Dienstag, November 26

Die Schuldenbremse ist nach Einschätzung des deutschen Sachverständigenrats Wirtschaft «starrer, als sie sein müsste». Das Gremium spricht sich für Reformen an drei Stellen aus.

«Einstimmig» schlage der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung («Wirtschaftsweise») vor, die deutsche Schuldenbremse an drei Stellen anzupassen, hebt die Pressemitteilung zu einem am Dienstag veröffentlichten Policy-Brief hervor. Das ist insofern tatsächlich bemerkenswert, als die fünf im Gremium vertretenen Ökonominnen und Ökonomen unter der Leitung von Monika Schnitzer (Universität München) durchaus unterschiedliche finanzpolitische Positionen vertreten.

Unnötig starr

Mit dem Sachverständigenrat greift eine gewichtige Stimme in die Diskussion über die Schuldenbremse ein, die die Neuverschuldung begrenzt und seit dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts von Mitte November unter Druck steht wie selten zuvor.

Die «Wirtschaftsweisen» sind sich einig: Die Schuldenbremse sei in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung starrer, als es zur Aufrechterhaltung der Schuldentragfähigkeit nötig sei. Damit beschränke sie die fiskalischen Spielräume für zukunftsgerichtete Ausgaben unnötig stark. Mit Schuldentragfähigkeit ist die Fähigkeit eines Schuldners (hier des Staats) gemeint, den Zinsen und Rückzahlungen, die aufgrund der bisher aufgenommenen Schulden entstehen, fristgerecht und in voller Höhe nachkommen zu können.

Gestaffelte Defizitgrenze

Eine «pragmatische Reform» könne die Flexibilität der Finanzpolitik erhöhen, ohne die Stabilität zu gefährden, argumentieren die «Wirtschaftsweisen». Dazu empfehlen sie, an drei Stellen anzusetzen.

Erstens schlagen sie vor, die zulässigen Defizitgrenzen nach der Höhe des gesamtstaatlichen Schuldenstands zu staffeln. Derzeit ist die Defizitgrenze (ausser in Notlagen wie der Corona- oder der Energiekrise) immer gleich: Das strukturelle (um Konjunktureinflüsse bereinigte) Defizit darf 0,35 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) nicht überschreiten. Das Papier verweist auf Simulationsrechnungen, wonach die Schuldenstandsquote (Staatsschulden in Prozent des BIP) selbst bei voller Ausschöpfung dieser Grenze und bei regelmässigen Krisen mit höherer Nettokreditaufnahme stetig und deutlich sinken wird.

Der Sachverständigenrat empfiehlt deshalb eine Staffelung: Liegt die Schuldenstandsquote unter 60 Prozent des BIP, sollte ein strukturelles Defizit von bis zu 1 Prozent des BIP zulässig sein. Bei einer Schuldenquote zwischen 60 und 90 Prozent des BIP sollte die Defizitgrenze auf 0,5 Prozent des BIP sinken, und bei einer noch höheren Verschuldung sollte die derzeitige Grenze von 0,35 Prozent des BIP greifen.

Übergangspfad nach Notlage

Zweitens sollte laut dem Policy-Brief die Ausnahmeklausel der Schuldenbremse, die in Notlagen eine höhere Neuverschuldung erlaubt, durch eine Übergangsregel ergänzt werden. Diese sollte festlegen, dass die Neuverschuldung während drei bis vier Jahren schrittweise reduziert wird, bis die Regelgrenze wieder erreicht ist.

Das Papier begründet dies damit, dass ökonomische Krisen auch in den Jahren nach einer akuten Notlage noch erhebliche Auswirkungen haben könnten. Eine sofortige Konsolidierung des Haushalts könne dann zu unnötig starken negativen Impulsen für die noch schwächelnde Volkswirtschaft führen. Eine Übergangslösung sorge für zusätzliche Spielräume und verhindere gleichzeitig, dass ständig über die Ausrufung neuer Notlagen diskutiert werde, so wird die «Wirtschaftsweise» Ulrike Malmendier zitiert.

Konjunkturbereinigung

Drittens fordert der Sachverständigenrat eine Reform der Konjunkturbereinigung. Durch eine symmetrische Berücksichtigung der konjunkturellen Lage erhöht diese die zulässige Neuverschuldung in mageren Jahren, während sie in fetten Jahren reduziert wird. Die hierzu verwendeten Schätzverfahren gelten aber als revisionsanfällig und erschweren damit die Haushaltsplanung. Moderne ökonometrische Schätzverfahren könnten diese Revisionen reduzieren, argumentieren die «Wirtschaftsweisen» unter anderem.

Die Diskussion über die Schuldenbremse hat nach dem Verfassungsgerichtsurteil, das die Ampelregierung zu hektischen Korrekturen des Staatshaushalts 2024 gezwungen hat, stark an Fahrt gewonnen. Dabei wurden auch Vorschläge in den Raum gestellt, die das Regelwerk deutlich stärker lockern würden als die Vorschläge des Sachverständigenrats. Die «Wirtschaftsweise» Veronika Grimm, die die Schuldenbremse stets öffentlich verteidigt hat, erklärte ihre Zustimmung zum Papier damit, dass die Vorschläge die fiskalischen Spielräume moderat erweitern würden, ohne die Schuldentragfähigkeit zu gefährden.

Allerdings dürften auch weitergehende Forderungen wieder auf den Tisch kommen, sollte die Politik tatsächlich eine Reform in Angriff nehmen. Die Schuldenbremse ist indessen im Grundgesetz verankert, weshalb die meisten Punkte nur mit einer Zweidrittelmehrheit des Bundestags und des Bundesrats (Gremium der Bundesländer) geändert werden könnten. Das gilt auch für die Defizitgrenze von 0,35 Prozent des BIP. Für eine Änderung brauchte es neben der SPD und den Grünen auch die Liberalen von Finanzminister Christian Lindner, der bis anhin an der Schuldenbremse festhält, sowie Stimmen aus der Opposition.

Was ist die Schuldenbremse?

Artikel 109 des deutschen Grundgesetzes schreibt für den Bund und die Bundesländer den Grundsatz ausgeglichener Haushalte ohne Einnahmen aus Krediten vor. Für den Bund wird diese Schuldenbremse in Artikel 115 präzisiert. Danach beträgt die maximal zulässige strukturelle (um konjunkturelle Einflüsse und finanzielle Transaktionen bereinigte) Nettokreditaufnahme 0,35 Prozent des jährlichen Bruttoinlandprodukts (BIP). Eine Konjunkturkomponente sorgt dafür, dass die Grenze für die Neuverschuldung in konjunkturell schlechten Zeiten erhöht und in guten Zeiten reduziert wird. «Im Falle von Naturkatastrophen oder aussergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen», kann die Schuldenregel ausgesetzt und die Kreditobergrenze überschritten werden. 

Die «Wirtschaftsweisen» sehen ihre Vorschläge auch als Reaktion auf das erwähnte Urteil des Bundesverfassungsgerichts, laut dem die Schuldenbremse deutlich enger auszulegen sei als von der Bundesregierung zuvor praktiziert. Insbesondere könnten Kreditermächtigungen, die während einer Notlage erteilt worden seien, nicht mehr in Sondervermögen übertragen und in späteren Jahren genutzt werden. Nach der Ausnahmesituation müsse daher entweder eine sofortige Konsolidierung erfolgen oder in Folgejahren eine Notlage neu begründet werden.

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