Der Heiligabend steht vor der Tür. Zu den vielen Gründen, sich auf ihn zu freuen, gehört dieser: Mit ihm endet in Zürich die Zeit der sogenannten Weihnachtsmärkte, die mehr und mehr ausufern.
Glühwein? Zieh ich mir nie rein. Aber das ist längst nicht mein grösstes Problem mit diesen Märkten, die uns in Zürich zurzeit unter dem Vorwand der Besinnlichkeit zur Besinnungslosigkeit treiben.
Neulich kämpfe ich mich durch die Massen und die Duftwolken aus Frittieröl, Schweiss und Muskat, da ich auf dem Weg zum Zug mitten in den «Christkindlimarkt» geraten bin. Seit genau dreissig Jahren hat er Advent für Advent die Wannerhalle des Zürcher Hauptbahnhofs, die in unverstelltem Zustand so wunderbar atmet, im Würgegriff. «Verzaubern» nennen es die Marketingstrategen, die auf der Suche nach Superlativen «einen der grössten Indoor-Weihnachtsmärkte Europas» anpreisen, als handle es sich um einen Sport-Event.
Doch es geht noch schlimmer. Ihren ästhetischen Tiefpunkt erreicht die zeitgenössische Adventskultur unter dem turmhohen Wahrzeichen der Stadt: Beim Grossmünster lungern eine triste Gruppe rot gestrichener Holzbauten herum, die wohl Lebkuchenhäuschen nachempfunden sein sollen, und werfen sich dem Gotteshaus an die Brust wie verschmähte Liebhaber. Dazwischen stehen Bartheken in Form von Futterkrippen, die vielleicht an den Stall von Bethlehem erinnern sollen.
Kulinarisch wird der bei solchen Märkten inzwischen übliche Schulterschluss zwischen Schweizer Traditionen und dem Rest der Welt praktiziert — von Öpfelchüechli («Swiss Speciality: Deep-fried Apple Rings»), die neben Kaiserschmarrn («Austrian Speciality: Sweet cut-up Pancake») in zwei Zwillingshäuschen einträchtig auf Kundschaft warten, über Langos bis zu Empanadas. Der Andrang vor diesen Ständen hält sich in Grenzen. Denn so begrüssenswert es sein mag, dass sich unsere Weihnachtskultur für Rezepte mit Migrationshintergrund öffnet: Am Schluss schlagen die Herzen hierzulande halt doch für Käse.
Also bildet den Abschluss ein gewaltiges Chalet-Plagiat, genannt «Fondue Alp», mit dem vor einigen Jahren das ganze Übel im Oberdorf begann. Draussen stapeln sich Holzscheite neben einem Schlitten ohne Schnee, drinnen wird in Caquelons gerührt und heissen Tafeln den Gast willkommen: «Schön bisch du da!», «Mir möged Dich!» und, weniger umarmend: «Eat Fondue now!» Der Imperativ ist auf eine gezeichnete Faust tätowiert, die sich zum Betrachter hin ballt wie der ganze faule Hüttenzauber. Hinter diesem komplettieren Abfallcontainer und ein paar entwurzelte Tannenbäume das Stillleben von seltener Hässlichkeit, das manchen auf unchristliche Gedanken bringen könnte: Möchten Harald Naegelis in die Grossmünstertürme gesprayte Skelette nicht ausbrechen und mit ihren Sensen all den Tand niedermähen?
Das ganze Jahr hindurch behelligen die Zürcher Behörden das Gewerbe mit Auflagen, auf dass es den öffentlichen Raum nicht verschandle. Und zum besinnlichen Jahresausklang lassen sie dann solche Verbrechen wider das Stadtbild zu.
Gut, es gibt gelungenere Beispiele. Auf dem Münsterhof beim Fraumünster wird uns keine Bergwelt vorgegaukelt, die Temporärbauten sind von aparter Schlichtheit, die Atmosphäre ist unaufgeregt. Im Vergleich dazu mag das «Wienachtsdorf» auf dem Sechseläuten- ein Rummelplatz sein, doch ist dessen Verantwortlichen ein gewisser Gestaltungswille nicht abzusprechen. Verengt man die Augen zu Schlitzen, bis man fast nichts mehr sieht und nur noch die Lichtlein durch die Wimpern schimmern, ist der Anblick nachts sogar richtig schön.
Während halbleere Kulturstätten darüber klagen, dass das Publikum gerade im Winter auf dem heimischen Sofa klebenbleibt, stürmt dieses in Zürich solche Advent-Food-Festivals. Diese gelten hier wohl bald als tourismusrelevanter als die Kunst, strömt doch das Volk, vom vorweihnachtlichen Herdentrieb beseelt, von nah und fern herbei.
So vermehren sich diese Angebote wie ein Spaltpilz, es gibt kaum mehr ein Entrinnen, selbst wenn man bis nach Locarno zu fliehen versucht: Wer die Piazza Grande als magisches Open-Air-Kino im August kennt, wird sie nicht wiedererkennen. Dort herrscht gerade zum zweiten Mal das höchst populäre «Winterland». Die Fassaden rundherum sind kunterbunt illuminiert, mittendrin laden ein «Fondue Chalet San Bernardino», ein romantisches Eisfeld – immerhin! –, und in einem riesigen, transparenten Festzelt prostet man sich zu.
Das ist nicht meine Idealvorstellung von einer Wunderwelt, aber immer noch besser als das Gedränge am Zürcher «Christkindlimarkt». Dessen gigantischer Weihnachtsbaum, einst jahrelang von einer Tiroler Kristallfirma gesponsert, dient jetzt übrigens als Reklamesäule einer Kilchberger Schokoladenfabrik: Er ist behangen mit gewaltigen Lindor-Kugeln, den Boden bevölkern diese goldenen Premium-Bärli, die dank wundersamer Genmanipulation und mithilfe von angeblichen Maîtres Chocolatier saisonal zu Rentieren oder Hasen mutieren können.
Zum Glück ist bald Heiligabend. Er wird dem ganzen Spuk, zumindest im Hauptbahnhof, ein Ende setzen.
Für diese Kolumne wird unangemeldet und anonym getestet und am Ende die Rechnung stets beglichen. Der Fokus liegt auf Lokalen in Zürich und der Region, mit gelegentlichen Abstechern in andere Landesteile.
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