Sonntag, September 29

Erstmals erreichen die rechtspopulistischen Freiheitlichen bei einer Nationalratswahl den ersten Platz. Ihr Chef Herbert Kickl kann damit Anspruch auf das Kanzleramt erheben. Seine Chancen darauf sind dennoch gering.

Mit einem erdrutschartigen Zuwachs von 13 Prozent ist die FPÖ laut der Hochrechnung des ORF die klare Siegerin der österreichischen Parlamentswahl. Die Rechtspopulisten kommen auf einen Wähleranteil von 29 Prozent und übertreffen deutlich ihr bisher bestes Resultat, das sie 1999 unter Jörg Haider erreicht hatten. Noch wichtiger ist, dass die Freiheitlichen überhaupt an der Spitze liegen. Auf nationaler Ebene war ihnen das erstmals bei der EU-Wahl vom Juni gelungen.

Für Österreich ist das eine Zäsur, auch weil der FPÖ-Chef Herbert Kickl damit einen legitimen Anspruch auf das Kanzleramt stellen kann. Das Resultat entspricht zwar den Erwartungen: Die Freiheitlichen führten bereits seit Anfang 2023 sämtliche Umfragen an. Dennoch wird es dem Land in den kommenden Wochen intensive Debatten bescheren.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt und dann auch den Kanzler ernennt, hat rund um seine Wiederwahl vor zwei Jahren mehrfach seine Skepsis gegenüber der FPÖ und Kickl geäussert. Er ist grundsätzlich frei, wen er mit der Bildung einer Regierung betraut. Den Gepflogenheiten entspricht indes, dass es der Chef der stärksten Partei ist, der dann eine Mehrheit suchen muss.

Die ÖVP stürzt ab und hat dennoch alle Möglichkeiten

Klar ist, dass die aktuelle Regierungskoalition nicht fortgesetzt werden kann. Sie hat von den Wählern einen Denkzettel verpasst bekommen. Sowohl die Kanzlerpartei ÖVP als auch die Grünen müssen eine schwere Niederlage hinnehmen, zusammen kommen sie nur noch auf gut einen Drittel der Stimmen. Für die Konservativen ist es mit einem Minus von 11 Prozent sogar der historisch grösste Verlust bei Nationalratswahlen. Vor fünf Jahren hatte ihnen Sebastian Kurz nach der vorgezogenen Neuwahl wegen der Ibiza-Affäre noch einen Triumph beschert. Unter Kanzler Karl Nehammer kommt die ÖVP mit 26 Prozent nun wieder im Bereich vor der Ära Kurz zu liegen.

Immerhin landet die ÖVP aber mit klarem Vorsprung auf die Sozialdemokraten auf Platz zwei und hat damit beste Chancen, weiterhin Teil der Regierung zu sein. Sie schliesst als einzige Partei eine Koalition mit der FPÖ nicht aus, mit der sie derzeit in drei Bundesländern regiert. Damit stehen ihr alle Optionen offen, während eine Mehrheit links der Mitte rechnerisch nicht möglich ist.

Die Sozialdemokraten unter ihrem Chef Andreas Babler erleiden dagegen ein Debakel. Die SPÖ verliert sogar noch gegenüber ihrem historisch schlechtesten Ergebnis von 2019 und kommt laut Hochrechnung nur noch auf knapp 21 Prozent. Die Partei, die ab 1970 bis auf die letzten sieben Jahre fast immer stärkste Kraft war, kommt erstmals nur noch auf dem dritten Platz zu liegen. Offenbar konnte sie von der Unzufriedenheit mit der Regierung kaum profitieren. Das ist umso bemerkenswerter, als die Gründe für diese massgeblich auch sozialpolitische Fragen betreffen, etwa die Teuerung.

Der SPÖ machen seit dem Ende der Kanzlerschaft von Werner Faymann interne Streitigkeiten zu schaffen, die auch in diesem Wahlkampf wieder deutlich wurden. Babler ist erst seit gut einem Jahr Vorsitzender und verpasste der Partei einen klassenkämpferischen Linkskurs, der auch intern umstritten war. Die dafür empfängliche Zielgruppe hatte zudem mit den Kommunisten eine Alternative. Diese verpassten nach erstaunlichen Erfolgen auf Landesebene in der Steiermark und Salzburg zwar den Einzug in den Nationalrat, ihre Stimmen fehlen der SPÖ aber schmerzlich.

Auch die einst als Satireprojekt gestartete Bierpartei kommt nicht über die Hürde von vier Prozent der Stimmen, nachdem sie in den Umfragen zeitweise deutlich darüber gelegen hatte. Ihr Gründer, der Arzt und Rockmusiker Dominik Wlazny, hatte mit seinem guten Abschneiden bei der Bundespräsidentenwahl 2022 Schlagzeilen gemacht. In den vergangenen Wochen wurde aber offenkundig, dass er sich in vielen Fragen nicht klar positionieren will und ihm Sachkenntnisse fehlen.

Kommt eine «österreichische Ampel»?

Dagegen konnten die Neos als einzige Parlamentspartei neben den Freiheitlichen ein Plus verzeichnen und zum vierten Mal in Folge in den Nationalrat einziehen. Die Liberalen präsentierten sich im Wahlkampf als Reformkraft, die elf Jahre nach der Gründung erstmals mitregieren will. Die Chancen dafür sind intakt, denn realistisch sind zum jetzigen Zeitpunkt nur zwei Koalitionsmöglichkeiten: ein neuerliches Zusammengehen von ÖVP und FPÖ oder ein Comeback der ehemals grossen Koalition aus ÖVP und SPÖ, vermutlich erweitert um einen dritten Partner, was trotz den dafür unpassenden Parteifarben oft als «österreichische Ampel» bezeichnet wird.

Die entscheidende Rolle wird in den kommenden Wochen die ÖVP spielen. Inhaltlich wäre eine Koalition mit der FPÖ naheliegend, denn vor allem in der Wirtschafts-, Migrations- und Gesellschaftspolitik überschneiden sich ihre Vorstellungen weitgehend. Differenzen bestehen dagegen in der Aussen- und Sicherheitspolitik, und mit dem Ukraine-Krieg werden diese eine weit grössere Rolle spielen als in der gemeinsamen Regierung unter Sebastian Kurz von 2017 bis 2019.

Sie sind auch ein Grund, weshalb der ÖVP-Chef Nehammer eine Zusammenarbeit mit Herbert Kickl in den vergangenen Wochen kategorisch ausschloss. Der Kanzler bezeichnete den FPÖ-Chef wiederholt als Sicherheitsrisiko und Verschwörungstheoretiker, mit dem «kein Staat zu machen» sei. Um sich alle Möglichkeiten offenzuhalten, beschränkte er seine Vorbehalte aber auf die Person Kickl, obwohl in der Partei keine von dessen Positionen abweichenden Meinungen wahrnehmbar sind.

Die ÖVP hofft möglicherweise auf ein Szenario wie nach der Wahl 1999, als sich der umstrittene FPÖ-Chef Jörg Haider nach Kärnten zurückzog, um eine Regierungsbeteiligung seiner Partei zu ermöglichen. Der Schritt erwies sich für die Freiheitlichen aber als fatal und mündete in eine Spaltung. Man würde sich deshalb hüten, einen solchen Fehler nochmals zu begehen, heisst es aus Parteikreisen.

Ein Bündnis gegen die FPÖ ist deshalb trotz grossen ideologischen Differenzen wahrscheinlicher, zumal die ÖVP in dieser Konstellation das Kanzleramt verteidigen könnte. Vor allem aus den Bundesländern gibt es gewichtige Stimmen, die die althergebrachte grosse Koalition zwischen den Konservativen und den Sozialdemokraten wiederbeleben wollen. Die SPÖ drängt nach sieben Jahren in der Opposition ohnehin zurück an die Macht und wäre nach dem schlechten Ergebnis womöglich auch bereit, Babler dafür zu opfern, der in der ÖVP als Marxist verschrien ist.

Das Bündnis müsste vermutlich um eine dritte Partei erweitert werden, um eine eine belastbare Mehrheit zu haben. Neos drängte sich da eher auf als die Grünen, weil letztere stark verloren und sich mit ihrem Powerplay bei der ÖVP unbeliebt gemacht haben. Die Frage ist, ob es einer solchen Koalition gelingt, sich auf echte Reformen zu einigen oder ob das verbindende Element lediglich sein wird, die FPÖ von der Macht fernzuhalten. Diese geisselte die Debatten um eine «Ampel» in den vergangenen Wochen als undemokratische Ausgrenzung durch die «Einheitsparteien».

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