Samstag, September 28

Sie bewohnten Strandhöhlen, feierten freizügige Partys und träumten vom Frieden: Vor fünfzig Jahren war Matala ein Hotspot der Hippies. Heute hat sich das Dorf gewandelt, doch ein Schweizer lebt wieder in einer Höhle.

Das Schlimmste war jeden Morgen der Sand zwischen den Zähnen, in den Haaren, im Schlafsack. Es knirschte im Mund, juckte am Kopf. Die Nächte waren lang: Musik, Wein, Joints, Sex. Der Schlaf kurz: Um zehn nach sechs stand die Sonne schon gleissend am Horizont. Aber nach dem morgendlichen Bad im Meer, nackt wie Eva und Adam, begann ein weiterer Tag im Paradies, das einen Namen hatte: Vai, Europas einziger Strand, der gesäumt ist von natürlich gewachsenen Palmen.

Das war 1984. In Vai, aber auch in Matala, Myrtos, Paleochora und einigen weiteren kleinen Dörfern am Meer versammelten sich Traveller für zwei, drei, vier Wochen im Sommer, mit vollgepacktem Rucksack und schmalem Budget. Touristen wollten sie absolut nicht sein. Denn die buchten aus dem Katalog und wohnten im Hotel. Aber sie waren auch keine Hippies mehr.

Diese Zeit war vorbei, und letztlich verbrachten die Traveller nur ihre Ferien auf Kreta, um dann wieder zur Uni, in die Backstube oder Bankfiliale zurückzukehren. Fast alle aber hatten lange Haare, und das Hippie-Motto «Make love, not war» retteten die Rucksackreisenden noch ein wenig über die Zeit. Aber letztlich waren wir alle doch nur Feriengäste und keine Hippies, auch wenn wir das nicht wahrhaben wollten, damals.

Ich kannte Vai gut. Für die Hippie-Zeit war ich ein paar Jährchen zu jung. Aber meine Recherchen für diesen Artikel versetzten mich ein Stück weit zurück in diese verklärte Welt.

Die Epizentren der Hippies auf Kreta

Blut für ein Fährenticket

Wir schreiben das Jahr 1967. Der erste Mikrochip wird erfunden. Bis zum ersten Handy dauert es aber noch sechs Jahre. In Palästina tobt der Sechstagekrieg. Der Vietnamkrieg dauert seit zwölf Jahren an. Und es sollten nochmals acht verheerende Jahre bis zu seinem Ende vergehen.

Vai war zu dieser Zeit noch völlig unbekannt, wie auch das kleine Fischerdorf Matala. Einmal am Tag fuhr ein Bus von Heraklion an die Südküste, das letzte Stück über Schotter. «Ich hatte von Matala gehört. Dem freien Leben dort. Dass man in Höhlen wohnen konnte. Ich wusste: Da muss ich hin!», so erinnert sich Arn Strohmeyer, damals 25 Jahre alt, heute einer der letzten Zeitzeugen der Hippie-Zeit von Matala. Die meisten von damals sind verstorben oder fristen ihr Dasein im Pflegeheim. «Ich trampte von Deutschland bis Athen und spendete dort Blut, um die Fährpassage nach Kreta zu finanzieren. 40 D-Mark gab es dafür», erzählt der heute 82-jährige Berliner, der inzwischen in Bremen wohnt.

Arn traf auf ein Dorf ohne Strom, ohne fliessend Wasser, mit nicht einmal zehn schlichten Häusern, bewohnt von armen Bauern und Fischern. «Wir kamen spätabends an, sahen das grosse Feuer und waren gleich mittendrin in der Strandfete. Ich bekam sofort was zu trinken, die Stimmung war grossartig!»

Arn platzte vom braven, stockkonservativen Deutschland mitten ins weltoffene europäische Epizentrum der Hippies. Viele blieben dort monatelang, manche jahrelang. Wieder andere zog es zur Bewusstseinserweiterung weiter nach Goa, Kathmandu oder Bali, andere Hippie-Zentren, friedliche Enklaven in den kriegerischen Zeiten von 1967.

Höhle statt Wohnzimmer mit TV

«Ich habe gleich in einer Höhle übernachtet», erzählt Arn. Einer sagte, ganz oben sei noch was frei. «Die erste Nacht war doch sehr hart», sagt der Deutsche. «Aber ich habe mir dann aus Tamariskenzweigen und Blättern ein Bett gebaut. Heute alles unvorstellbar!» Aber damals war es ein faszinierender Gegenentwurf zu allem Bürgerlichen mitsamt seinen Reglementierungen. Höhle am Meer statt Wohnzimmer mit TV: Das war’s!

Am nächsten Morgen schaute der Nachbar hinüber in Arns Höhle. Er hiess Georg. Georg Danzer, der damals noch unbekannte Wiener Liedermacher.

I bin unterwegs nach Matala
dort soll’s so oide Höhl’n geb’n
in denan a poa Hippies leb’n
dort mecht i hin.

Das sang dieser Georg Danzer 1995. Der Titel hiess schlicht «Matala». Es war der dritte Song auf der LP «Grosse Dinge», auf der Danzer Grosses verarbeitete.

«Der Georg», sagt Arn Strohmeyer, «kam kurz vor mir ganz bürgerlich mit Bügelfaltenhose und Trenchcoat in Matala an.» Auch ihn trieb die fade heimische Bürgerlichkeit weg und hin zu den Hippies, die seit 1963 nach und nach die 62 Höhlen, von denen 50 bewohnbar waren, vereinnahmten. Einige Amerikaner flohen nach Matala, um nicht zum Vietnamkrieg eingezogen zu werden. Die Europäer waren die Konsumflüchtlinge, die der biederen Bürgerlichkeit den Rücken kehrten. Aber war das Ganze eine lebensferne Utopie?

Partnerwechsel innert dreissig Minuten

«Viele Hippies waren unpolitisch, lebten in den Tag hinein. Ich würde also nicht von Utopie sprechen, denn an die Zukunft haben sie nicht gedacht . . .», sagt Arn. Der einheimische Fischer Georgios, den das Leben der Hippies faszinierte und der schnell einer von ihnen wurde, schrieb damals an die Quaimauer:

Today is life
tomorrow never comes.

Der Schriftzug wird bis heute in Ehren gehalten und jedes Jahr mit blauer Farbe aufgefrischt. Nur das Heute zählte, nicht die Zukunft, nicht die Arbeit, nicht die Uni, nicht einmal Beziehungen waren von grosser Dauer. «Es war schon ein sehr freizügiges Leben. Man konnte schnell jemanden kennenlernen», sagt Arn. «Manche hatten dreissig Minuten nach einer Trennung schon einen neuen Partner. Aber ich kannte auch einige feste Paare.» Wer nun denkt, Gleichberechtigung hätte schon Einzug in die Höhlen gehalten, täuscht sich: Die Rollenmuster waren klar verteilt. Die Frauen sorgten fürs Kochen, Putzen und für die Wäsche. Die Männer machten das Feuer und Musik.

Bis zu 200 Hippies bewohnten Matala. Und da es nicht so viele Höhlen gab, schliefen viele am Strand. Und wurde einmal eine Höhle frei, lugte auch schon der Hippie-Kapitalismus hervor: Nicht selten musste für eine Höhle eine Ablösesumme bezahlt werden. Es gab auch grosse Höhlen wie «The Hilton» mit drei Räumen oder «The Globe». «The Hilton» hatte schliesslich auch die bekannteste Bewohnerin: Joni Mitchell war 1969 in Matala und bereits berühmt. Die kanadische Sängerin verliebte sich in einen Burschen namens Carey Raditz, dem sie das Lied «Carey», hier ins Deutsche übersetzt, widmete:

Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen
Oh, du weisst, dass es wirklich schwer ist, hier wegzugehen, Carey
Aber es ist wirklich nicht mein Zuhause
Meine Fingernägel sind schmutzig
Und ich vermisse mein sauberes weisses Bett
Und mein schickes französisches Eau de Cologne.

Joni Mitchell fand das Höhlenleben schrecklich. Zur Natur-Toilette ging es über einen schmalen Pfad zum Meer hin. Trinkwasser gab es nur an einer Wasserstelle, wo man seine Flaschen füllen konnte. Die Höhlen waren zwar sauber (Frauenarbeit, siehe oben), aber Spinnen gab es dennoch reichlich. So mancher hatte kaum Geld und sehr wenig zu essen, klaute sich im Hinterland ein paar Tomaten oder Obst. Andere halfen gegen etwas Lohn bei der Ernte der Oliven, Tomaten, Trauben. Keiner bettelte. Aber die Einheimischen fragten sich: Was sind das für Leute, die in Höhlen leben wie Urzeitmenschen? Gegen den Vietnamkrieg? Gegen Konsumindustrie? Gegen Bürgerlichkeit? «Damit konnten die nichts anfangen», bilanzierte Joni Mitchell knapp.

Sex, Hasch und Gitarrengeschrumme

Aber da die Griechen sehr tolerant sind, kamen die beiden Seiten gut miteinander aus. Und Mama sorgte sogar für sie. Backte Brot, half ihren Hippie-Kindern, wenn sie krank waren. Die einheimische Anthousa Zourithakis war der gute Geist der Hippie-Kommune und wurde deshalb Mama genannt. Sie hatte eine Sammelbüchse: Jeder, der mehr hatte, spendete, um für andere kostenloses Brot zu finanzieren. Das war dann Matalas Umverteilungssozialismus.

Auch Joni Mitchell kannte Mama. Als die Sängerin in Matala war, gab es schon einen Laden, Tavernen und «genug Fisch, einen Bäcker, der auch Joghurt machte», wie die Kanadierin in einem Beitrag von «Rolling Stone» schrieb. Einige besorgten sich Möbel, sogar eine Holztüre am Höhleneingang wurde gesichtet. Und einer soll sogar einen Briefkasten gehabt haben. Es war die Zeit, als schon manche Athener übers Wochenende kamen, um ein bisschen Hippie zu spielen. Am Lagerfeuer wurden Lieder von Bob Dylan gesungen, von Joan Baez, von Donovan. Entgegen so mancher Behauptung: Keiner von ihnen war je in Matala.

Arn Strohmeyer hat nach der Matala-Erfahrung sein Examen gemacht und erst viel später das Buch «Mythos Matala» (Verlag Balistier) geschrieben: «Als ich alles reflektiert hatte. Matala war – so erinnere ich mich nachträglich vielleicht verklärend – ein dionysisches, rauschhaftes, psychedelisches Fest», schreibt Strohmeyer. «Abends, wenn die Weinflaschen und Haschpfeifen die Runde machten, das Gitarrenspiel und der Gesang anhob, entstand ein Gemeinschaftsgefühl, wie ich es nie wieder erlebt habe. In Matala war immer so etwas wie Woodstock-Stimmung. Bumsen war leichter, als ein Frühstück zu bekommen.» Arn wollte seinen Enkeln, die jetzt in den Zwanzigern sind, also so alt wie er zur Hippie-Zeit, erklären, was der Mythos Matala war: «Aber die haben das einfach nicht verstanden . . .» Auch ich frage zur Generation Hippie zwei Mädels der Generation Z, die von Höhle zu Höhle kraxeln: Neben etwas Wikipedia-Wissen ist ihrer Antwort nur Unverständnis zu entnehmen.

Heute zahlt man Eintritt

In der griechischen Mythologie ist Matala der Ort, an dem Zeus mit der phönizischen Prinzessin Europa an Land ging und den Sohn Minos, den späteren König von Kreta, zeugte. Und schon vor 3000 Jahren lebten Menschen in den Höhlen. Die Römer nutzten sie als Grabstätten, und einige Zeit bevor die Hippies kamen, bewohnten sie auch Kreter.

«Mein Vater hat das noch in den 1940er Jahren erlebt», sagt Spiros Panagakis, der bis heute genau gegenüber den Höhlen von Matala wohnt. Spiros ist 67 Jahre alt und hat mit 12 den ersten Hippie gesehen. «Diese Leute in tausendfach getragenen Kleidern waren wie aus einer anderen Welt. Sie füllten das Dorf mit Farben, die ich bis dahin nicht gesehen hatte. Und sie brachten ein Leben ohne Tabus und Verbote.»

So empfand auch Voula Kadianakis, heute die Buchhändlerin im Ort: «Ich zog mich an wie die Hippie-Mädchen, mit wallenden bunten Gewändern, offenen langen Haaren, und ich feierte mit ihnen.» In eine Höhle zog sie aber nicht, im Gegensatz zu Spiros: «Ein nettes Mädchen, die Gitarre, Wein, Raki, eine Höhle: Was gibt es Besseres?» Spiros sieht bis heute wie ein Hippie aus.

Irgendwann bekam die Kirche Wind von diesen Hippies, und der Bischof im fernen Heraklion drängte die seit 1967 machthabende griechische Militärjunta zur Räumung des Sündenpfuhls Anfang 1970. Das Höhlenareal wurde eingezäunt. Heutzutage wird sogar Eintritt verlangt.

Doch schon vier Jahre später, als die Junta zu Fall gebracht wurde, pilgerte eine Art zweite Welle nach Matala, nun aber auch nach Myrtos, Vai und in andere kleine Orte, eine Generation, die mit dem Begriff Rucksackreisende gut beschrieben ist. «Wir nannten uns 1980 noch Hippies, aber es ging nur noch um Drogen. Für mich war das nicht so toll, das muss ich ehrlich sagen», so beschreibt Suzanna aus Myrtos, die ihren Familiennamen nicht veröffentlicht haben möchte, die Schattenseite.

Die Kirche im fernen Heraklion wetterte sogleich wieder, doch «der Pope im Ort hatte in seinen tiefen Seitentaschen der Robe immer Süsses, das sich die Hippie-Mädchen selbst aus der Tasche holen durften. Und zwar nur die Mädchen . . .», wie sich Jordanis Stefanidis, Jurist, heute 82 Jahre alt und während der Junta-Zeit im schwedischen Exil, erinnert. «Die Holländerinnen zeigten am Strand alles. Da blieb den alten Fischern die Luft weg!», erzählt Jordanis. «Und wir Jungs gingen jeden Tag zur Bushaltestelle, um zu schauen, welche Mädchen neu ankamen.» «Make love, not war» reloaded . . .

Vai blieb unverbaut

Das soziale Leben veränderte sich grundlegend. Die Kommerzialisierung schritt unaufhaltsam voran. Bürgermeister Alexandros Pantelakis sagt: «In Myrtos lebten bis dahin nur ein paar Fischer und Bauern. Heute haben wir 1600 Gästebetten!» Vom Hippie-Zentrum zum Ziel für Rucksackreisende, und heute kann man Matala und Myrtos im Katalog buchen. Vai blieb unverbaut, weil Naturschutzgebiet. Am Strand schlafen wie damals darf man aber auch nicht mehr. Grosse Hotels findet man in keinem der Orte. Eine Naturschutzbestimmung sorgte dafür, dass allenfalls zweistöckige Häuser gebaut werden durften.

So ist Matala in den letzten gut fünfzig Jahren zwar von knapp 10 auf mehr als 70 Häuser angewachsen, aber so wurden die Familienbetriebe geschützt, und Matala konnte sein Gesicht im Grossen und Ganzen bewahren. Der Hotelier Manolis Spinthakis sagt: «Manche Gäste kommen seit dreissig, vierzig Jahren nach Matala. Viele waren Teil der Nach-Hippie-Zeit.»

Hippie-Festival im Juli

2011 stellte Arn Strohmeyer bei einem Hippie-Revival-Fest sein Buch «Mythos Matala» vor und bekam letztlich für die Idee, so ein Fest jedes Jahr zu machen, die Ehrenbürgerurkunde der Gemeinde. Denn schon zum ersten Fest kamen nicht 300 Leute, wie Strohmeyer dachte, sondern 30 000! Seitdem findet das Festival jeden Sommer statt, heuer vom 5. bis 7. Juli. Und so mancher, der in Matala ein Zimmer gebucht hat, klettert nachts über den Zaun und schläft eine Nacht in einer Höhle, um das Hippie-Feeling zu erleben.

Das interessiert Marcel Brunog gar nicht. Er und vier weitere Aussteiger leben noch permanent in Höhlen rund um Matala. «In der Schweiz ist alles zu reguliert», sagt er. «Wenn es kalt wird im Winter, ziehe ich mehr an. Ich koche auf Gas und brauche nur etwa hundert Euro pro Monat.» Mit Gelegenheitsarbeiten ist das Geld schnell verdient. Doch hinter diesem pragmatischen Ansatz verbirgt sich ein Utopist, der an der Realität wohl längst verzweifelt ist.

Drei Dinge hat der 52-Jährige, gebürtig aus Thun, noch in seinem Leben vor: «Musik machen, obwohl ich keine Ahnung davon habe. Die Antarktis erkunden, obwohl sie viel zu kalt für mich ist. Und Gutes für Kinder tun, weil ich keine habe.» Ausserdem hat er für die Politiker in aller Welt einen Rat: «Wenn sie Krieg machen wollen, sollen sie doch selbst an die Front.»

Der Kreis schliesst sich: «Make love, not war.» Aber das Schlimmste bleibt jeden Morgen der Sand zwischen den Zähnen, in den Haaren, im Schlafsack, wie damals 1984 in Vai. Bei Marcel kommt der Sand nur von oben, von der Höhlendecke bröselt es ständig.

Die Recherche wurde möglich durch die Unterstützung von Edelweiss Air (www.flyedelweiss.com) und dem kretischen Touristenbüro (www.incrediblecrete.gr).

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