Ein Jahr nach der Erdbebenkatastrophe im Südosten der Türkei ist die Region noch immer schwer gezeichnet. Die Regierung hat ihre Versprechen nicht einlösen können. Es wird noch Jahre dauern, bis das Leben zur Normalität zurückkehrt.
Im Zelt von Elvan Mansuroglu rumpelt eine Waschmaschine. Versorgt wird sie über einen improvisierten Stromanschluss. Er macht das Leben etwas einfacher in der kleinen Zeltstadt im Zentrum von Antakya, der am stärksten zerstörten Grossstadt im türkischen Erdbebengebiet. «Wo ich kann, vermeide ich es trotzdem, elektrische Geräte zu benutzen. Auch die Elektroöfen», sagt die Mittfünfzigerin. Es habe schon zu viele Unfälle gegeben, besonders bei Regen.
Die schlimmste Kälte ist den Leuten in Antakya in diesem ersten Winter nach dem Erdbeben erspart geblieben. Doch auch das nasskalte Wetter ist höchst ungemütlich, wenn man in einem Zelt lebt. «Es dauert lange, bis die Kleider trocken sind», sagt Mansuroglu, als sie die Wäsche an den kleinen Ständer hängt. Danach kocht sie auf dem Vorplatz vor dem Zelt Tee und setzt sich an den kleinen Campingtisch. Eine Plastikplane dient der behelfsmässigen Küche als Dach.
Bilder der Zerstörung
Mansuroglus gegenwärtiges Zuhause steht wenige Meter neben dem Grundstück, auf dem einst ihr Haus stand. Wie Zehntausende andere Gebäude in Antakya wurde ihr Haus beim Doppelbeben vom 6. Februar so stark beschädigt, dass es abgerissen werden musste. Ein paar Wochen wohnte Mansuroglu bei ihrem Sohn in Zentralanatolien. Doch schon im März kehrte sie in ihre versehrte Heimatstadt zurück. Seither lebt sie im Zelt. «Ich bin in Antakya geboren, hier gehöre ich hin», sagt sie.
Auch ein Jahr nach der Katastrophe weckt die jahrtausendealte Stadt an der Grenze zu Syrien vielerorts Kriegsassoziationen. Riesige Brachflächen und immer noch auch Trümmer und Ruinen prägen das Bild in der Stadt, die in der Antike Antiochia hiess.
Besonders die Altstadt, die bis zum Beben zu den schönsten und authentischsten historischen Stadtzentren der Türkei gehörte, gibt ein erschütterndes Bild ab. Die meisten Baudenkmäler in der Weltkulturerbestätte sind eingestürzt, darunter auch die älteste Moschee Anatoliens und mehrere Kirchen. Das Miteinander verschiedener Religions- und Sprachgemeinschaften war immer ein Charakteristikum Antakyas.
Der Blick aus dem Hotel, das wie durch ein Wunder das Beben überstanden hat, fällt auf ein Nachbargebäude mit herabgestürzter Fassade. In einem Zimmer steht ein verstaubtes Sofa, auf dem Boden liegen Bücher. Als wäre das Unglück erst gestern gewesen.
Containersiedlungen am Stadtrand
Nicht, dass sich nichts getan hätte in den vergangenen zwölf Monaten. Unzählige Gebäude wurden abgerissen, Grundstücke planiert, Vorbereitungen für den Wiederaufbau getroffen. Und an den Rändern der Stadt sind teilweise riesige Containersiedlungen entstanden. Wer sein Obdach verloren hat, für den gibt es in der Regel dort einen Platz.
Im Vorort Gülderen wiederum, wo das Beben dank dem felsigen Untergrund kaum Schäden angerichtet hat, lässt die staatliche Wohnungsbaugesellschaft Toki eine riesige Neubausiedlung mit mehr als 120 Wohnblocks errichten.
Auch Mansuroglu hätte sich als Hausbesitzerin im Losverfahren um eine der Wohnungen bewerben oder zumindest in einen Container umziehen können. «Was soll ich da draussen?», fragt die Rentnerin rhetorisch. «Ich will mein Haus wieder aufbauen. Doch dafür fehlt mir das Geld.» Die Regierung gibt vergünstigte Kredite. Doch mit 5000 Lira Rente im Monat, etwa 145 Franken, kann sie sich das trotzdem nicht leisten.
Andere wiederum bleiben im Zelt wohnen, weil sie nicht wissen, wie sie sonst überleben sollen. Nur hier, wo für die Aufräumarbeiten immer Helfer gesucht würden, könnten seine Schwiegersöhne manchmal etwas Geld verdienen, erzählt Hasan. Im Gewerbegebiet, wo die Container stünden, gebe es für ungelernte Tagelöhner keine Arbeit.
Hussein ist vor mehr als zehn Jahren mit seiner Grossfamilie aus Syrien in die Türkei geflohen. Er würde gerne eine Wohnung mieten, doch das könne er sich nicht leisten, sagt Hussein. Die Mietpreise sind im Erdbebengebiet noch stärker angestiegen als im Rest des Landes.
«Als wir in die Türkei kamen, lebten wir die erste Zeit im Zelt. Jetzt sind wir wieder in derselben Situation», sagt der Familienvater, der beim Beben sieben Angehörige verloren hat. Laut offiziellen Angaben sind in der Provinz Hatay, zu der Antakya gehört, etwas mehr als 23 000 Menschen ums Leben gekommen. Viele glauben aber, die wirkliche Zahl liege deutlich höher. «Nur Allah weiss, wie es weitergeht», sagt Hussein.
Unrealistische Erwartungen
Der schleppende Wiederaufbau und die weiterhin schwierigen Lebensbedingungen sind in der ganzen Region ein Reizthema. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan hat im Nachgang der Katastrophe ambitionierte Ankündigungen gemacht und damit grosse Erwartungen geweckt. 319 000 Wohnungen sollten bis zum Jahrestag am 6. Februar 2024 im gesamten Erdbebengebiet gebaut werden, hiess es im Wahlkampf vor den Parlaments- und Präsidentenwahlen im Mai.
Nur ein kleiner Teil davon dürfte allerdings rechtzeitig fertig werden. In der Provinz Hatay liegt der Bedarf nach Regierungsangaben bei mehr als 250 000 neuen Wohnungen. Ausgeschrieben wurden davon bis jetzt etwas mehr als 30 000. Fertiggestellt sind bis heute höchstens ein paar Dutzend.
Bis zu den Wahlen im Mai war es mit dem Bau einigermassen rasch vorangegangen. Seither sind die Arbeiten aber ins Stocken geraten. In Antakya gab es seit September keine einzige neue Ausschreibung mehr. Ein Grund sind die Kosten. Die weiterhin hohe Inflation lässt den Wert des Sondervermögens für das Erdbeben schwinden. Die Preise für Baumaterial sind stark angestiegen, bei Importware erst recht.
«Die Versprechungen waren immer unrealistisch», sagt Inal Büyükasik, der Präsident des Verbands der Bauingenieure in Antakya. Als Büro dient ihm ein Container. Auch das Gebäude, in dem der Verband seinen Sitz hatte, ist eingestürzt. «Man hätte den Menschen nicht das Gefühl vermitteln dürfen, dass der Wiederaufbau in einem oder zwei Jahren zu machen ist. Nicht bei einer Katastrophe dieses Ausmasses», sagt er.
Geschwindigkeit allein dürfe auch gar kein Kriterium sein, sagt Büyükasik. Sein Verband habe immer vor einem zu raschen Vorgehen gewarnt. Schliesslich müssten der Untergrund analysiert und die Gefahrenlage evaluiert werden. Nicht überall lohne sich ein Wiederaufbau. Und natürlich müssten die neuen Häuser erdbebensicher errichtet werden. «Antakya wurde in seiner Geschichte sieben Mal zerstört. Irgendwann wird es ein achtes grosses Beben geben.»
Bessere Notunterkünfte
Der Verein für Erdbebenopfer, eine Initiative mit Verbindungen zur in Antakya traditionell starken politischen Linken, hat kürzlich eine Protestaktion organisiert, bei der Bewohner der Stadt ihrem Unmut Luft machen konnten.
«Wir wissen, dass der Wiederaufbau Zeit benötigt. Deshalb brauchen wir unbedingt bessere und sicherere Übergangslösungen», sagt Ece Dogru, eine der Aktivistinnen. «Bei mir regnet es in den Container herein. Aber das ist nur eine Kleinigkeit.» Erst vor einigen Tagen sei in einer Nachbarstadt ein Kind in einer Containersiedlung bei einem Feuer ums Leben gekommen, das durch einen Kabelbrand ausgelöst worden sei.
«Vorgefertigte Holzhäuser wären eine Lösung», sagt Dogru und greift dabei eine Forderung auf, die auch der Ingenieurverband gestellt hat. Bisher sind 300 solcher Häuser in Planung. «Das ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein.»
Der Bürgermeister zieht für den Wahlkampf in einen Container
Auch Antakyas Bürgermeister Lütfü Savas erkennt an, dass die Lebensbedingungen weiterhin schwierig sind. Aus Solidarität sei er mit seiner Frau in einen Container umgezogen, obwohl das Wohnhaus der Familie das Beben weitgehend unbeschädigt überstanden habe, erzählt der Politiker im Gespräch in seinem vorübergehenden Büro auf dem Messegelände.
Der Umzug ist eine Wahlkampfaktion. In der Türkei finden Ende März Lokalwahlen statt. Angesichts der grossen Unzufriedenheit in Antakya mit der Provinzregierung kam die neuerliche Nominierung von Savas für viele Beobachter als Überraschung.
«Die Regierung hat Versprechungen gemacht. Ich gehöre der Opposition an und habe immer gesagt, dass wir uns Zeit für eine sorgfältige Planung nehmen müssen», sagt der Bürgermeister, der einst Mitglied von Präsident Erdogans AKP war, im Amt aber zur oppositionellen CHP übergetreten ist.
Damit wolle er nicht sagen, dass die Regierung in Ankara zu wenig tue. Aber diese Konstellation sei eine Realität, auch bei der Rettung des historischen Erbes, sagt Savas. Die Stadtverwaltung habe sich immer für den Erhalt der architektonischen Schätze eingesetzt, doch nun liege alle Verantwortung beim Kulturministerium. Die Wähler interessiert die Frage der Zuständigkeiten allerdings nur begrenzt. Man sei von allen Seiten enttäuscht, hört man oft auf der Strasse.
«Ein Mosaik muss wachsen»
Ob es überhaupt möglich sei, das alte Antakya wieder auferstehen zu lassen, fragen wir zum Abschluss den Bürgermeister. «Antakya ist ein einzigartiger Ort, auf den wir sehr stolz sind. Das gibt uns Kraft», sagt Savas. Nach dem Beben seien 550 000 Menschen aus der Provinz geflohen. 150 000 Einwohner seien mittlerweile zurückgekehrt, auch viele Junge. «Diese Menschen wollen ihre Stadt wieder aufbauen und glauben an die Zukunft.»
Der Ingenieur Inal Büyükasik äussert sich zurückhaltender. Allein den zerstörten Wohnraum zu ersetzen, dürfte zehn Jahre dauern. «Eine Stadt wieder aufzubauen und das alte Leben zurückzubringen, ist aber nicht dasselbe», sagt Büyükasik. «Nicht alles wird wiederkommen.»
Nach dreitausend Jahren sei nun etwa das jüdische Leben aus der Stadt verschwunden. Die letzten Angehörigen der kleinen Gemeinde, alles betagte Menschen, sind nach dem Beben nach Istanbul umgezogen. «Antakya war immer ein Mosaik. Das macht uns aus», sagt Büyükasik. «Ein solches Mosaik kann man nicht am Reissbrett planen, das muss wachsen.»