtendienst X. Sellners Tenor: In der Schweiz herrsche «Zensur» und «Zwangsgewalt».

Nur die Szenerie mag nicht so ganz zu den martialischen Worten des Rechtsextremen passen. Sellner sitzt auf Deck der Bodenseefähre, mit der er nach Deutschland gebracht wird, vor sich eine Tasse Kaffee und ein Gipfeli.

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