Mittwoch, März 19

Natalie Urwyler verlangt fünf Millionen Franken Schadensersatz, weil ihr das Berner Inselspital einen Karrieresprung verweigert habe – anders als den männlichen Kollegen. Die erste Runde hat sie gewonnen.

Seit zehn Jahren kämpft Natalie Urwyler bereits für das, was sie für gerecht hält – seit ihrer Entlassung am Berner Inselspital 2014. Die Anästhesie-Ärztin hat «in der Schweizer Öffentlichkeit Bekanntheit erlangt durch ihren Einsatz gegen Diskriminierung und für einen besseren Schutz von schwangeren Frauen und stillenden Müttern am Arbeitsplatz». So steht es auf Wikipedia. Kürzlich hat sich Urwyler einen weiteren juristischen Erfolg erkämpft. Damit nimmt ihr Fall endgültig eine Dimension an, die über ihr persönliches Schicksal hinausgeht.

Rückblende: 2018 gab das Obergericht des Kantons Bern Natalie Urwyler recht, gestützt auf das Gleichstellungsgesetz. Der Rauswurf am Inselspital sei eine Rachekündigung gewesen. Urwyler selbst erklärte, sie habe sich mit ihrem Einstehen für Frauenanliegen in ihrem Team unbeliebt gemacht. Nach dem Urteil musste das Inselspital Urwyler wieder anstellen und ihr 465 000 Franken Lohn nachzahlen, es stellte sie aber sogleich wieder frei.

Denn eine Zukunft gab es für sie in Bern nicht, das Verhältnis zu ihrem Chef war völlig zerrüttet. Sie arbeitet seither als leitende Ärztin Anästhesie im Spital Wallis. Das Inselspital, wo sie weiterhin offiziell angestellt ist, bezahlt der heute 51-Jährigen die Lohndifferenz, weil sie im Wallis weniger verdient, als sie dies in Bern tun würde. Das sei aber nur teilweise erfolgt, sagte Urwyler. Und ohnehin reichten ihr die Ausgleichszahlungen nicht. 2020 verklagte sie das Inselspital – gleich auf fünf Millionen Franken Schadensersatz.

Kampf für alle Frauen

Laut Urwyler ist das der Unterschied zwischen dem Einkommen, das sie hätte erzielen können, wenn sie in Bern Chefärztin und damit Professorin geworden wäre, und dem Lohn, den sie nun bis an ihr Karriereende erzielen werde. Urwyler betonte, es ginge ihr in ihrem Kampf nicht nur um sich, sondern auch um ihre Geschlechtsgenossinnen, die am Arbeitsplatz Diskriminierung erfahren würden. «Ich will, dass eine verhinderte Frauenkarriere ein Preisschild erhält», sagte sie der «NZZ am Sonntag».

Ende Januar hat das Regionalgericht Bern-Mittelland das Urteil gefällt. Es ging noch nicht um eine konkrete Entschädigungssumme. Sondern um den Grundsatzentscheid, ob das Inselspital Urwyler die Beförderung verweigerte, weil sie eine Frau ist. Tatsächlich hat die Einzelrichterin diese Frage bejaht – und dem Fall damit eine ganz neue Brisanz verliehen. Denn nun steht im Raum, dass ehrgeizige Ärzte quasi ein Recht auf eine Beförderung bekommen. Und das könnte gravierende Folgen haben für alle grösseren Spitäler.

So zumindest stellen es die Verantwortlichen des Inselspitals dar. Denn die Richterin verweist auf die «scheinbar gelebte Usanz» am Inselspital, dass Ärzte innert weniger Monate nach der Habilitation zu leitenden Ärzten befördert worden seien. Urwyler blieb dies nach ihrer Habilitation verwehrt – anders als einigen männlichen Kollegen, wie ihr Anwalt aufzeigte. Die Richterin folgert aus diesem Umstand, dass in der Tat bei Urwyler eine Beförderungsdiskriminierung zu vermuten sei.

«Unverständlich und realitätsfremd»

Die Insel-Personalchefin Nicole Stämpfli hingegen erklärt die Nichtbeförderung gegenüber der NZZ damit, dass Urwyler zu dem Zeitpunkt, an welchem eine Beförderung aufgrund der Habilitation hätte ein Thema werden können, bereits freigestellt war. Stämpfli hält es für «unverständlich und realitätsfremd», dass eine Arbeitgeberin verpflichtet werden solle, eine Angestellte in Abwesenheit zu befördern. Aus Sicht des Gerichts ist genau diese Abwesenheit und damit der Karriereknick für Urwyler indes eine Folge der ungerechtfertigten Kündigung.

Für den Anwalt des Spitals, Jörg Zumstein, ist insbesondere der mögliche Automatismus heikel, dass das Erreichen einer beruflichen Qualifikation zu einem Beförderungsanspruch führen solle. «Hat dieser Entscheid Bestand, könnte praktisch jeder Arzt, der habilitiert worden ist, einen Anspruch erheben, vom Oberarzt zum leitenden Arzt befördert zu werden.» Dies würde das Inselspital, aber auch alle anderen grösseren Spitäler vor riesige Probleme stellen, sagt die Personalchefin Stämpfli: «Wir haben lange nicht für alle habilitierten Mediziner eine Stelle als leitender Arzt oder in einer noch höheren Funktion wie Klinikdirektor und Chefarzt, dies wäre in der Führungsstruktur gar nicht umsetzbar.»

Laut ihrer Statistik arbeiten in der Insel-Gruppe rund 320 habilitierte Ärztinnen und Ärzte, von denen jeder Vierte «nur» Oberarzt ist. Damit sieht Stämpfli auch die Aussage der Richterin widerlegt, dass die Beförderung «Usanz» sei. Hinzu komme, dass erzwungene Beförderungen einer grösseren Gruppe von Medizinern die Lohnkosten in die Höhe treiben würden – dies in Zeiten, in denen viele Spitäler ohnehin rote Zahlen schrieben. «Und eine Habilitation, also eine akademische Auszeichnung, sagt wenig über klinische Fähigkeiten oder Führungsqualitäten aus, die für eine Beförderung zentrale Aspekte sind», betont Stämpfli.

Urteil mit Signalwirkung

Das Inselspital hat am Donnerstag angekündigt, das Urteil ans Obergericht weiterzuziehen. Würde die im Urteil des Regionalgerichts enthaltene Interpretation des Gleichstellungsgesetzes zur gefestigten Praxis, hätte das Konsequenzen für die ganze Arbeitswelt, sagt der Anwalt Zumstein warnend. «In allen Unternehmen könnten Frauen, aber auch Männer Diskriminierung geltend machen, wenn sie nicht befördert werden, eine einzige, formal gleich qualifizierte Person aber schon.»

Der Arbeitsrechtsexperte und emeritierte HSG-Professor Thomas Geiser sieht im Urteil zwar ebenfalls Signalwirkung: Arbeitgeber müssten aufpassen, dass keine Angestellten diskriminiert würden. Aber einen Beförderungsmechanismus liest er aus dem Entscheid nicht heraus. Das Urteil hindere das Spital nicht daran, Ärzte nicht zu befördern, wenn es an entsprechenden Stellen mangle. «Das Spital hat aber dann Probleme, wenn es solche Stellen gibt und es nun einen Arzt befördert, eine Ärztin aber nicht. Es geht ja um die Geschlechterdiskriminierung und um nichts anderes.» Das Inselspital müsse nun sachlich begründen, warum Urwyler nicht befördert worden sei, sagt Geiser.

Das werde dem Spital kaum gelingen, glaubt Natalie Urwyler, wie sie auf Anfrage sagt. «Ich hatte einen klar besseren Leistungsausweis als die Männer, die leitende Ärzte wurden.» So habe sie – anders als ihre Kollegen – ein Forschungsstipendium an der Spitzenuniversität Stanford in Kalifornien erhalten und sei vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert worden. Zudem habe sie viele Artikel in guten medizinischen Journals publiziert. «Es ist deshalb völlig klar, dass das Inselspital einfach mich als Frau nicht befördern wollte.»

Sie schaue der nächsten Runde in der juristischen Auseinandersetzung entspannt entgegen, sagt Urwyler. Denn das Urteil des Regionalgerichts sei sehr ausführlich und exakt begründet.

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