Donnerstag, November 13

Am 1. Oktober scheidet Mexikos linkspopulistischer Präsident aus dem Amt. Zuvor will er seine neue Kongressmehrheit für eine Justizreform nutzen. Das Volk soll die Richter zukünftig direkt wählen.

In seinem letzten Monat im Amt will Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador noch einmal angreifen. Denn der überragende Sieg seiner Bewegung der nationalen Erneuerung (Movimiento Regeneración Nacional, Morena) bei den Wahlen im Juni hat ihm satte Mehrheiten im neuen Kongress beschert. Dieser nimmt am 1. September die Arbeit auf. Da seine Nachfolgerin – und politische Ziehtochter – Claudia Sheinbaum ihn erst Anfang Oktober im Amt ablöst, hat der Präsident einen Monat Zeit, sein liebstes Reformvorhaben auf den Weg zu bringen: die Justizreform.

Mit ihr will er den seiner Meinung nach korrupten und den neoliberalen Eliten hörigen Justizapparat umbauen. Besonders mit dem Obersten Gericht steht López Obrador seit seinem Amtsantritt vor sechs Jahren auf ständigem Kriegsfuss, weil dieser einige seiner Reformen als verfassungswidrig eingestuft und gestoppt hatte. Immer wieder demonstrieren seine Anhänger vor dem Gebäude des Obersten Gerichts und beschimpfen die Richter. Diese dienten nicht dem Volk, so López Obrador.

Er will die Zahl der Obersten Richter verringern, ihre Amtszeit verkürzen und ihre Zuständigkeiten beschneiden. Zudem sollen sie direkt vom Volk gewählt werden, statt dass sie wie bis anhin vom Senat bestätigt werden. Auch soll der für die Kontrolle und Verwaltung des Justizapparats zuständige Nationale Justizrat durch ein Disziplinargericht ersetzt werden. Dieses soll gegen Richter ermitteln sowie ihre Urteile inhaltlich darauf überprüfen dürfen, ob sie «den Grundsätzen der Objektivität, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Professionalität oder Exzellenz» entsprechen.

Sheinbaum für weniger radikale Reform

Doch nicht nur die Obersten Richter, diejenigen des neu zu schaffenden Disziplinargerichts sowie die Richter der Wahlgerichte will López Obrador direkt wählen lassen. Auch die Richter auf Bezirks- und Distriktebene sollen im Zuge seines Projektes der «vierten Transformation», die dem Land mehr direkte Demokratie bringen soll, vom Volk gewählt werden.

Seine Nachfolgerin Sheinbaum hatte die Reform im Wahlkampf unterstützt. Allerdings soll sie sich intern gegen die Ausweitung auch auf die Bezirks- und Distriktebene ausgesprochen haben, weil damit die Zahl der neu zu besetzenden Richterposten auf über 1600 steigen würde. Doch López Obrador soll ihre Wünsche ignoriert haben.

Die Hoffnung der Reformgegner beruhte darauf, dass die Opposition bei den Juniwahlen stark genug abschneiden würde, um López Obradors Reformeifer zu bremsen. Doch das von seiner Morena-Partei angeführte Parteienbündnis verfügt im Abgeordnetenhaus nun sogar über eine für Verfassungsänderungen nötige Zweidrittelmehrheit. Im Senat blieb es zwar knapp darunter. Allerdings dürften sich die zu einer qualifizierten Mehrheit fehlenden Stimmen relativ leicht zusammenbringen lassen, glauben Experten.

Morena als Einheitspartei à la PRI?

Die Schwäche der Opposition und das daraus resultierende Fehlen institutioneller Gegengewichte zur Macht der Regierung lösten nach der Wahl an den Finanzmärkten Nervosität aus. Ohne durch die wirtschaftsfreundliche Opposition gebremst zu werden, könne Sheinbaum die von ihr versprochenen teuren Sozialprogramme durchdrücken, fürchtet man. Morena regiert nun auch in 24 der 32 Gliedstaaten.

Diese geballte Macht erinnert an die der einstigen Einheitspartei Partido Revolucionario Institucional (PRI), die zwischen 1929 und 2000 sämtliche Präsidenten und fast alle Gouverneure stellte. Dank seiner Machtfülle unterwanderte der PRI staatliche Institutionen, das Resultat war allgegenwärtige Korruption. López Obrador, der seine politische Karriere im PRI begann, habe die von ihm gegründete Morena-Partei zu einem PRI 2.0 ausgebaut, befürchten manche.

Die Kritik an seiner Justizreform lässt den Präsidenten kalt. Da er seine Reformpläne bereits im Februar an den Kongress gereicht hatte, sieht er das starke Wahlergebnis von Juni als automatische Zustimmung für die Reform. Claudia Sheinbaum gab sich weniger offensiv. Sie halte den Dialog mit der Gesellschaft über die Reform für wichtig, erklärte sie nach ihrem Wahlsieg und liess mehrere Umfragen durchführen. Die Befragung von insgesamt 3500 Bürgern ergab dabei, dass rund 80 Prozent die Reform für nötig hielten.

Zudem setzte Sheinbaum öffentliche Konsultationen an. Darin erklärten selbst Kritiker, dass Mexikos Justiz dringend Reformen benötige, um politische Einflussnahme und Korruption einzudämmen. Eine Direktwahl garantiere jedoch nicht, dass weniger korrupte Richter in die Ämter gelangten, argumentieren sie. Zudem politisiere die Wahl das Justizsystem zusätzlich. Janine Otálora, die Richterin am nationalen Wahlgericht ist, hatte im vergangenen Jahr gegenüber der NZZ davor gewarnt, dass die Direktwahl der Richter das Ende der unabhängigen Justiz bedeuten würde.

Weitverbreitete Straflosigkeit

Der von Sheinbaum mit der Vorbereitung der Justizreform beauftragte Jurist Arturo Zaldívar versuchte jüngst, solche Befürchtungen zu zerstreuen. Man werde eventuell Anregungen aus den Konsultationen in das Reformprojekt aufnehmen. Zum Ablauf der Wahl erklärte er, dass die Kandidaten zwei Monate für ihre Kampagnen in sozialen Netzwerken und im Fernsehen Zeit bekommen würden. Zudem werde aufgrund des gewaltigen Aufwands in zwei Etappen gewählt werden, 2025 und 2027.

Medien spekulieren, dass Sheinbaum mit der Streckung des Wahlprozesses über mehrere Jahre Sorgen besänftigen wolle, dass Morena auf einen raschen Abbau der Gewaltenteilung abziele. Weitere Änderungen der Reform dürfte es im September zudem im Kongress geben, zumal einige Passagen des Vorschlags offenbar nicht mit dem USMCA-Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada konform sind.

Für viele Experten setzt die Reform aber schlicht an der falschen Stelle an. So müsse die Arbeit der Staatsanwaltschaften verbessert werden. Denn das grosse Problem der Justiz sei die weitverbreitete Straflosigkeit, die auf Unfähigkeit oder Unwillen der Strafverfolgungsbehörden basiere. Nur rund 10 Prozent der Ermittlungen führen überhaupt zu Strafverfahren, die dann meist im Sande verlaufen. So bleiben 95 Prozent der Straftaten in Mexiko für die Täter ohne Folge.

Kein Wunder, dass rund die Hälfte der Mexikaner angibt, kein Vertrauen in die Justiz zu haben. Aus Angst oder Misstrauen gegenüber den Behörden wird eine grosse Zahl von Delikten erst gar nicht angezeigt.

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