Samstag, Oktober 5

Vor hundert Jahren begann im Chaos der Nachkriegszeit der Siegeszug der Braunen und Roten. Heute können die Extreme erneut Wähler anlocken. Die liberale Ordnung ist deswegen aber nicht in Gefahr.

Mitten im Sommerloch brachte der «Spiegel» die Titelgeschichte «Wie Faschismus beginnt». Auf dem Cover der deutsche AfD-Mann Björn Höcke, die Französin Marine Le Pen und Donald Trump – Demagogen im Dreierpack. «Der Rückfall in den Faschismus», orakelt das Magazin, «erscheint inzwischen ernst und real.» 2024 als Wiedergänger von 1924.

Es erfordert keinen Dr. phil., um die krassen Unterschiede zu erkennen. Erstens: Die Arbeitslosigkeit ist einstellig; in Deutschland lag sie 1932 bei 30 Prozent, in den USA bei 24.

Zweitens: Der Westen lebt nicht im Massenelend, sondern in einem grossherzigen Wohlfahrtsstaat, der gibt und kalmiert.

Drittens: In den Industrieländern lag die Sozialquote damals im 5-Prozent-Bereich, heute geht sie in der EU bis auf 30 Prozent hoch. Dieses Füllhorn besänftigt die Verlierer des Wandels.

Viertens: Der nächste Krieg war eingebaut. Die gedemütigten Deutschen wollten Revanche, die neuen Staaten – die Erben der gefallenen Imperien – rüttelten an ihren Grenzen und gingen auf ihre Minderheiten los.

Fünftens: Deutschland hatte in Versailles 13 Prozent seines Territoriums und alle Kolonien verloren; die erste deutsche Demokratie war ein Paria unter den Nationen. Das umzingelte und verfemte Land musste Abermilliarden an Reparationen zahlen; die Verarmung war programmiert. Nun ist Deutschland die drittgrösste Wirtschaft der Welt.

Märchenhafte Stabilität

Die Nachkriegszeit war ein ideales Parkett für die Umstürzler, das keinen Vergleich mit dem heutigen Westen aushält. Gewiss: Die Leute sind wie immer sauer, aber sie maulen auf dem historisch höchsten Sockel der Daseinssicherung. Die Bahn fährt nicht, die Regierung und die Bürokratie sind ein Sauhaufen, die Fremden überschwemmen uns . . . Trotzdem bleibt Westeuropa gegenüber 1919–33 eine Insel der Glückseligkeit.

Statt des schwelenden Bürgerkrieges von vorgestern herrscht märchenhafte Stabilität im Westen, jedenfalls diesseits von Ungarn, hat die Demokratie tiefe Wurzeln geschlagen – mitsamt Rechtsstaat und staatlicher Largesse. In den letzten freien Wahlen eroberten Kommunisten und Nazis 1932 die Mehrheit im Deutschen Reichstag. Heute halten die Links- und Rechtsausleger knapp 16 Prozent der Sitze im Bundestag. Gegen die steht eine breite Mitte. Die Zivilgesellschaft bietet den Bürgern zahllose Instrumente, um ihre Interessen zu artikulieren und die offizielle Politik zu konterkarieren.

Rechtspopulisten rücken in die Mitte

Wo also lauert der autoritäre Staat? Als Beweise werden gern die beiden angeblichen Horrorfrauen Giorgia Meloni und Marine Le Pen aufgefahren. Die Italienerin ist nun Ministerpräsidentin, und die Französin hat in den Wahlen 2024 53 Sitze dazugewonnen. Interessanter ist freilich ihre Häutung. Meloni hat es nur geschafft, weil sie von weit rechts in die Mitte gerückt war. Ihre Bewunderung für den Duce hat sie abgeworfen, dito ihren Widerstand gegen Abtreibung und Schwulenrechte. Sie preist Nato und Ukraine-Hilfe. Im Gegensatz zu ihrem Rechts-aussen-Vater hat Marine die Antisemiten aus dem RN entfernt. Vom «Frexit» will sie nichts mehr wissen.

Zentrismus lohnt sich also. Wie für den Niederländer Geert Wilders – ein Aushängeschild der Neorechten –, der es endlich in die Regierung geschafft hat. Einst war für ihn Putins Einfall in die Ukraine 2014 die «Schuld der EU». Die zweite Invasion 2022 nannte er bereits «barbarisch». Seinen Islamhass will er «im Gefrierschrank» verstauen.

In Polen hat Donald Tusk die PiS-Autoritären aus der Regierung katapultiert. Der ungarische Fidesz des Viktor Orban musste in der Europawahl 2024 schwere Verluste hinnehmen. So auch die Rechtsextremisten in Skandinavien. Dieser Trend begünstigt nicht die Bösen.

Das Duo AfD/Wagenknecht

Die gravierende Ausnahme bleibt die deutsche AfD, die sich radikalisiert. Sie hat bei den zwei Landtagswahlen in der Ex-DDR zugelegt. In Sachsen drei Punkte, in Thüringen gar neun. Dramatischer: In Thüringen ist die AfD nun die stärkste Partei, in Sachsen liegt sie nur knapp hinter der CDU. Weit links hat die taufrische Sammlung der Sahra Wagenknecht (BSW) aus dem Stand bis zu zwölf Punkte geholt. Die alte Arbeiterpartei SPD siecht im einstelligen Bereich dahin.

Der Triumph der Anti-System-Parteien gemahnt an den Untergang der ersten deutschen Demokratie, die im Kreuzfeuer von Kommunisten und Nazis versenkt wurde. Die Parallele greift nicht. Vorweg: In den beiden neuen Bundesländern leben nur sechs Millionen, ein kleiner Bruchteil der Gesamtbevölkerung. Die Ex-DDR ist nicht Pars pro Toto, sondern Sonderfall nach fast sechzig Jahren unter autoritärer Knute. Rückschlüsse auf das ganze Land sind so verlockend wie trügerisch, weil die Bundesrepublik auf Beton steht. Es taumelt stattdessen der Vergleich mit den Links- und Rechtstotalitären von 1919 ff.

Das neue Phänomen ist nicht «Faschismus 2.0», sondern «Populismus», der rechts wie links gegen den liberalen Staat zusammenschirrt. «Lechts» und «rinks» geben keine Antipoden her. Das perfekte Beispiel liefert das Duo AfD/BSW.

In der Aussenpolitik sind beide prorussisch und antiamerikanisch, gegen Nato und Ukraine. Der Tenor: «Wir wollen nicht in die Welthändel verstrickt werden, lasst uns in Ruhe!» Das ist Abstinenz-Nationalismus, nicht der aggressive alte. Daheim: Umverteilung und Versorgungsstaat, weg mit grüner Energiewende und woker Umerziehung. Beide wollen Migration abblocken. Der Unterschied? Im BSW fehlen Deutschtümelei und offener Rassismus. Doch witzelt der Liedermacher Wolf Biermann: «Wagenknecht und Höcke sind das politische Brautpaar der Stunde.»

Kulturkampf und Klasseninteressen

Populismus ist nicht Faschismus, sondern Antielitismus. Etwa: «Ihr ignoriert und verachtet uns.» Hillary Clinton verlor 2016 gegen Trump, weil sie sich über die «deplorables» mokiert hatte, die «Abgehängten». Nächster Anklagepunkt: «Wir sind das Volk, aber ihr sorgt für favorisierte Gruppen: LGBTQ+, Nichtweisse, Muslime. Ihr habt das Tor den Migrantenmassen geöffnet, die Anpassung verweigern. Ihr sagt uns, wie wir denken und reden dürfen. Ihr respektiert jede andere Religion, nicht aber unsere christliche.»

Dieser Kulturkampf wogt im ganzen Westen. Er wird flankiert von soliden Klasseninteressen, die laut Marx selig im Ökonomischen wurzeln. Also: «Ihr feiert Globalisierung und offene Grenzen; wir verlieren Status und Jobs. Statt uns vor dem Globalkapitalismus zu schützen, bedient ihr euer Bedürfnis nach billiger Arbeitskraft.» Es herrscht Abstiegsangst. Deshalb wettern rechte wie linke Populisten gegen offene Grenzen und freien Markt.

Ist das Faschismus 2.0, die Sehnsucht nach Führer und Autarkie? Es gehe um Respekt sowie «sichere Grenzen und Wohnbezirke», räsoniert David Brooks sogar in der «New York Times», dem Zentralorgan der Neuen Klasse. Deshalb wandern überall die «Abgehängten» von den klassischen Parteien zu den rechtslinken Populisten. Einst waren Sozialdemokraten Mehrheitsparteien; heute sind sie eine schrumpfende Minderheit. Dahinter steht kein faschistoider Reflex, sondern kühles Gruppeninteresse. Wer bedient es? Es ist laut dem Soziologen Andreas Beckwitz ein «neuer Klassenkampf» gegen den «Öffnungsliberalismus».

Der Rechtsstaat ist kein Krüppel

Was ist Faschismus? In der Weltwirtschaftskrise predigten die Aufrührer, so die Columbia-Professorin Sheri Berman, wider die «herrschende Ordnung» und offerierten «die totale Alternative». Die Bolschewisten stimmten in den Chor ein – weg mit der Ausbeutung, her mit einer straffen Führung von oben. «Rasse und Nation» war der Schlachtruf ganz rechts, «Herrschaft der Arbeiterklasse» ganz links.

Doch fehlt heute die unheilige Wut – ebenso die Verelendung der Massen. Jedenfalls reden die Verführer nicht vom Abriss der Demokratie, sondern von einer gerechteren Version. Sie wollen keinen Führer ermächtigen, sondern die Entmachteten. Augenwischerei? Man muss ihnen nicht glauben. Denn der Rechtsstaat ist kein Krüppel. Das bewies der Trump-«Putsch» am 6. Januar 2022. Es war Polittheater, die Performer wurden verhaftet, hernach zu harten Strafen verurteilt. Das System ist wehrhaft.

Dennoch haben die Demagogen Marktchancen. Was kann, was muss die liberale Demokratie tun? Erstens: zuhören. Zweitens: den Entfremdeten beweisen, dass die «Elite» nicht umso verbissener an ihrem Projekt festhält. Schliesslich: weil «Demokratie» von «demos» – «Volk» – kommt. Und «die da unten» sind die «mehreren»; ihre schärfste Waffe ist der Stimmzettel.

Auf der Rechten haben Meloni und Le Pen das kapiert – weshalb sie in die Mitte gerückt sind. Die progressiven Hoheitsverwalter müssen es noch lernen. Im System «one man, one vote» können die «Unaufgeklärten» desertieren. Und wie die Wahlergebnisse zeigen, funktioniert die «Brandmauer» nicht – keine Geschäfte mit den Schmuddelkindern, wir machen so weiter!

Wettbewerb statt Ausgrenzung

Der politische Markt befiehlt konkurrierende Angebote statt vergeblicher Ausgrenzung. Es gilt generell Charles de Gaulles «Je vous ai compris». Die Offerten liegen auf der Hand: die Bedürfnisse der verachteten «Abgehängten» auffangen, deren «Umerziehung» herunterfahren, Grenzen gegen Massenmigration festigen, Sicherheit in «Brennpunkten» stärken, statt den Multikulturalismus zu feiern.

Etwas einfühlsame Pädagogik darf dennoch sein. Eine Exportnation kann sich nicht abschotten, weil das die eigenen Arbeiter trifft. Handelsmauern provozieren Vergeltung und killen so Jobs daheim; sodann treiben sie die Inlandspreise, an denen nicht die Hochmögenden leiden, sondern die Ärmeren. Wirklich raus aus der Nato und unter Putins Fuchtel?

Reizthema Einwanderung: Ohne die kommt der alternde, gebärfaule Westen nicht aus. Wer den Betreuungsnotstand bei Pflege und Heilung fürchtet, wird im Eigeninteresse kluge Politik bejahen. Ganz schlicht: Heute alimentiert der Staat grosszügig die Neuen, blockiert aber in seinem Regulierungsdrang deren Eintritt in den Arbeitsmarkt. Also müssen und dürfen die «Invasoren» nicht arbeiten. Die Ressentiments beflügeln die Demagogen. Aber: Arbeit ist gleich Integration; sie mindert Abkapselung und Kriminalität. Win-win statt «wir gegen die».

Der Wahlausgang in der Ex-DDR ist kein Menetekel, sondern ein Weckruf. Dennoch dräut nicht Faschismus 2.0. Wenn aber die Etablierten dem gemeinen Volk nicht «Wir haben euch verstanden» signalisieren, wird der linksrechte Opfermythos weiterwuchern. Der gesegnete Westen wird sich sputen müssen, um das Gespenst zu verjagen.

Josef Joffe ist ein deutscher Publizist. Er hat an den Universitäten Harvard, Stanford und Johns Hopkins Politik gelehrt.

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