Sonntag, Oktober 6

Dominic Nahr / NZZ

Schon ein Jahrzehnt dauert der Bürgerkrieg in Jemen. Wie geht es der Bevölkerung ? Und wer ist diese islamistische Huthi-Miliz, die sich mit der Weltmacht USA anlegt? Wir haben versucht, zu den Kriegsherren ins abgeschottete Land zu gelangen. Eine Reise in fünf Kapiteln.

Wie ein üppiger grüner Gürtel zieht sich die Frontlinie durch Taiz. Zerschossene Gebäude ragen in den Himmel, eine Strasse verschwindet im Gebüsch. Bäume und Sträucher wachsen aus den Ruinen. Autowracks stehen herum, verrostet, ohne Reifen und von Buschwerk überwuchert. Als wäre die Natur der einzige Gewinner in diesem Krieg.

Ein paar Soldaten halten Wache. Sie sehen aus wie Männer auf dem Weg zu einem Jagdausflug: in Shorts, T-Shirts und mit locker umgehängten Gewehren. Wir sollten auf keinen Fall weitergehen, sagt Alaa, der Kommandant. «Auf der anderen Seite haben sie vorzügliche Scharfschützen.»

Wir machen ein paar Bilder von Alaa und den Männern. Ihre Gesichter wollen sie nicht zeigen. Aus einer Gasse dringt Lachen herüber. Es sind Kinder beim Fussballspielen.

Taiz, hoch oben in den Bergen Jemens gelegen, ist eine geteilte Stadt. Seit fast zehn Jahren herrscht hier Krieg. Auf unserer Seite im Süden stehen die Truppen der international anerkannten jemenitischen Regierung. Im Norden, jenseits der grünen Linie, herrschen die Huthi.

Die Huthi sind der Grund, warum wir hergekommen sind. Wir wollen ins Herrschaftsgebiet der islamistischen Miliz gelangen, die einst aus einer religiösen Erweckungsbewegung der schiitischen Minderheit der Zaiditen hervorgegangen ist und seit bald zehn Jahren die Hauptstadt Sanaa sowie grosse Gebiete im Norden Jemens beherrscht.

Wir wollen verstehen, wer diese Miliz ist, die seit Beginn des Gaza-Kriegs Schiffe im Roten Meer angreift, jene Miliz, die mit der Unterstützung Irans Drohnen und Raketen auf Israel abschiesst und sich von den Luftangriffen, welche die Amerikaner und ihre Verbündeten zur Vergeltung fliegen, kaum beeindrucken lässt.

Für Alaa und seine Männer sind die Huthi schlicht der Feind, der seit 2015 versucht, Taiz zu erobern. «Wir kämpfen gegen einen übermächtigen Gegner, der mit Drohnen und Raketen bewaffnet ist», sagt Alaa. «Wir hingegen haben nur unsere Gewehre.»

Für viele Araber hingegen sind sie Helden, die für die Sache der Palästinenser in den Kampf ziehen, während ihre eigenen Regierungen dem Krieg in Gaza untätig zuschauen.

Für uns sind die Huthi vor allem eines: schwer zu erreichen. In ihr Reich lassen sie kaum jemanden hinein, westliche Journalisten schon gar nicht. Trotzdem versuchen wir es. Monatelang bemühen wir uns um eine Genehmigung für die Huthi-Gebiete. Immer wieder lässt sie auf sich warten. Es gebe Verzögerungen, heisst es.

Dann kommt mit einem Mal Bewegung in die Sache. Wir erhalten ein rares Journalistenvisum der international anerkannten Regierung. Und nachdem wir immer wieder Briefe und Dokumente nach Sanaa geschickt haben, kommt auch von den Huthi zumindest eine Zusage.

Alles werde gut, schreibt unser Kontaktmann vor Ort. Wir sollten nach Taiz fahren – von dort sei es einfacher, in das von der Miliz beherrschte Sanaa zu gelangen. Knapp zwei Wochen später stehen wir an der Frontlinie im Schatten der Bäume und blicken hinüber ins Reich der Huthi. Werden wir es wirklich dorthin schaffen?

Nabil Jamel empfängt uns in seinem Büro mit einem festen Händedruck. Er ist ein freundlicher Mann. Trotz der Hitze trägt er einen akkurat sitzenden Anzug und verteilt leuchtend weisse Visitenkarten.

Jamel ist als Beamter der Stadtverwaltung zuständig für die Versorgung von Taiz. Die Huthi hätten mehrere Zufahrtsstrassen und die Wasserversorgung blockiert, sagt er. Wegen der andauernden Belagerung müssten Wasser und Lebensmittel in Lastwagen über abenteuerliche Bergstrassen in die Stadt gebracht werden.

Während er redet, fragen wir uns, wie viel Einfluss er hat. Im Nahen Osten begegnet man oft Leuten, die hohe Posten bekleiden, in Wahrheit aber nichts zu sagen haben. Umgekehrt entpuppt sich ein diskret auftretender Gesprächspartner manchmal als mächtiger Strippenzieher.

In Jemen ist dieses Geflecht aus sichtbarer und unsichtbarer Macht besonders verwirrend. Denn seit dem Zusammenbruch der zentralen Ordnung nach dem Sturz des Langzeitpräsidenten Ali Abdullah Saleh im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 gleicht das Land einer Ansammlung autonomer Fürstentümer.

Im Norden stehen die von Iran unterstützten Huthi, die im Chaos nach Salehs Sturz auch die Hauptstadt unter ihre Kontrolle gebracht haben. Im nahezu menschenleeren Osten herrschen Islamisten und Stammesführer. Der Süden schliesslich steht offiziell unter der Kontrolle der international anerkannten Regierung.

Die Regierung wurde 2015 von den Huthi aus Sanaa vertrieben. Nominell sitzt sie seither in der südjemenitischen Hafenstadt Aden – einer ehemaligen britischen Kronkolonie am Fusse eines erloschenen Vulkans, die aussieht, als hätte man den Stromboli ins Arabische Meer versetzt und mit Granaten beschossen.

Über Aden gelangen wir denn auch nach Jemen, über einen Flughafen, der aus einem «Tim und Struppi»-Heft stammen könnte – so alt und klein ist er. Offiziell ist Aden Jemens provisorische Hauptstadt. Doch als wir mit unserem Fahrer und unserer Übersetzerin in einem Geländewagen durch die von der Sonne verbrannten Strassen fahren, ist von den Symbolen der Regierung nichts zu sehen.

Tatsächlich hat die von Saudiarabien unterstützte Regierung in Aden wenig zu sagen. Die wahre Macht liegt bei den Separatisten. In deren Büro landen wir dann auch als Erstes. Sie wollen die kommunistische Volksrepublik Südjemen wieder zum Leben erwecken, die hier nach dem Abzug der Briten in den siebziger und achtziger Jahren bestand.

Die Separatisten, die von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt werden, haben genauso wie die Huthi im Norden das Chaos genutzt und in Aden einen De-facto-Staat errichtet: mit eigener Flagge, eigenem Militär und einem eigenen Aussenminister.

Die Mitglieder der neuen Eliten fahren seither in Jeeps mit getönten Scheiben durch die Stadt – wenn sie nicht gerade in ihren Villen am Persischen Golf oder in Jordanien sind. Sie sind stets umringt von Soldaten, die olivgrüne Uniformen tragen und blitzblanke Kampfstiefel, ganz im Gegensatz zu den üblichen Milizionären in ihren Gummisandalen.

Manchmal, so erzählen uns die Leute in Aden, komme es zu Schiessereien zwischen den Milizen der verschiedenen Parteiführer. Abends treffen sich die Mächtigen diskret in Strandhäusern, trinken den eigentlich verpönten Alkohol und kauen Kat-Blätter, ein überall in Jemen verbreitetes leichtes Rauschmittel.

Derweil verfällt die Stadt. 2015, nach ihrer Machtübernahme in Sanaa, hatten die Huthi versucht, auch Aden im Sturm zu nehmen – allerdings vergeblich. Neun Jahre später stehen immer noch überall zerschossene Häusergerippe herum. Die einst stolzen internationalen Hotels sind Ruinen. Die Infrastruktur ist desolat. Weil immer wieder der Strom ausfällt, funktionieren in der unerträglichen Sommerhitze regelmässig die Klimaanlagen nicht. Die Stadt wirkt stellenweise, als ob sie irgendwo auf einem fernen Wüstenplaneten vor sich hindämmern würde.

Längst macht sich in der Bevölkerung Enttäuschung breit. Alles werde unter den derzeitigen Machthabern bloss noch schlimmer, sagt Mazen Girgrah, ein Anwalt aus Aden. Der 49-Jährige hatte sich 2015 freiwillig gemeldet, um seine Heimatstadt gegen die Huthi zu verteidigen. «Von der Einigkeit damals ist nicht viel geblieben», sagt er. «Jeder scheint sich nur noch um seine eigenen Interessen zu kümmern.»

Nicht nur in Aden sind die Leute frustriert. Auch in anderen Landesteilen ist der Unmut über die Machthaber gross.

Taiz sei früher eine offene, liberale Handelsstadt gewesen, sagt Jamel, der Mann von der Stadtverwaltung, in seinem Büro. Jetzt hingegen sei vieles kaputt. «Die Huthi behaupten immer, sie würden gegen die Blockade von Gaza kämpfen. Dabei tun sie hier in Taiz genau dasselbe.»

Es ist Abend, wir sitzen mit unserem Fahrer, der Übersetzerin und einem lokalen Journalisten auf der Dachterrasse eines Restaurants in Taiz. Es gibt Bohnen mit frisch gebackenem Brot, die Männer kauen Kat. Von den Huthi haben wir immer noch nichts gehört. Von unten dringt der Lärm der Stadt zu uns empor.

Nach fast zehn Jahren Krieg herrscht in Taiz eine eigentümliche Normalität. Auf den Strassen drängt sich der Verkehr, so dass die Soldaten mit ihren Pick-ups im Stau stecken bleiben. Auf den Märkten werden Mangos und Bananen verkauft. In einem neueröffneten Café sitzen verschleierte Frauen und trinken eisgekühlten Latte.

Taiz ist eine hübsche Stadt, umgeben von mattgrünen Bergen, mit einer alten Festung, die über dem Häusermeer thront. Obwohl die Front mitten durch die Stadt führt, könnte man fast vergessen, dass hier Krieg herrscht.

Doch der Krieg hat sich längst tief in die Geografie Jemens gegraben. So passieren wir auf unserer stundenlangen Autofahrt von Aden nach Taiz unzählige Checkpoints. Nirgendwo im Nahen Osten wird man so oft angehalten wie in Jemen. Oft sind es kleine Unterstände aus Holz und Stoff, wo träge Männer mit altertümlichen Sturmgewehren im Schatten sitzen und Kat kauen.

Unser Fahrer reicht dann unsere Genehmigungen durchs Fenster. Dabei muss er genau darauf achten, die richtigen Dokumente bereitzuhaben. Denn während Aden von den Separatisten kontrolliert wird, steht Taiz unter Kontrolle der Regierungstruppen. «Früher konnte ich Touristen mit einer einzigen Erlaubnis durch das ganze Land fahren», sagt er. Heute werde jede Überlandfahrt zum Spiessrutenlauf.

Am schlimmsten trifft es jene Jemeniten, die aus den Huthi-Gebieten ins Ausland reisen wollen. Der Flughafen von Aden ist derzeit das einzige Tor zur Welt. An den Checkpoints sieht man deshalb Familien mit staubbedeckten Land-Cruisern aus Sanaa, die sich voll bepackt mit Koffern stundenlang über die Berge gequält haben, bloss um von grimmigen Milizionären gefilzt zu werden.

Längst leben viele Jemeniten in unterschiedlichen Welten. So haben die Huthi ihren eigenen Staat aufgebaut, mit einem eigenen Bildungssystem und einer islamistisch-schiitischen Ideologie. Sie würden sogar ihre Geldpolitik Gott und dem Wetter unterwerfen, erzählte uns einst ein Banker aus Sanaa im Exil.

In den übrigen Teilen des Landes sind die Huthi hingegen weithin verhasst. Er nehme ihnen nicht ab, dass sie mit ihren Angriffen auf die Schiffe im Roten Meer tatsächlich den Palästinensern zu Hilfe kommen wollten, sagt Hussein al-Sharafi, ein junger Influencer aus Aden, den wir in einem Restaurant am Fischerhafen treffen. «Sie wollen nur ihre eigene Position stärken und machen dafür das Land kaputt.»

Der 28-Jährige trägt das Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Er ist während der Kriegsjahre gross geworden und hat es mit unpolitischen Spassvideos zu Berühmtheit gebracht. Die junge Generation habe die Nase voll von all den Krisen und Kriegen, sagt er. «Wir wollen leben. Wir lieben unser Land. Aber es ist schwer, hier aufzuwachsen.»

Jemen leidet seit Jahren unter einer Wirtschaftskrise. Saudiarabien hat die Huthi-Gebiete über Jahre mit einer Blockade belegt. Die Amerikaner haben die Milizionäre jetzt ebenfalls mit Sanktionen belegt. Das Land ist von der Aussenwelt abgeschlossen. Wer etwas werden will, versucht, ins Ausland zu gehen. Hier gebe es nichts zu tun, keine Jobs, gar nichts, sagt ein junger Mann in Aden.

Zudem hat der Krieg die Gesellschaft konservativer werden lassen. Fast alle Frauen tragen schwarze Abayas, viele zudem auch einen Gesichtsschleier. Die Bierbrauerei, die es zu kommunistischen Zeiten gab, existiert schon lange nicht mehr. Die wenigen Bars im Land sind ebenfalls verschwunden, Alkohol wird nur noch hinter verschlossenen Türen getrunken.

Vor allem ältere Leute trauern den vergangenen Zeiten nach. «Früher war unser Land offener. Heute ist alles verschlossen», sagt Mazen Girgrah, der zum Kämpfer mutierte Anwalt. Im Verlauf des Krieges hätten sich vielerorts salafistische und islamistische Gruppen eingenistet und den Leuten ihre Moralvorstellungen aufgedrückt.

Doch es existieren kleine Fluchten. Versteckte Spirituosenläden etwa oder Shoppingmalls, in denen verschleierte Frauen mit Virtual-Reality-Brillen vor Game-Automaten sitzen. Am Strand von Aden entdecken wir zudem kleine Bungalows aus Beton, die nachts leuchten wie Raumkapseln. Drinnen liegen Gruppen junger Männer und kauen Kat.

Im Garten eines Restaurants in der Nähe sitzen Frauen mit Männern an Tischen und rauchen Wasserpfeifen. Sie haben ihre Gesichtsschleier abgelegt und zeigen sogar etwas Haar. Vorne auf der Bühne steht ein Sänger und singt: «Baby, don’t hurt me. Don’t hurt me. No more.»

Es ist früh am Morgen in Taiz, als mit einem Mal das Telefon surrt. Es ist eine Sprachnachricht von unserem Kontakt in Sanaa. Es gehe voran, sagt er. Heute werde endlich einer seiner Leute zum Aussenministerium gehen und die Genehmigung abholen. Morgen könnten wir kommen, bestimmt. «Gut», sage ich und denke: Wer weiss, ob das jemals klappen wird.

Wir bleiben vorerst in Taiz und beschliessen, erneut an die Front zu fahren. In den zerschossenen Häusern dort leben Flüchtlinge. Familien, die zu wenig Geld haben, um sich eine ordentliche Unterkunft leisten zu können. Sie leben ohne Strom und fliessend Wasser. In den Strassen sieht man deshalb überall Kinder, die Plastikbehälter voller Trinkwasser hinter sich herziehen.

Viele der Flüchtlinge kommen aus den Huthi-Gebieten auf der anderen Seite der Stadt. Wie Mustafa al-Daem, der als Fahrer gearbeitet hat und jetzt mit seiner Frau und seinen Kindern in einem dunklen Zimmer ausharrt. Auf der anderen Seite der Front sei das Leben noch schlimmer, sagt er. Es gebe keine Arbeit, das Geld sei nichts wert, es fehle an allem.

Der Krieg – an dem sich auch Saudiarabien und die Vereinigten Arabischen Emirate beteiligten – hat in Jemen eine Spur der Verwüstung hinterlassen, mit 400 000 Toten und über vier Millionen Vertriebenen. Viele der Flüchtlinge leben in Lagern wie jenem von Rabat in der Wüstenprovinz Lahj, das wir auf dem Weg von Aden nach Taiz besuchen.

Das Lager ist eine trostlose Ansammlung von Hütten aus Wellblech und Karton. In den winzigen Behausungen ist es brütend heiss, überall stinkt es nach Müll. Die Familien, die hier leben, haben alles verloren. Sie kommen aus Städten wie Hodeida an der Westküste, die seit Jahren unter Huthi-Kontrolle stehen.

Er gehe manchmal raus, um Flaschen zu sammeln, sagt Ahmad Abdallah, ein 35-jähriger Vater von drei Kindern, der ebenfalls aus Hodeida geflohen ist. Aber das reiche längst nicht aus. Meist könne sich seine Familie nur eine Mahlzeit pro Tag leisten.

Hilfe bekommen die Flüchtlinge kaum. Viele Hilfsorganisationen mussten ihre Programme kürzen oder einstampfen. Angesichts der Kriege in der Ukraine und in Gaza fehle es an Geld für Jemen, erklärt eine Vertreterin des Welternährungsprogramms. Deshalb sei man gezwungen, die Rationen für die Bedürftigen zu kürzen.

Wegen der Sanktionen kommen zudem manche Güter nur mit langer Verzögerung oder gar nicht mehr ins Land. Sogar in den wenigen gut ausgerüsteten Spitälern, wie dem von Saudiarabien finanzierten Herzspital in Aden, welches wir vor unserer Weiterreise nach Taiz besuchen, fehlt es an Ersatzteilen für medizinische Geräte.

Nebenan, im staatlichen Krankenhaus, sieht es noch viel schlimmer aus. In den heruntergekommenen Räumen liegen Säuglinge mit Armen so dünn wie Ästchen und Haut wie Pergament. Es sind Kinder, die unter Mangelernährung leiden. Immer wieder drohen in Jemen Hungersnöte.

Im Hof vor dem Spital hat der Rote Halbmond Zelte aufgebaut. Ein 70-jähriger Arzt namens Saleh al-Dobehi, der einst in Prag studiert hat, führt uns herum. Hier werden Cholera-Patienten behandelt. Als wäre die Lage nicht schon schlimm genug, droht dem Land zum wiederholten Mal der Ausbruch einer Cholera-Epidemie.

Viele Leute hätten keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, sagt Dobehi, während er von einem Zelt ins nächste geht, an hohläugigen Patienten vorbei. Im letzten Zelt bleibt er stehen. Dies sei die Triage-Station, wo die neuen Fälle ankämen, sagt er: «Hier entscheidet sich oft bereits, ob jemand zu den Lebenden gehören wird oder zu den Toten.»

Der Tod scheint in Jemen stets präsent zu sein. Egal, ob alt oder jung, fast jeder hat Leute sterben sehen. In der Frontstadt Taiz geraten Kinder und Jugendliche beim Spielen oder Wasserholen ständig ins Kreuzfeuer oder laufen auf Minen. Daem, der an der Frontlinie wohnt, verlor bei einem Granatangriff drei Kinder, ein viertes wurde schwer verletzt.

Die Lage ist so dramatisch, dass es in der Stadt eine eigene Prothesenfabrik gibt. Als wir sie besuchen, giessen Angestellte Formen aus Gips, um damit in Akkordarbeit Arme und Beine aus Kunststoff herzustellen. Im Nebenraum probiert eine junge Frau eine neue Beinprothese an. Sie war beim Hüten der Schafe in einem Bergdorf auf eine Mine getreten.

«Sie wird es schwer haben», sagt unsere Übersetzerin später. «Unsere Gesellschaft ist konservativ. Mit ihrer Verstümmelung wird sie kaum je einen guten Ehemann finden.»

Ola al-Aghbari empfängt uns in ihrem Büro auf einem kleinen Hügel inmitten von Taiz. Wir haben die 35-Jährige zuvor per Zufall in ihrer Strasse getroffen. Sie wohnt ganz in der Nähe der Front, da, wo Alaa und seine Soldaten Wache halten.

Aghbari betreibt eine lokale Frauenorganisation und versucht, die Lage in Taiz zu verbessern. In zähen Verhandlungen ist es ihr gelungen, die Huthi davon zu überzeugen, demnächst die Wasserversorgung wieder zuzulassen. Am Ende, so stellte sich heraus, wollten die bankrotten Islamisten vor allem eines: Geld, um die kaputten Zisternen auf ihrer Seite zu reparieren.

Die Gespräche mit den Huthi seien kompliziert gewesen, sagt Aghbari, deren Eltern in einem Dorf im Huthi-Gebiet leben. Sie seien zähe Verhandler, geschickt und entschlossen. «Am Anfang wollten sie nicht einmal mit mir reden, weil ich eine Frau bin. Inzwischen vertrauen sie mir.»

Uns hingegen vertrauen die Huthi offenbar nicht. Am selben Tag bekommen wir eine Nachricht von unserem Kontaktmann in Sanaa. Leider sei die Genehmigung nicht erteilt worden, sagt er. Weshalb, wisse er nicht. Vielleicht hat irgendein Minister unser Gesuch nicht abgezeichnet. Oder es fiel der Beschluss, grundsätzlich keine Journalisten hineinzulassen. Wir werden es nie erfahren.

Das ist nichts Aussergewöhnliches. Der Nahe Osten wird von paranoiden Milizen und autoritären Regimen beherrscht, deren Wege unergründlich sind. Wer lange hier lebt, läuft Gefahr, in Pessimismus zu verfallen. Zu viele Konflikte scheinen ausweglos, zu oft droht sich die Geschichte auf blutige Art zu wiederholen.

In Jemen ist das nicht anders. Zwar herrscht zurzeit ein brüchiger Waffenstillstand. Aber auch wenn die Huthi ihre Angriffe auf die Schiffe im Roten Meer einstellen, wird der Bürgerkrieg weitergehen.

Am nächsten Morgen machen wir uns auf den Rückweg nach Aden. Die Landschaft ist atemberaubend schön, sie wechselt zwischen fruchtbaren Hochebenen, über denen monsunartige Regenfälle niedergehen, schroffen Bergen und unendlichen Wüsten. Jemen wirkt wie eine faszinierende Mischung aus Afghanistan, Afrika und Arabien.

An den Berghängen kleben kleine Dörfer. Alte Männer in traditionellen Röcken stehen am Wegesrand und machen seltsame Handzeichen. Es scheint, als habe die Moderne hier nie Einzug gehalten – bis auf Schnellfeuerwaffen, Handys und chinesische Motorräder.

Irgendwann biegt unser Fahrer von der Hauptstrasse ab. Er wolle uns etwas zeigen, sagt er. Wir überqueren einen kleinen Pass und erreichen in einer Senke eine Art Oase mit Palmen, Obstbäumen, Feldern und grünen Wiesen, in deren Mitte ein Bach sprudelt. Der Fahrer parkiert den Wagen am Ende eines Feldweges.

Seine Frau komme aus dieser Gegend, sagt er, während er sich im Schatten eines Baumes ins Gras setzt. Er selber stamme aus dem Huthi-Gebiet und habe fliehen müssen.

Es ist still, am Ufer des Baches hütet ein alter Hirte ein paar Ziegen, Palmen nicken im Wind. «Ich komme oft hierher», sagt der Fahrer. «Das ist das Paradies.»

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