Staatsleitungsreform, Regionalreform, Justizreform: Giorgia Meloni jongliert mit drei Grossprojekten. Die Opposition läuft Sturm. Eine neue Phase in der italienischen Politik beginnt.

Die italienische Nationalhymne – sie heisst Fratelli d’Italia wie Giorgia Melonis Partei – wird dieser Tage nicht nur von der Squadra Azzurra an der EM in Deutschland mit Inbrunst vorgetragen, sondern auch im Parlament, und zwar auf den Oppositionsbänken. Anlass sind die Reform-Grossprojekte der Regierung von Giorgia Meloni, die gerade im Eilzugstempo beraten werden. Sie gehen so sehr ans Eingemachte, dass sich einige Abgeordneten bemüssigt fühlen, zu Ausdrucksmitteln zu greifen, die über die parlamentarische Routine hinausgehen.

Die Fünfsterne-Partei lässt die Hymne singen, der Partito Democratico (PD) schwenkt die Trikolore, die Lega entrollt die Flaggen der Regionen Italiens. Dazwischen fliegen sogar die Fäuste: Vor einer Woche kam es zu einem Handgemenge in der Abgeordnetenkammer, eine Person ging zu Boden, eine andere musste mit dem Rollstuhl aus dem Saal gebracht werden.

Hitzige Tage

Es sind hitzige Tage in Italien, sowohl was die Aussentemperaturen (in Rom werden über 40 Grad Celsius gemessen) als auch die Politik betrifft. Es macht den Anschein, als kündige sich nach den Europawahlen vom 9. Juni eine neue, härtere Phase in der italienischen Politik an. Der Zapfen ist ab, die Fronten sind geklärt, die Opposition formiert sich, und Giorgia Meloni scheint entschlossen zu sein, ein paar Pflöcke einzuschlagen.

Innert wenigen Tagen hat die Regierung zwei Reformvorhaben entscheidend vorangebracht, am Montag folgt das dritte:

  • Staatsleitungsreform: Mit diesem Projekt will die Regierung die Stabilität fördern. Neu soll der Ministerpräsident für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt vom Volk gewählt werden. Die Wiederwahl des Regierungschefs soll für eine weitere Amtszeit möglich sein. Ausserdem soll die Partei mit den meisten Stimmen einen Mehrheitsbonus von 55 Prozent der Sitze in beiden Kammern des Parlaments erhalten, um für die gesamte Legislaturperiode mit einer möglichst stabilen Mehrheit regieren zu können.

    Eine breite Opposition von gemässigt bis links lehnt die Reform ab und sieht darin den Beginn einer autoritären Wende in Italien. Der Ministerpräsident erhalte dadurch zu viel Macht, während die Befugnisse des Staatspräsidenten als Garant der Verfassung zu stark eingeschränkt würden. Der Senat hat der Reform am Dienstag zugestimmt, doch die Debatte zieht sich hin. Wenn sich in der Schlussabstimmung nicht in beiden Kammern eine Zweidrittelmehrheit für das Projekt findet (wovon angesichts der Mehrheitsverhältnisse auszugehen ist), kommt es zu einem Referendum.

  • Autonomie der Regionen: Wenige Stunden nach dem Ja des Senats zur Staatsleitungsreform hat in der Nacht auf Mittwoch die Abgeordnetenkammer als Zweitrat der sogenannten «differenzierten Autonomie» zugestimmt. Damit hat das Projekt Gesetzeskraft erlangt. Mit der Reform können die italienischen Regionen künftig in bis zu 23 Politikbereichen die Regie übernehmen und für die Erfüllung ihrer neuen Aufgaben Steuereinnahmen zurückbehalten. Sie müssen sich darüber mit dem Zentralstaat in Verhandlungen einig werden, ausserdem müssen zuvor noch sogenannte Minimalstandards definiert werden, die auf dem gesamten Staatsgebiet gelten sollen. Experten warnen vor unabsehbaren finanziellen Folgen des Vorhabens. Linke und gemässigte Oppositionskreise, die Bischofskonferenz und selbst einzelne von der Rechten regierte Regionen Süditaliens stellen sich gegen die Reform und nennen sie «Spacca Italia».  Spaccare heisst zu Deutsch «spalten» – womit klar ist, welche Befürchtung die Gegner hegen: Dass nämlich die Regionalreform den Graben zwischen dem reichen Norden und dem schwachen Süden vertieft und Italien zerfällt – deshalb die patriotischen Appelle mit Trikolore und Nationalhymne. Nun werden Unterschriften für ein Referendum gesammelt.
  • Justizreform: Am Montag schliesslich berät die grosse Kammer über die nach dem gegenwärtigen Justizminister Carlo Nordio benannte Reform. Sie hat verschiedene Verästelungen und verfolgt das Ziel, die Justiz zu verschlanken und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Justiz zu stärken. Unter anderem sollen der Straftatbestand des Amtsmissbrauchs abgeschafft und das Abhören privater Kommunikation durch die Justizbehörden erschwert werden. Für angehende Richter und Staatsanwälte sollen zudem psychologische Eignungstest eingeführt werden. Die Berufsverbände und die linken Oppositionsparteien halten die Reform für den Versuch der Regierung, das Justizwesen zu kontrollieren und politisch zu beeinflussen. Nach den Parlamentsberatungen wird man klarer sehen, ob sich auch hier der grosse Showdown anbahnt wie bei den anderen Reformvorhaben.

Giorgia Meloni jongliert die drei Grossprojekte im Moment noch relativ souverän. Für die Regierungschefin sind sie ein Zeichen ihres Willens, in der verbleibenden Amtszeit die Richtung der Politik in Italien zu verändern. Gleichzeitig hält sie ihre Koalitionspartner bei Laune: Während sie selbst die Staatsleitungsreform als «Mutter aller Reformen» bezeichnet, hat für die Lega die Regionalautonomie Priorität und für die von Silvio Berlusconi gegründete Forza Italia die Justizreform. Selbst Regierungsvertreter räumen ein, dass man nicht alle drei Vorhaben gleichzeitig ins Ziel bringen kann. Verteidigungsminister Guido Crosetto etwa, ein enger Vertrauter Melonis, hat öffentlich dazu geraten, erst einmal die Justizreform voranzutreiben und die Staatsleitungsreform noch «reifen» zu lassen.

Es braut sich etwas zusammen

Möglicherweise ahnt Crosetto, dass sich etwas zusammenbraut und man dem politischen Gegner zu viel Angriffsfläche bietet. Die vom PD angeführte Opposition hat sich entschieden, einen totalen Konfrontationskurs zu fahren. Sie bekämpft alle drei Reformen fundamental – obschon sie natürlich genau weiss, dass Italien in sämtlichen Teilbereichen Handlungsbedarf herrscht. Anstösse zur einer Regionalreform etwa kamen auch schon von PD-geführten Regionen, und dass ein Land, das seit dem Zweiten Weltkrieg fast siebzig Regierungen gesehen hat, ein Stabilitätsproblem hat, liegt auf der Hand. Doch solche Einwände werden vom PD jetzt erst einmal weggewischt.

Diese Alles-oder-nichts-Strategie könnte aufgehen. Referenden, wie sie die Opposition nun anstrebt, sind in Italien für Regierungen jeglicher Couleur ein grosses Risiko. Es ist schwer vorstellbar, dass gerade eine Giorgia Meloni, die sich ja als Totaldemokratin gibt, unbeschädigt aus einer verlorenen Volksabstimmung über eines ihrer zentralen Vorhaben herausgehen könnte.

Derweil kommt neuer Reform-Druck aus der EU. Die Brüsseler Kommission hat am Mittwoch angesichts grosser Haushaltlöcher ein Defizitverfahren gegen Italien und andere EU-Staaten angekündigt und Rom daran erinnert, endlich jene Reformen anzugehen, die die EU schon seit geraumer Zeit anmahnt. Es geht um Dauerbrenner wie die Neuvergabe von Strandkonzessionen, die Revision der Vermessungen der Immobilien-Kataster, die Umsetzung der Vorgaben des Corona-Wiederaufbaufonds – kurzum: um Massnahmen, die die Wettbewerbsfähigkeit des Landes stärken würden. Doch weil die Regierungskoalition dabei teilweise ihrer eigenen Klientel auf die Füsse treten müsste, schiebt sie entsprechende Beschlüsse hinaus. Lieber richtet sie mit der ganz grossen Kelle an.

Exit mobile version