Freitag, Oktober 18

Der Deutsche strebt eine weitere Amtszeit als IOK-Präsident an – obwohl die olympische Charta das verbietet. Doch das kümmert Bach wenig.

Wenn man sich auf die Suche nach der Hinterlassenschaft der mittlerweile elf Jahre dauernden Präsidentschaft von Thomas Bach an der Spitze des Internationalen Olympischen Komitees (IOK) macht, so findet man vor allem eines: viel Papier. Die Reform-Agenda 2020, mit der er im Sommer 2013 für seine Wahl ins IOK-Präsidium geworben hatte, ist das Kernstück seiner Amtszeit.

Der Deutsche wurde im September 2013 an der Session in Buenos Aires als Nachfolger des belgischen Mediziners Jacques Rogge gewählt. Im vorangegangenen Wahlkampf hatte er versprochen, den angeschlagenen Ruf der Sportorganisation zu verbessern. Korruption, undurchsichtige Geldflüsse, Vetternwirtschaft – all das prägte das Image jener Organisation, die doch eigentlich für die Jugend der Welt und ihre Unschuld stehen sollte.

Die «Agenda 2020» ist trotz der Papierflut, die sie produziert hat, mehr als bloss einer jener gefürchteten Papiertiger, die die Bürokratie immer wieder produziert. Ihre Kernpunkte sind einfach und schlüssig: Olympia sollte wieder kleiner, bescheidener und vor allem kostengünstiger werden. Dem IOK drohten die potenziellen Veranstalter auszugehen. Nicht nur in der Schweiz stimmte die Bevölkerung wiederholt gegen Olympia-Kandidaturen, wenn sie zu solchen befragt wurde.

In einem seiner ersten Interviews als neugewählter IOK-Präsident sagte Bach rund ein Jahr nach seiner Wahl in einem Interview mit der NZZ: «Es gibt im Sport zwei grosse Lebenslügen. Die erste ist, Sport hat nichts mit Geld zu tun, die zweite ist, Sport hat nichts mit Politik zu tun.» Aber um international überleben zu können, müsse der Sport politisch neutral sein. Sonst könne er seine Brückenfunktion nicht wahrnehmen.

Olympia im Strudel der Weltgeschichte

Wenn am Freitag in Paris die Olympischen Sommerspiele beginnen, dann herrscht auf der Welt an vielen Orten Krieg und Verwüstung. Das Barometer des Heidelberger Instituts für internationale Konflikte zählt weltweit Dutzende kleinerer und grösserer Auseinandersetzungen.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern in Gaza, der zweite äthiopische Bürgerkrieg sowie der Überfall Russlands auf die Ukraine. Vor allem im Hinblick auf die Eröffnungsfeier, die erstmals nicht in einem Stadion, sondern in der Stadt entlang der Seine stattfinden soll, ist die Angst vor Störaktionen und Anschlägen gross.

Unter diesen herausfordernden Umständen versammelt das IOK die Jugend der Welt zu den Spielen in Paris. Thomas Bach sieht sich selbst als Friedensstifter. Von einem olympischen Frieden während der 17-tägigen Dauer der Spiele spricht zwar kaum noch jemand. Doch nur allzu gerne würde Bach dereinst den Friedensnobelpreis entgegennehmen.

Im NZZ-Interview vom Herbst 2013 zitierte er auch Nelson Mandela, der 1993 den Nobelpreis für seinen Kampf für die Freiheit und Menschenrechte in Südafrika erhalten hatte. Er sagte: «Der Sport hat die Kraft, die Welt zu verändern.» Bach ist vor elf Jahren angetreten, den Sport zu verändern. Das ist ein Anspruch, an dem er im Prinzip nur scheitern konnte.

Das Internationale Olympische Komitee wurde im Jahr 1894 vom französischen Pädagogen Baron Pierre de Coubertin gegründet. Sein Ziel war es, die zerstrittene Welt in einem freundschaftlichen Wettkampf wieder näher zusammenzubringen. 130 Jahre später funktionieren das IOK und der internationale Sport völlig anders: Der Professionalismus und die Kommerzialisierung haben von ihnen Besitz ergriffen.

Bach hat das Präsidium des IOK kurz nach dessen grösster Krise übernommen. Der Bestechungsskandal um die Vergabe der Winterspiele 2002 nach Salt Lake City hatte auf die Gier und die Geltungssucht einer Funktionärskaste aufmerksam gemacht, die das Bild des IOK, aber auch des Weltfussballverbands (Fifa) seither prägen. Gute Absichten sind Nebensache – es zählt vor allem der persönliche Profit. Eine ganze Funktionärsgeneration geriet unter Generalverdacht.

Beijing 2022 Closing Ceremony - Speech of IOC President Thomas Bach

Zu welcher Kaste gehört nun Thomas Bach aus der deutschen Kleinstadt Tauberbischofsheim, der ehemalige Olympiamedaillengewinner im Fechten und Doktor der Jurisprudenz? Ist er ein Reformer im Geiste Pierre de Coubertins oder doch eher ein machtversessener Demagoge wie Juan Antonio Samaranch, der das IOK während seiner 20-jährigen Präsidentschaft kommerzialisiert und gleichzeitig in seine grösste Krise geführt hatte?

Die Antwort auf diese Frage ist schwierig. Menschen, die Bach nahegekommen sind, bezeichnen ihn als berechnenden Politiker, als Machiavellisten, der zeit seines Lebens alles dem Erreichen und Erhalten der eigenen Macht untergeordnet habe. Ein langjähriger Vertrauter sagt: «Bach fährt das IOK gegen die Wand.» Mit seinem Namen zum Vorwurf stehen will er aber nicht.

Kaum jemand spricht öffentlich schlecht über den mittlerweile 70-jährigen Funktionär. Zu sehr fürchtet man seinen internationalen Einfluss und eine mögliche Rache. Die «Süddeutsche Zeitung» schrieb im Frühjahr in einem langen Artikel, Bachs Beförderung ins IOK-Präsidium sei vor allem von Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin orchestriert worden. Im Februar 2011, also rund eineinhalb Jahre vor seiner Wahl in Buenos Aires, sei Bach nach Moskau geflogen, um sich im Kreml die Absolution für sein Vorhaben erteilen zu lassen.

Bestätigt ist die Episode nicht, doch dass der Kreml seinen Einfluss immer wieder geltend gemacht hat, wenn es darum ging, wichtige internationale Positionen im Sport zu besetzen, ist keinesfalls neu. Bereits der Spanier Juan Antonio Samaranch, von 1980 bis 2001 Präsident des IOK, genoss den Schutz der russischen Regierung. Vor seiner Wahl zum IOK-Präsidenten war Samaranch spanischer Botschafter in Moskau gewesen.

Bach mag in jenem Februar 2011 tatsächlich in Moskau gewesen sein. Sein Aufstieg an die Spitze der bedeutendsten Sportorganisation wurde aber schon lange vorher eingefädelt. Ein langjähriger Begleiter sagt: «Bereits 2001, bei der Wahl von Jacques Rogge, war alles geplant, um den Deutschen dereinst ins Präsidium des IOK zu hieven.»

Und diese Position soll er 2025, zwölf Jahre nachdem er sein Lebensziel erreicht hat, aufgeben? Seit der letzten IOK-Session im vergangenen Jahr in Mumbai kursiert das Gerücht, Bach wolle seine Amtszeit zumindest um weitere vier Jahre verlängern. Eigentlich ist das nicht möglich. Die Charta setzt jeder Präsidentschaft grundsätzlich nach zwei Amtsperioden ein Ende. Es ist eine jener Änderungen, die als Konsequenzen des Bestechungsfalls um die Spiele in Salt Lake City eingeführt worden waren.

Doch auch die Charta, diese heilige Schrift des olympischen Sports, ist letztlich nur Papier, das jederzeit neu beschrieben werden kann. Auf eine Anfrage der NZZ antwortete ein IOK-Sprecher in der vergangenen Woche: «An der IOK-Session in Mumbai im vergangenen Oktober hatten ihn Mitglieder gebeten, über eine weitere Amtszeit nachzudenken. Er hat weder Ja noch Nein gesagt. Dann hat die IOK-Ethikkommission im März empfohlen, dass er sich zu der Frage nicht vor dem Ende der Sommerspiele in Paris äussert.»

Das ist weder eine Bestätigung noch ein Dementi. Doch Bach soll alles vorbereitet haben, um bereits während oder nach den Olympischen Spielen in Paris eine Kandidatur für eine weitere Amtszeit anzukündigen. Über die für eine weitere Amtszeit Bachs notwendige Änderung der Charta könnte auch brieflich abgestimmt werden. Die hierfür nötige Mehrheit zu erreichen, dürfte für Bach kein Problem sein.

Den Grossteil der gegenwärtigen IOK-Exekutivmitglieder hat er selber ausgewählt. Sie sind ihm entsprechend wohlgesinnt. Die Exekutive, der innerste Führungszirkel, ist nach seinem Willen besetzt. Bach gegenüber kritisch gestimmt ist vor allem der ehemalige Weltklasseläufer und aktuelle Präsident des internationalen Leichtathletikverbandes, Sebastian Coe. Der Brite hat in der Frage des Umgangs mit den russischen Sportlern eine grundlegend andere Vorgehensweise gewählt als das IOK. Coe hat Bachs Haltung in dieser Frage wiederholt öffentlich kritisiert.

Woher also sollte grundsätzliche Opposition gegen eine dritte Amtszeit von Bach kommen? Und wäre ein Weitermachen des Präsidenten wirklich so schlimm?

Festzuhalten ist, dass Bachs Bilanz als IOK-Präsident durchzogen ist. Zwar war die «Agenda 2020» ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, weil das IOK vor ihrer Umsetzung in seiner grössten Krise steckte und kaum mehr valable Kandidaten für die Spiele fand. Nun sind zumindest die nächsten Sommer- und Winterspiele bereits vergeben – nach Los Angeles 2028 und Brisbane 2032 beziehungsweise nach Mailand und Cortina d’Ampezzo 2026 sowie in die französischen Alpen 2030 und nach Salt Lake City 2034. Die Schweiz hat das Versprechen auf den Zuschlag für die Winterspiele 2038, so sie diese dann wirklich will.

Aber hat sich das IOK unter Bach auch unter ethischen Gesichtspunkten weiterentwickelt? Kaum. Der Klüngel, der die internationale Sportpolitik durchzieht, prägt das System so stark, dass er kaum aufzulösen ist. Guido Tognoni hatte als Kommunikationschef während dreizehn Jahren für die Fifa gearbeitet. Später lebte er zwischen 2004 und 2007 in Katar und half dort im Auftrag des Emirs mit, den Wüstenstaat auf die sportliche Landkarte zu hieven. Er gilt als einer der profundesten Kenner der internationalen Sportdiplomatie.

Auf die Frage, wie er das bisherige Wirken des IOK-Präsidenten beurteile, sagt Tognoni: «Bach hat seine Aufgabe nicht schlecht gemacht. Im Gegensatz zur Fifa ist es ihm gelungen, das IOK weitgehend aus grösseren Skandalen herauszuhalten. Seinen Umgang mit den russischen Sportlern finde ich sogar vorbildlich. Es ist ihm gelungen, die Athleten in die Spiele einzubeziehen, ohne damit Stellung für Russland zu beziehen.»

Mit dieser Einschätzung stösst Tognoni auf Widerspruch. Noch immer gibt es Menschen, die sich einen vollständigen Ausschluss der Russen von den Olympischen Spielen wünschen. Wie zuletzt in Tokio und Peking dürfen russische Athleten unter neutraler Flagge antreten. Die einzige Bedingung: Sie dürfen sich nicht öffentlich und wissentlich für den Krieg Russlands gegen die Ukraine einsetzen. Verschiedene internationale Organisationen haben Verstösse gegen diese Auflage registriert.

Sind die ethischen Massstäbe an das IOK zu hoch?

Im eingangs erwähnten NZZ-Interview hatte Bach gesagt, die hohen ethischen Erwartungen, die an den Sport gestellt würden, seien der falschen Vorstellung geschuldet, wonach er eine Art Insel des Guten sein müsse. Bach sagte damals: «Der Sport ist ein Bestandteil der Gesellschaft – mit all ihren positiven und negativen Aspekten. In vielerlei Hinsicht haben wir strengere Regularien als die normale Gesellschaft. Nehmen Sie Doping. In keinem anderen Bereich des Gesellschaftslebens gibt es Dopingkontrollen.»

Was Bach eigentlich sagen wollte: Weshalb sollen wir besser sein als der Rest der Welt? Diese Haltung wäre angemessen, würden er und das IOK nicht immer wieder genau das für sich in Anspruch nehmen: besser zu sein als der Rest der Gesellschaft. Diese Überzeugung zeigt sich auch im umfangreichen Reformpapier «Agenda 2020», das mittlerweile mit dem Annex «Agenda 2020 plus» ergänzt wurde.

Mit seinem Festhalten an der Macht erinnert der ehemalige Weltklassefechter an einen seiner Mentoren: den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin. Dieser hatte sich einst vorübergehend auf die Position des Ministerpräsidenten zurückgezogen und die Führung Russlands von 2008 bis 2012 einstweilen seinem Zögling Dmitri Medwedew überlassen. Putin steht mittlerweile in seiner fünften Amtszeit. Im Mai wurde er für weitere sechs Jahre in seinem Amt bestätigt. Wer den Gipfel der Macht erklommen hat, tut sich schwer, wieder hinabzusteigen. Thomas Bach ist da nicht anders.

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