Fast täglich trägt die libanesische Schiitenmiliz ihre Gefallenen aus dem Grenzkrieg mit Israel zu Grabe. Den Angehörigen wird versichert, die Opfer seien nicht umsonst gewesen. Dabei ist unklar, was der Hizbullah eigentlich erreichen will.
Die Sonne scheint, als Fadel Ali Salman Chaar zu Grabe getragen wird. Aus Lautsprechern plärren Kriegslieder. Finster aussehende Männer in Kapuzenpullis küssen sich gegenseitig auf die Wangen. Pfadfinder tragen überlebensgrosse Porträts von Irans Ayatollah Khomeiny und dem Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah vor sich her. «Was für Männer seid ihr?», ruft ein Redner ins Mikrofon. «Richtet euch auf, ein neuer Märtyrer ist da.»
Dann wird der Sarg mit dem Toten emporgehoben. Bärtige Kämpfer salutieren. Wenig später ist es mit der militärisch anmutenden Disziplin allerdings vorbei. Kaum setzt sich der Trauerzug in Richtung Friedhof in Bewegung, bricht Ekstase aus. Männer umringen den Sarg und berühren ihn, als handle es sich dabei um eine Reliquie. Einer von ihnen wirft sich sogar auf ihn und küsst die leuchtend gelbe Fahne des Hizbullah, die ihn bedeckt.
Sie sterben in Tälern und auf Hügeln
Immer wieder erklingt lautes Wehklagen: «Mohammed, Ali, Mohammed!» oder «Labeika ya Hussein!» («Wir folgen dir, o Hussein!») Hussein, der Enkel des Propheten Mohammed, war in der Frühzeit des Islam in der Schlacht von Kerbala im Kampf gegen seine Widersacher gefallen. Er wurde somit zum ersten Märtyrer der Schiiten, die sich daraufhin von der Mehrheit der sunnitischen Muslime abspalteten.
Chaar, der heute in der Schiiten-Stadt Nabatiye in Südlibanon beerdigt wird, ist nun auch in die Riege der «Märtyrer» aufgestiegen. Der 31-Jährige war ein Kämpfer des Hizbullah – jener mächtigen, mit Iran verbündeten Schiitenmiliz, die weite Teile Libanons beherrscht und im Süden des Landes einen blutigen Grenzkrieg gegen ihren Erzfeind Israel führt. Seit Oktober sind über 170 Männer der Truppe gefallen.
Sie starben auf Hügelkuppen und in Tälern, beim Abfeuern von Panzerfäusten in Richtung Israel und bei israelischen Angriffen auf ihre Stellungen. Chaar wurde von einer israelischen Drohne getötet, als er gemeinsam mit zwei weiteren Kämpfern in einem Auto unterwegs war. Als sein Sarg schliesslich ins Grab herabgelassen wird, vermeldet der Hizbullah bereits den nächsten Toten.
Der Kult der Toten begleitet den Hizbullah seit je
Die Gefallenen, deren Porträts in den schiitischen Gebieten Libanons überall in den Strassen hängen, spielen eine zentrale Rolle in der Ideologie der Miliz, welche die Selbstaufopferung in ihrer DNA trägt. Sie würden wie Heilige ins Paradies aufsteigen, heisst es. So wie das grosse Vorbild Hussein es einst vorgemacht hat. Dabei erfüllen sie ihre Familien mit Stolz – hinterlassen aber auch Angehörige voller Trauer und Schmerz.
Der Kult um die Toten begleitet den Hizbullah seit seiner Gründung in den achtziger Jahren, als er noch Selbstmordattentäter losschickte. Immer wieder finden in der von ihm beherrschten Vorstadt von Beirut deshalb Gedenkveranstaltungen für die Märtyrer statt. Inmitten von tristen Häuserschluchten treffen sich die Angehörigen dann in einer Halle zum Gebet. Auch Nami Dahdou ist da, dessen Neffe Daniel vor ein paar Wochen erst im Süden gefallen ist.
«Ich bin stolz, denn er hat die Heimat verteidigt», sagt der 65-Jährige, der aus dem umkämpften Grenzdorf Aita al-Chaab hergekommen ist. Wie alle hier fühlt er sich dem Hizbullah verpflichtet. Dieser habe den einst armen Schiiten Würde verliehen. Zudem sei es der Miliz im Jahr 2000 gelungen, die Israeli aus Südlibanon zu vertreiben. «Wir werden daher weiterhin Opfer bringen, bis wir den Sieg errungen haben», sagt Dahdou.
Viele Libanesen haben andere Sorgen
Doch was ist damit gemeint? Die Befreiung Libanons? Die Zerstörung Israels? Abgesehen von ein paar Flecken im Süden haben die Israeli Libanon längst geräumt. Der Hizbullah wiederum ist zu einer Art Ordnungsmacht geworden, trainiert verbündete Milizen und sitzt in Libanon in der Regierung. Den Krieg im Süden scheint er nur mit Unwillen zu führen. Denn in dem Abnützungskampf verliert die Miliz Kämpfer, ohne dass ein Ende absehbar wäre.
Trotzdem fürchten viele, dass sich der Krieg ausweiten könnte. Israel verliert die Geduld mit dem Hizbullah und will seine Nordgrenze sichern. In Beirut machen Gerüchte über ein mögliches Abkommen die Runde, aber auch solche über eine bevorstehende Eskalation. Die meisten Libanesen – unter ihnen viele Schiiten – wollen keinen Krieg. Sie haben andere Sorgen als den Kampf der Hamas in Gaza, für den der Hizbullah im Oktober in den Krieg gezogen ist.
Der Hizbullah-Chef Nasrallah sieht sich offenbar gezwungen, den Angehörigen der Gefallenen immer wieder klarzumachen, dass ihre Opfer nicht umsonst waren: «Ich würde euch am liebsten auf die Stirn küssen», sagte der versteckt lebende Anführer kürzlich in einer Rede. Gleichzeitig hat die Miliz ihr Programm zur Unterstützung der Märtyrer-Familien ausgeweitet. «Unsere Führer wissen, was sie tun, ich vertraue ihnen», sagt Dahdou.
«Ich fühle den Schmerz bis heute»
Der Krieg im Süden ist nicht der erste umstrittene Waffengang, den der Hizbullah führt. Zuletzt kämpfte die Miliz aufseiten des Asad-Regimes im syrischen Bürgerkrieg. Statt im Kampf gegen Israel fielen ihre Männer im Kampf gegen den Islamischen Staat und gegen die syrischen Rebellen. Es war ein schmutziger Krieg. Ein Bruderkampf, der den Hizbullah in der muslimischen Welt viel Ansehen gekostet hat.
Mohammed Ali Hassan ist einer der «Märtyrer» aus dem Syrien-Krieg. Er starb 2015 in Kuneitra, an der Grenze zu Israel. Sein Onkel Mohammed Abou Hassan ist ebenfalls zum Gedenktag nach Beirut gekommen. Er trägt das Porträt seines Neffen als Pin auf der Brust und einen gelben Hizbullah-Schal um den Hals. «Ich fühle den Schmerz bis heute», sagt der 56-Jährige. «Er war wie ein Sohn für mich.»
Ali stammte aus Ain Kana, einem idyllischen Dorf hoch oben in den Bergen Südlibanons. Jedes Jahr im Januar organisiert seine Familie in der Versammlungshalle im Ortskern ein Gebet für den Gefallenen. Alis Eltern können wegen einer medizinischen Behandlung diesmal nicht teilnehmen. Deshalb verteilt Abou Hassan, der Onkel, die Amulette mit dem Bild des Toten. Es zeigt einen jungen Mann im Tarnanzug. Seine Gesichtszüge sind freundlich und sanft.
Der Familie fällt es schwer, loszulassen
«Wir wussten nicht, was Ali tat. Wir wussten nur, dass er beim Widerstand war», sagt Abou Hassan. Ali sei früh von lokalen Kämpfern angeworben worden. «Er war gläubig, aber auch intelligent. Er hat in Beirut Fotografie studiert und war sogar verlobt.» Bis heute wissen die Angehörigen nicht, wie der damals 31-Jährige ums Leben kam. Die Sinnhaftigkeit seines Todes stellen sie trotzdem nicht infrage. «Es war seine Pflicht», sagt Abou Hassan.
Gleichzeitig fällt es der Familie offensichtlich schwer, loszulassen. In Alis Zimmer hängt eine Fotocollage mit Bildern aus seinem Leben: Ali mit der Waffe, Ali zu Hause und Ali gemeinsam mit Freunden. Darunter steht sein Bett, mitsamt einer gefalteten roten Decke. Eine Katze springt hoch und lässt sich darauf nieder. Das Tier erkenne den Geruch von Alis Mutter, sagt Abou Hassan. «Nach dem Tod ihres Sohnes hat sie hier monatelang geschlafen.»
Nach dem Gebet wird in der Versammlungshalle ein Video gezeigt. Man sieht Alis Gesicht, umhüllt von Wolken. Männer aus dem Dorf mit wettergegerbten Gesichtern sitzen auf Plastikstühlen. Jemand reicht Taschentücher, mit denen sich die Anwesenden die Tränen wegwischen. «Er war wie eine Kerze, die in der Nacht leuchtet», sagt ein Redner – nur um dann allen in Erinnerung zu rufen, worum es dem Hizbullah tatsächlich geht: «Dank den Märtyrern werden wir die Juden und die Ungläubigen besiegen.»
«Als Märtyrer komme ich ins Paradies»
Später treffen sich die Hinterbliebenen im Haus der Familie. Es gibt Kaffee und Poulet mit Reis. Die Frauen sitzen auf der Veranda, die Männer im Garten. Der Onkel Abou Hassan hat früher selbst als junger Mann gegen die israelische Armee gekämpft. Er hat dabei Freunde sterben sehen. Jahre später ist sein Neffe gefallen. Jetzt werden erneut junge Männer zu Grabe getragen. Der Tod wird von einer Generation zur nächsten weitergereicht.
Doch viele Schiiten in Libanon gehören nicht mehr zu den Ärmsten. Längst existiert eine Mittelschicht, deren Mitglieder andere Ziele im Leben haben als den Heldentod. «Die Zeiten haben sich geändert», sagt Abou Hassan. Manche Männer würden immer noch in den Kampf ziehen. Manche wählten aber auch einen anderen Weg. Kann er sich vorstellen, dass irgendwann einmal Frieden herrscht? Abou Hassan überlegt. «Warum nicht?», sagt er dann.
Vom Garten der Familie aus kann man das Meer sehen. Wie ein blaues Tuch liegt es weit unten, am Fuss der Berge. Die Männer reden jetzt über Alltägliches. Zwischen ihnen sitzt Hussein, der 11-jährige Enkel von Abou Hassans Bruder. Der Bub spricht fliessend Englisch. Auf die Frage, was er später einmal werden wolle, antwortet er: «Märtyrer. Oder vielleicht auch Arzt.» Als Arzt könne er zwar Leben retten, sagt er. «Aber als Märtyrer komme ich ins Paradies.»