Mittwoch, Oktober 30

Haben Schaffhauser Fussballfans in Winterthur zu Gewalt gegen Frauen aufgerufen? Für die Richter ist kein Straftatbestand erfüllt, sie bestätigen den Freispruch der Vorinstanz.

Der Vorfall hatte vor viereinhalb Jahren die Schweizer Fussball- und Medienwelt in Aufruhr versetzt: Bei einem Spiel der Challenge League zwischen dem FC Winterthur und dem FC Schaffhausen hielten mehrere Fans, die der sogenannten «Schaffhauser Bierkurve» angehörten, am 26. Mai 2019 ein zweiteiliges, rund 14 bis 15 Meter langes Banner in die Höhe, das zuvor ins Stadion geschmuggelt worden war.

In rund 60 Zentimeter grossen Buchstaben war darauf zu lesen: «Winti Fraue figgä und verhaue». Zudem schrien die Männer den auf dem Banner geschriebenen Text auch noch lauthals im Sprechchor. Es war eine Reaktion auf eine frühere Aktion von Winterthurer Fans: Bei einem Spiel in Schaffhausen Wochen zuvor hatten Winterthurer Fans ein Transparent hochgehalten, auf dem stand, dass die «Winti Fraue» mehr Fans als der FC Schaffhausen hätten.

Auch Tage nach dem Vorfall wurde in den Medien breit darüber berichtet. Regierungsrätinnen äusserten sich auf dem Kanal, der damals noch Twitter hiess, dazu. Natalie Rickli verlangte strafrechtliche Konsequenzen. Die Winterthurer Staatsanwaltschaft leitete ein Strafverfahren wegen öffentlicher Aufforderung zu Verbrechen oder zur Gewalttätigkeit ein. Aufgrund von Fotos und Videoaufnahmen konnten mehrere Beteiligte identifiziert werden.

Alle sechs angeklagten Schaffhauser Fans wurden dann aber am 31. August 2021 von einem Winterthurer Einzelrichter in einem Strafprozess vom Vorwurf der öffentlichen Aufforderung zu Verbrechen oder zu Gewalttätigkeit freigesprochen. Das Transparent sei zwar provokativ, herabwürdigend und «moralisch komplett verwerflich» gewesen, aber nicht strafbar.

Die Beschuldigten verweigern die Aussagen

Ein Oberstaatsanwalt ging gegen die Freisprüche in Berufung und erneuerte den Antrag auf Geldstrafen von zwischen 90 und 120 Tagessätzen. Deshalb müssen sich nun die sechs Schweizer im Alter von inzwischen 24 bis 30 Jahren auch vor Obergericht verantworten. Einer der Beschuldigten ist aufgrund einer wichtigen Prüfung vom Erscheinen dispensiert worden.

Alle fünf anwesenden jungen Männer machen von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch und beantworten keinerlei Fragen – weder zur Person noch zur Sache. Einer von ihnen war wegen Marihuana-Anbaus für den Eigenkonsum vorinstanzlich verurteilt und mit 300 Franken Busse bestraft worden. Diese Strafe ist rechtskräftig.

Gemäss Auffassung des Staatsanwalts ist mit der Aktion eindeutig eine rote Linie zur strafrechtlichen Relevanz überschritten worden. Es handle sich nicht mehr um eine blosse Provokation, sondern um eine Aufforderung zur Gewalt an Winterthurer Frauen. Es habe sich um einen «perfiden Plan» gehandelt, der objektiv geeignet gewesen sei, körperliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen auszulösen, erklärt er.

Die Freisprüche der Vorinstanz seien «das Produkt einer blauäugigen Toleranz» gewesen. Sollte es auch diesmal zu einem Freispruch kommen, seien den Beschuldigten wenigstens Prozesskosten von 12 000 Franken aufzuerlegen.

Richter klemmt Verteidiger wegen «Polemik» ab

Jeder der Beschuldigten hat am Obergericht einen amtlichen Verteidiger. Alle verlangen Freisprüche. Unbestrittenermassen habe es sich um eine pietätlose und geschmacklose Provokation gehandelt. Das hätten auch alle Beteiligten schon kurz nach der Aktion eingesehen. Diese Provokation sei aber nicht rechtlich relevant. Niemand komme auf die Idee, aufgrund eines solchen Transparents und eines Sprechgesangs tatsächlich Gewalt auszuüben.

Die Ansicht des Staatsanwalts sei realitätsfremd. Zweimal greift der vorsitzende Richter ein und lässt zwei Verteidiger Passagen nicht verlesen, die seiner Ansicht nach reine Polemik gegen den Staatsanwalt sind. Das Gericht beurteile den Fall nur rechtlich, erklärt der Richter.

Die Verteidiger halten fest, an den Beschuldigten solle ein Exempel statuiert werden. Sie seien aber bereits bestraft worden. Sie hätten vom Fussballverband mehrjährige Stadionverbote in der ganzen Schweiz sowie Bussen erhalten.

Ein Verteidiger erklärt, sein Mandant sei gar nicht rechtsgenügend identifiziert worden. Ein anderer argumentiert, sein Mandant habe nicht gewusst, was auf dem Transparent stand, und sich sofort abgewendet, als er den Text gelesen habe.

Das Obergericht bestätigt schliesslich alle Freisprüche. Die Richter kommen zwar zum Schluss, dass alle Beschuldigten beteiligt gewesen seien. Alles andere seien Schutzbehauptungen.

Damit ein Aufruf zur Gewalt strafbar sei, müsse er aber eindeutig und ernst zu nehmen sein. Die Ernsthaftigkeit fehle hier. Es habe sich um eine reine Provokation gehandelt. Der Gerichtsvorsitzende ist sogar der Meinung, dass man hundert Leute auf der Strasse fragen könnte, ob das Transparent ernst gemeint gewesen sei, und hundert würden sagen, Nein, es sei nur eine Provokation gewesen.

«Es ist eine reine Provokation und mehr nicht», lautet das Fazit des Gerichts. Es sei nicht legitim, jedes gesellschaftliche Problem mit dem Strafrecht zu unterbinden, erklärt der vorsitzende Richter. Die Prozesskosten gehen auf die Staatskasse.

Urteil SB220169 vom 22. 1. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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